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UNIVERSITY OF TORONTO
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KATHLEEN MADILL BEQUEST
POLNISCHE BIBLIOTHEK
BEGRÜNDET UND HERAUSGEGEBEN VON
D R. A. V. GÜTTRY, W. V. K O S G I E L S K I
ZWEITE ABTEILUNG / ERSTER BAND
DIE MEMOIREN KÖNIG PONIATOWSIUS
ÜBERSETZT VON I. v. P O W A
EINGELEITET VON A. v.GUTT RY
MIT 32 BILDBEIGABEN
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in 2010 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/diememoirendesle01stan
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DIE MEMOIREN
DES
LETZTEN KÖNIGS VON POLEN
STANISLAW AUGUST
PONIATOWSKI
ERSTER BAND
3
GEORG MÜLLER VERLAG MÜNCHEN
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INHALTSVERZEICHNIS
ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL 3
Meine Kindheit. — Ursachen meiner Gefangennahme.
— Charakter meiner Mutter. — Meine Erziehung. —
Sliwicki. — Meine erste Reise. — Notwendigkeit eines
Feldzugs. — Mein Eid. — Kaunitz. — Löwendal — Mo-
ritz von Sachsen. — Berg-Op-Zoom. Seigneur de Court.
— Bouquet. — Breda. — Das holländische Lager. —
Begeisterung der Holländer für den Prinzen von Ora-
nien. — Aachen. — Meine Erkrankung. — Rückkehr
nach Warschau. — Reichstag unter dem Vorsitz von
Siemieriski vom Jahre 1748.
ZWEITES KAPITEL 19
Porträt des Fürst-Kanzlers Czartoryski. — Heirat mei-
ner jüngsten Schwester. — Porträt meines Schwagers
Branicki. — Porträt des Fürsten Sapieha. — Porträt
Sulkowskis und des Grafen Brühl. — Vervollkomm-
nung meiner Erziehung durch meinen Onkel, den
Kanzler. — Beschreibung, wie zu jener Zeit unsere
Tribunale zusammengesetzt wurden. Bericht, was im
Jahre 1749 dabei geschah. — Edle Handlung Mokro-
nowskis. — Porträt der Kastellanin von Kaminsk. —
Porträt Wielopolskis, des Kronfähnrichs. — Betrach-
tungen über seine Gleichgültigkeit gegenüber Neuig-
keiten. — Erste Erwähnung Kavserlings. Sein Ein-
fluss auf meine Bildung. — Sein Rat. — Ich werde
nach Berlin geschickt. — Lieberkühn. — Bülow. —
Die Frauen in Berlin. — Der König von Preussen. —
Sans-Souci. — Erste Erwähnung des Chevalier Wil-
liams. — Mniszech heiratet Brühls Tochter.
DRITTES KAPITEL 5i
Zum erstenmal Landbote. — Ursache der Auflösung
des ausserordentlichen Reichstags vom Jahre 1750. —
Meine Beziehungen zu Williams werden inniger. —
Meine Reise nach Sachsen. — Reschreibung des Auf-
enthalts in Hubertusburg. — Erste Erwähnung der Grä-
fin Brühl. — Meine erste Reisenach Wien. — Das Haus
Dietrichstein. Das Haus Harrach. — Von Zinzendorf. —
Graf Firmian. — Prinz Joseph Wenzel Lichtenstein. —
Luchesi. — Die Prinzessin von Savoyen. — Fräulein
Kotuliriska. — Rückkehr nach Polen. — Lubnice. —
Skizze eines Porträts des Fürsten Czartoryski. — Seine
ersten Gunstbezeugungen. — Sein Porträt nach den
Aussagen meiner Mutter und meinen eigenen Beobach-
tungen. — Bild meiner Familie bis zum Jahre i"]Si.
— Porträt meines Vaters. — Als Kommissar in Badom.
— Erste Beise nach Fraustadt. — Mein Landtag von
Lomza.
VIERTES KAPITEL 83
Durchreise des Königs in Bialystok im Jahre 1752. —
Jagd auf Auerochsen. — Das Abenteuer von Chorosz-
cza. — Reichstag von Grodno 1752. — Reschrei-
bung des Lebens in Grodno. — Beschreibung des Hau-
ses RadziwiH. — Heirat des Generalwachtmeisters Prin-
zen Lubomirski. — Umrisse des Porträts der Gross-
marschallin. — Meine Abreise im Jahre 1753. — Ich
nehme die Przemvsler Starostei an. — Durchreise durch
Ungarn. — Zweiter Aufenthalt in Wien. — Flemming,
Kayserling, Williams. — Krankheit des letzteren. —
VI
Ankunft und Porträt des Fürsten Kaunitz. — Porträt
Maria Theresias. — Meine Ankunft in Sachsen. Das
Lager von Ibickau. — Mein Streit mit Lichtenstein. —
Meine Reise mit Williams. Hannover. — Im Haag. —
Sir Yorke, Gesandter Englands. Graf Bentinck. Prinz
Ludwig von Braunschweig. Das Triumvirat. — Der
Gerichtsschreiber Fagel. Der Admiral Shryver. Diebei-
den Bürgermeister Hop und de Dieu. — Kauderbach.
Der Jude Svasso. — Cröning.
FÜNFTES KAPITEL 107
Ankunft in Paris. Madame de Bezenval. — Madame
de Broglie. Ibr Bruder, Baron de Bezenval. Graf
Friese. — Mylord Albemarle. — Herzogin de Brancas.
— Herzog von Richelieu. — Ludwig XV. Die Kö-
nigin. — Madame de Pompadour. Der Dauphin, Va-
ter Ludwigs XVI. Seine Frau. Seine Schwestern. —
Marschall de Noailles. Seine Fragen. Mein Abenteuer.
— Madame Geoffrins Rüge. — Reise nach Pontoise.
— Madame de la Ferte-Imbault. — Porträt von Ma-
dame Geoffrin. — Montesquieu. — Fontenelle. —
Der Herzog de Gevres. Französische und italienische
Musik. Exil des Parlaments. — Prinz Conti. — Sein
Sohn und seine Schwester, die Herzogin von Orleans.
— Der Herzog von Orleans. — Sein Hof. — Abbe Al-
laire. — Marschall de Belle-Isle. — Herzog de Niver-
nais und Graf de Gisors. — Mademoiselle de Charo-
lais. — Mahnung zur Bescheidenheit für jene, die
nach Paris gehen. — Fontainebleau. — La Chetardie
und Valory. — Jakubowski. — Vorstellung. — My-
lord North. Mylord Dartmouth. — Versailles. Der
Louvre. Die Künste. Madame de Pompadour. Mon-
sieur de Marigny. — Allgemeine Konversation in Pa-
ris. Nationalcharakter. — Sympathie der Polen für
die Franzosen. — La Tour. Abbe Bartheiemi. D'Alem-
bert. Präsident Henault. — Der Tanzmeister Marcel.
VII
— Herzog de Cboifeul. — Kapitän Stanhope. Meine
Abreise. — Cbantilly.
SECHSTES KAP1TFI i47
Überfahrt nath DoTfr. Canterhury. — Ankunft in
London. Chevalier Scbaub. — Das Oberhaus. _ Der
Kanzler Yorke. Lord Hardwick. — Seine Kinder und
sein Schwiegersohn Mylord Anson. — Tragisches
Ende von Charles Yoike. — Lord Slanley. — Seine
Koteiie. Dodingtcn. — Mylord Strange. ~ Hahnen-
kampf. — Ich werde Georg II. vorgestellt. Sein Por-
trät. — I'ope ist ihm iibel gesinnt. Die daraus fol-
gende politische Wii kurig. — Der Herzog von Cum-
berland. Der Herzog von Newcastle. — Sir Walpole.
— Wahl zu Weslminster. — Pitt. — Meine Tournee
nach Bath, Wilton, Oxford, Stone-Hinge. — Sir Al-
len, dessen Haus Pope bewohnt hatte. Mylord Little-
ton. %— Stow. Mylord Temple. Sir Grenville. —
Englische Erziehung. — Pitts Egoi.'mus. — Verände-
rung der englischen Sitten. — Erziehung der Matro-
sen. — Mylord Chestcifield. — Myloid Granville.
SIEBENTES KAP1TEI 1 8 1
Meine Abreise. Aiikunft in Hollard. Bangigkeit. —
Der Jude Tobias Boas kommt mir zu Hilfe. — Wohl-
wollender Empfang meiner Mutter. — Der Ostrog-
Eeichstag. — Frankreichs Absichten. — Die Woiwo-
din von Smolerisk. — Die Fürstin- Generalwachtmei-
sterin. — Moralischer und politischer Stand meiner
Familie. — Das Tribunal von Wilno unter Flemming.
— Wilno und eine Beassumption in Wilno. — Par-
teigeist in Litauen. — Flemmings und Sapiehas Eifer-
sucht. — Fraustadt. — Ich werde Truchsess. — Mein
Bruder hält mir eine Predigt. — Bendezvous. Aben-
teuer. — Abi eise nach Bussland.
VIII
ZWEITER TEIL
ERSTES KAPITEL . . 20.5
Politische Erziehung bei Williams. — Das Abenteuer
der Unterschrift. High Displeasure. — Douglas und
Messonier. — Disput über den freien Willen. Lehn-
dorff. — Lew Alexandrowitsch. — Erste Zusammen-
kunft. — Porträt der Kaiserin Katharina II. — Ver-
trauliche Mitteilung an Bestuschew. Sein Porträt. Por-
trät von Madame Bestuschew. — Porträt der Kaiserin
Elisabeth. — Abriss der russischen Geschichte seit dem
Tode Peters I. — Porträt von Katharina I. — Porträt
von Alexej Razumowski. — Porträt des Hetmans Cy-
rill Razumowski. — Erziehung und Porträt Peters III.
— Hörn. — Mein Porträt. — Besuch in Oranien-
baum. Katharinas Rivalität mit Ludwig XIV. — Lek-
türe der Pucelle. — Windpocken. — Kanzler. Ester-
hazy. Meine Abreise. Hörn. Riga. — Die Tabatiere.
ZWEITES KAPITEL 2 53
Livländischer Landtag. — Flemmings Marschallsamt.
— Struppen. — Der nicht zustandegekommene Reichs-
tag. — Meine Mission. — Meine Cousine. — Abreise.
Porträt von Ogrodzki. — Riga. Apraxin. Peter Panin.
— Meine Ansprache. — Rührende Worte Williams'.
— Apraxins Verhalten. — Unglück Augusts III., Sach-
sens und Polens. — Die Verschlechterung der Mün-
zen in Polen. — Eifer der Juden für den König von
Preussen.
DRITTES KAPITEL 277
Ursachen des Krieges von 1756. Härten der preus-
sischen und österreichischen Kriegführung. — Ent-
schädigungsansprüche Augusts III. — Antwort auf
seine Forderungen.
VIERTES KAPITEL 297
Porträt von Monsieur l'Hüpital. — Porträt des Grafen
IX
de Broglie. — Brief des Kanzlers Kaunilz an Esterhazy,
meine Person betreffend. — Traktat zwischen dem
Wiener Hof und dem Grossfürsten vom i 5. Juli 1757.
— Memorial Broglies gegen mich. — Meine Abberu-
fung. Das Schreiben des Königs. — Meine Antwort-.
— Brief meines Vaters. — Brief an meine Familie vom
2. Dezember. — Rossbach. — Letzte Zusammenkunft
mit "Williams. — Wiedereinsetzung in mein Amt. —
Apraxin in Ungnade. — Billetts der Grossfürstin un-
ter Apraxins Papieren. — Niederkunft der Grossfür-
stin. — Schlittenunfall.
FÜNFTES KAPITEL 317
Note ans Ministerium vom 1 3. Februar 1708 über die
Ausnützung der Eroberung Preussens zugunsten Sach-
sens. — Note vom 17. März über die Approvisionie-
rung des Heeres und über die Schonung der Bewohner
Polens. — Brief an den Grafen Brühl vom 7. März
über Elbing und Danzig. Bestuschew in Ungnade. —
Brief an Brühl vom 1^. März wegen einer Verzöge-
rung der Reise des Prinzen Karl. Die Okkupation von
Elbing. — Brief an Brühl vom 17. März. Die Reise des
Prinzen Karl soll verschoben werden. Iwan Tscherni-
schew wird zu seinem persönlichen Dienst bestimmt.
Meine Erkrankung. — Brief an Brühl vom 2 1 . März.
Besuch "Woronzows. Generalleutnant Tschernischew
an Stelle Saltykows Befehlshaber des neuen Korps.
Russland, Österreich und Frankreich sollen Polen die
Restitution Elbings und seiner Rechte garantieren. —
Rrief an Brühl vom if\. März. Schreiben des Kanzlers
Malachowski und des Bischofs von Kiew Soltyk. Jeden
Samstag Audienztag bei Woronzow. Die Regimenter
von Ingermanland und Astrachan marschbereit. Rück-
zug der Franzosen aus Hannover. Projekt einer Ver-
teidigung der Ostsee gemeinsam mit Schweden. Projekt
mit Dänemark bezüglich Holsteins. Brockdorf wird
begünstigt.
X
SECHSTES KAPITEL 335
Brief an den Grafen Brühl vom 28. März. Ankunft
seines Sohnes. Elbing, Danzig. Der König soll einen
Brief an Elisabeth schreiben. — Brief an Brühl vom
3i. März. Sequestration der Güter der abwesenden
preussischen Minister. Beitritt Schwedens zur grossen
Allianz. Elisabeth will keine neuen österreichischen
Subsidien und will die Eroberungen in Deutschland in
eigenem Namen und nicht im Namen Österreichs ma-
chen. Olsuwjef reist dem Prinzen Karl entgegen. Ester-
hazy und vor allem l'Höpital verlangen Gleichstellung
mit ihm. — Brief an Brühl vom 4- April. Sequestra-
tion der Güter der preussischen Minister. General
Yorke soll zum König von Preussen gesandt wer-
den. — Brief an Brühl vom 7. April. Erklärung
Frankreichs, der Bückzug aus Hannover bedeute kei-
nen Abfall. Belagerung von Schweidnitz. — Brief an
Brühl vom 1 4. April. Das Zeremoniell der Gesandten.
Schlimme ünpässlichkeit Elisabeths. Langsamkeit der
militärischen Hilfe Russlands. Die Affäre Bestuschew.
— Brief an Brühl vom 19. April. Der Prinz macht
Besuche. Buturlin und Iwan Tschernischew Begleiter
des Prinzen. Plätze in der Karosse. Streit zwischen
la Chinal, Lubomirski und Rzewuski. Auswechslung
der schwedischen Ratifikationen. Abreise des jungen
l'Höpital. Stambke ist am 18. abgereist. Westphal
kommt nicht. Brockdorf; quod tibi hodie, mihi cras.
Zwei Beisebetten für Bestuschew.
SIEBENTES KAPITEL 353
Brief an den Grafen Brühl vom 2 1 . April. Der Aus-
tausch von Ostfriesland unmöglich. Geheime Feldzugs-
pläne. — Brief an Brühl vom 22. April. Militärische
Massnahmen und Projekte. Ankunft des türkischen
Gesandten. _ Brief an Brühl vom 20. April. Erhö-
hung des Rubelkurses auf 19 Szostaks. Eine Kammer-
XI
frau der Grossfürstin wird arretiert. Eine Unterredung
mit der Kaiserin soll alles in Ordnung bringen. —
Brief an Brühl vom 28. April. Die Bussen brauchen
die sächsische Kavallerie. Danzig. Mir wird ein Urlaub
bewilligt. Ich erbitte das Amt eines Landboten von
Livland. Ich bedanke mich für einen Wechsel über
4ooo Bubel. — Brief an Brühl vom 2. Mai. Sächsische
Kavallerie soll zur russischen Armee stossen. Danzig
soll nicht mit Gewalt eingenommen werden. Der Kö-
nig soll selbst an Elisabeth schreiben. Die Danziger
sollen auf der Ablehnung einer Garnison bestehen.
Ankauf von Pferden in Preussen. Verzögerung der Be-
zahlung des in Polen angekauften Getreides. Lob des
Prinzen Karl. Elisabeth beschenkt ihn. — Brief an
Brühl vom 5. Mai. Danzig könnte eine polnische Gar-
nison erhalten, um keine andere aufnehmen zu müs-
sen. Versuch, Brockdorf das blaue Band des polnischen
Ordens zukommen zu lassen. — Brief an Brühl vom
9. Mai. Versöhnung der Generäle Fermor und Browne.
Küstrin soll nicht belagert werden. Statt des Ordens
soll Brockdorf eine Pension erhalten.
ACHTES KAPITEL 3;3
Brief an den Grafen Brühl vom 14. Mai. Differenz
mit dem türkischen Gesandten wegen der Etikette.
Iwan Schuwalow besucht Keith. Prinz Karl soll den
Austausch von Holstein nahelegen. — Brief an Brühl
vom 16. Mai. Die Vereinigung der schwedischen Es-
kader mit der russischen gesichert, ebenso ein neuer
Transport schwedischer Truppen nach Pommern.
L'Hopitals Kredit sinkt. — Brief an Brühl vom 19. Mai.
Danzig. Sächsische Kavallerie. Fürst Wolkoriski künf-
tiger Armeeintendant. Friedensaussichten. Wiederauf-
nahme des Verfahrens gegen Apraxin. Aufhebung des
Sequesters von den Besitzungen der vier preussischen
Minister. — Brief an Brühl vom 23. Mai. 16 000 Bus-
sen haben die Weichsel passiert. Elisabeths Gewissens-
XII
bisse wegen Bestuschew. Ich beglückwünsche Brühl
zur Kassation der Verwaltung von Ostrog. — Brief an
Brühl vom 3o. Mai. KorfF Gouverneur von Königsberg.
Wolkoiiski übernimmt ein Kommando bei Smolensk.
Der türkische Gesandte besteht auf seiner Weigerung.
Olsufjew im Aufsteigen, er arbeitet bereits gegen
Woronzow. — Brief an Brühl vom 4- Juni. Danzig.
Meine Bemühungen bei Woronzow, um die Bussen
zum Vorrücken zu veranlassen. Seine Versprechungen.
Zweite Unterredung Elisabeths mit der Grossfürstin.
NEUNTES KAPITEL 3 89
Brief an den Grafen Brühl vom 1 3. Juni. Das Unter-
nehmen gegen Danzig wird fallen gelassen. Der König
von Dänemark widersetzt sich der Aufstellung der ver-
einigten russischen und schwedischen Flotten auf der
Beede von Kopenhagen. Das Motiv des sonderbaren
Verhaltens des türkischen Gesandten. Abreise des jun-
gen Hofes nach Oranienbaum. — Brief an Brühl vom
16. Juni. Der Vorschlag des dänischen Königs, die
Flotten bei Falsterbo-BifF zu stationieren, wird ange-
nommen. Die Pforte erteilt ihrem Gesandten den Be-
fehl, sich in seinem Verhalten ganz nach seinem Vor-
gänger zu richten. — Brief an Brühl vom 20. Juni.
Beginn der Belagerung von Olmütz. Aufhebung der Se-
questration von den Besitzungen der vier preussischen
Minister. Alexej Bazumowski gibt einen Ball für den
Prinzen Karl. — Brief an Brühl vom 23. Juni. 24000
Dänen werden nach Holstein geschickt, um es vor einer
Invasion zu schützen. Peter SchuwaloW gibt einen
Ball zu Ehren des Prinzen Karl. Stapellauf eines Schif-
fes von 100 Kanonen. — Brief an Brühl vom 27. Juni.
Der türkische Gesandte wird von der Pforte zurecht-
gewiesen. Mein Streit mit l'Höpital wegen Danzig.
ZEHNTES KAPITEL 4o3
Brief an den Grafen Brühl vom 4- Juli. Ich verlange
XIII
einen Pass für mein Silber. Erster Zusammenstoss der
Preussen mit den Russen Fermors. Ratifikation der
Flottenkonvention von Elisabeth unterzeichnet. Prinz
Karl bei der russischen Flotte in Kronstadt. — Brief
an den Grafen Brühl vom 1 1 . Juli. Erneuerung des
Traktats mit Schweden. Weigerung, die rückständi-
gen Gelder zu zahlen. Bestuschew erhält i5oo Ru-
bel und 5 Rubel täglich. — Brief an Brühl vom
14. Juli. Aufhebung der Belagerung von Olmütz. Die
Schlacht bei Krefeld. Ausfahrt der russischen Flotte.
Audienz des türkischen Gesandten. Abreise des Prin-
zen Karl. — Brief an Brühl vom 1 8. Juli. Iwan Schu-
walow will nicht Vizekanzler werden. Rzewuski und
ich gehen noch einmal nach Peterhof. — Brief an
Brühl vom 2 5. Juli. Näheres über die Auf hebung der
Belagerung von Olmütz. Schwedische Rekruten wer-
den von den Preussen in einer Danziger Vorstadt auf-
gehoben. — Brief an Brühl vom 28. Juli. General Re- •
zanow ist an der Aufhebung dieser schwedischen Re-
kruten schuld. Fermors Langsamkeit. Brockdorfs und
Narischkins Kredit im Sinken. — Brief an Brühl vom
4. August. L'Hopital gibt Brockdorf den Bat, sich zu
entfernen.
ELFTES KAPITEL 4i5
Anekdoten über Bernardi und Bestuschew. — Hoch-
zeit eines Hoffräuleins. — Meine Krankheit. — Boer-
have. — Prinz Karl von Sachsen. — Der Chevalier
d'Eon. — Einsiedel. — Die Gerechtigkeit, die er mir
trotz Prasse widerfahren Hess. Das Abenteuer des
Vizespions. — Rzewuski. Zwischenfall beim Gesell-
schaftsspiel „Sekretär". Branicki. Mein Missgeschick
vom 6. Juli. — Meine Rückkehr nach Polen.
XIV
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
König Stanislaw August Poniatowski . .
Stanislaw Poniatowski, Vater des Königs
Konstanzia Poniatowska, Mutter des Kö-
nigs
Jan Klemens Branicki
Residenz der Branickis in Bialystok . . .
Andreas Poniatowski, Bruder des Königs
August II., König von Polen
Alexander Sulkowski
August Alexander Gzartoryski
Pulawy, Residenz der Czartoryskis . . .
August III., König von Polen
Choroszcza, Residenz der Branickis . . .
Stanislaw Lubomirski
Marie Leszczyriska, Königin von Frank-
reich . . .
Madame Geoffrin
Mademoiselle de Charolais
Josef Potocki
Franziskus Salesius Potocki
Karl Stanislaw Radziwill
Michael Anton Sapieha
Grossfürstin Katharina
König Friedrich II
Titelbild
nach Seite 8
16
24
32
40
48
56
64
72
80
88
96
1 12
120
i36
168
184
200
216
240
264
XV
Kaiserin Elisabeth . ...
Alexej Bestuschew Riuniin
Peter Iwanowitsch Panin
Graf Brühl
Grossfürst Peter ...
Prinz Karl von Sachsen
Michael Woronzow
Grossfürstin Katharina
Lew Alexandrowitsch Narischkin
Schloss Oranienbaum
nach Sei
te 288
3o4
3a8
336
35a
36o
376
392
408
424
XVI
0 R W O
R
Am Tage der heiligen Katharina, am 2 5. Novem-
ber 1764 wurde der litauische Truchsess Stanis-
law August Poniatowski als König von Polen ge-
krönt,— am 25. November 179a wurde ihm vom
Fürsten Repnin die Abdankungsurkunde vorgelegt.
Eine schmerzliche Ironie der Geschichte und eine
raffinierte Bosheit des Vertrauten Katharinas.
Ein schweres Erbe trat der einfache polnische
Edelmann an: die Erbschaft der Sachsen auf dem
polnischen Thron. Ein Land und ein Volk in seiner
tiefsten Erniedrigung. Die „sächsische Zeit" war die
traurigste Epoche der polnischen Geschichte, poli-
tisch und kulturell, im Inneren und nach aussen.
August II. der Starke (1697 — 1733) und sein Sohn
August III. (1734 — 1763) hatten das Reich an den
Rand des Verderbens gebracht. Politisch war das
Volk in einen sorgenlosen Schlaf verfallen, moralisch
in einen Rausch versunken, aus dem es kein Erwa-
chen mehr zu geben schien. Nach aussen hin war es
zu Ohnmacht und Passivität verdammt. Der Kultur
wurde jede Entwicklungsmöglichkeit genommen, die
Bildung vernachlässigt und ignoriert.
Reformen an Haupt und Gliedern waren nötig,
sollte das Land nicht einem sicheren Untergange zu-
XVIII
steuern und zur leichten Beute der lauernden Nach-
barn werden. Das begriffen weitblickende und von
wahren Vaterlandsgefühlen getragene Männer, raff-
ten sich auf und gingen unbekümmert um die An-
feindung anders gesinnter und in ihren zügellosen
Freiheiten sich sonnender mächtiger Magnaten mu-
tig ans Werk. Befruchtend wirkte aus der Ferne der
Einflussund die Schriften des „philosophe bienfaisant",
des zweimal zum polnischen König gewählten und
wieder abgesetzten Stanislaw Leszczynski, des Schwie-
gervaters Ludwigs XV. und späteren Herzogs von
Lothringen.
Die Morgenröte einer neuen Rulturepoche jedoch
ging mit Stanislaw Konarski auf, der impulsiv den
Ausgang jeglicher Reform in der Hebung der Bil-
dung erkannte und zu dessen Ehren später König
Stanislaw August eine Gedenkmedaille prägen Hess
mit der bezeichnenden Aufschrift: »sapere auso" .
Auf einer den Jesuitenprinzipien gerade entgegenge-
setzten Grundlage baute er sein grosses Reformwerk
des Schulwesens auf und fand auch den Mut, gegen
dievin Fleisch und Blut des polnischen Adelsvolkes
übergegangenen aber verderblichen Staatseinrichtun-
gen, vor allem gegen das unglückselige „liberum
veto" vorzugehen, an den Grundfesten der über alles
geschätzten und vom Ausland angestaunten „golde-
nen Freiheit" des polnischen Adels zu rütteln. Er
weckte das in der Sachsenzeit eingeschlafene natio-
nale Bewusstsein und lehrte das Volk wieder, die na-
tionale Ehre und Würde über alles hochzuhalten.
Nun erkannten auch die Magnaten den Marasmus
der Sachsenzeit, erkannten die Gefahren des Rück-
schritts und der Stagnation. Es fanden sich Männer,
XIX
die aus dieser markzerfressenden Zeit hervorgegan-
gen dennoch weit über ihre Epoche hinausragten.
Charaktere und Persönlichkeiten, die wohl dazu be-
rufen sein mochten und auch die Fähigkeiten dazu
besassen, um ein ganzes Volk aus den Tiefen zu he-
ben und es einer glücklicheren Zukunft entgegen zu
führen, Retter des Vaterlandes zu werden, die aber,
im Bewusstsein und in der Überzeugung ihrer geisti-
gen und auch materiellen Überlegenheit, zu ausge-
prägte und selbstbewusste Individualitäten waren, um
gemeinsame Wege einzuschlagen. Sie beschlossen,
eigene Wege zu gehen, auf eigene Faust Politik zu
machen, selbst wenn es darauf ankam, die Gegner
mit Gewalt niederzuzwingen, um nur auf dem von
ihnen als richtig erkannten Wege zum Ziele zu ge-
langen. Wäre der Erfolg nicht ausgeblieben, — die
Geschichte hätte ihnen Recht gegeben und ihre Mit-
tel gutgeheissen.
Zwei Geschlechter waren es vor allem, die im da-
maligen Polen auf den ersten Plan hervortraten und
die Rettung des Vaterlandes sich zur Aufgabe stell-
ten. Beide wollten das Reformwerk durchführen, aber
von ganz anderen politischen Gesichtspunkten aus-
gehend, auf anderen Grundlagen und zu stolz, um
sich irgendwo auf den Wegen, die sie beide zum sel-
ben Ziele führen sollten, zu treffen und der salus
publica wegen Kompromisse zu schliessen. Der Anta-
gonismus dieser beiden Geschlechter spitzte sich
immer mehr zu, persönliche Rachsucht, verbissener
Ehrgeiz und überschäumendes Temperament rissen
sie mit sich fort und verdunkelten das ersehnte Ziel.
Auf der einen Seite die Potockis und ihr Anhang,
die sogenannte nationale oder patriotische Partei, mit
XX
dem Primas Theodor und dem Grosskronhetman
Josef an der Spitze — später übernahm die Führung
dieser Partei der Hetman Jan Riemens Branicki — ,
auf der anderen Seite die Czartoryskis, die sogenannte
„Familie", deren Häupter der litauische Kanzler
Michael und der Woivvode von Ruthenien August
waren. Zu dieser Partei gehörte auch der Vater des
späteren Königs Stanislaw August, der begabte und
kluge Stanislaw Poniatowski, Woiwode von Maso-
wien und Kastellan von Krakau, der eine Fürstin
Czartorvska zur Frau hatte, also durch Verwandt-
schaftsbande der „Familie" angehörte.
Mit dem Einsatz grosser, weitgehender Einflüsse
und gestützt auf unermessliche materielle Mittel bra-
chen sich zwei Strömungen Bahn und steuerten auf
ein Ziel zu. Die Potockis glaubten, in der Erhaltung
des Status quo der republikanischen Einrichtungen
und lediglich durch Aufbesserung der zur Zeit der
Sachsenkönige entgleisten Formen, durch Wiederer-
weckung der nationalen Tugenden und des Staats-
bürgertums — selbstredend im magnatisch-republi-
kanischen Sinne — das Heil des Vaterlandes suchen
zu müssen, während die politisch und kulturell ihren
Gegnern weit überlegene „Familie", deren Häupter
gewiegte Staatsmänner und ungewöhnlich geschickte
Diplomaten waren, die Staatsform überhaupt und
gerade die von den Potockis so hoch gehaltenen Ein-
richtungen verwarfen und nur in einer völligen Umge-
staltung des gesamten Staatswesens die Rettung des
Vaterlandes erblickten. An allen Höfen Europas un-
terhielten sie ihre Emissäre, um jene für ihre Idee
zu gewinnen und sich gegebenen Falles, wenn nötig,
deren Unterstützung zu sichern. Im Lande selber pro-
XXI
tegierten sie die Sachsen auf dein polnischen Thron,
um so im Augenblick Einfluss zu gewinnen, eine mög-
lichst grosse Anhängerschaft um sich zu scharen und
gestützt auf die Gunst des Königs und seines Ministers
Brühl, den der König in Polen schalten und walten
liess, alle wichtigen Stellen und Ämter mit ihren Leu-
ten zu besetzen, also die Macht in die Hände zu be-
kommen und dann an das grosse Reformwerk zu
schreiten. Dann hätte sich der Augenblick ergeben
müssen, wo sie dem Lande ihre Ideen hätten einpflan-
zen und sie in Tat umsetzen können, das heisst ein
mächtiges, grosses, nach aussen starkes und im Inne-
ren fest gefügtes und gesundes Reich des Nordens er-
richten. Tatsächlich gelang es ihnen sehr bald, eine
äusserst starke Partei straff zu organisieren. Das ge-
nügte jedoch nicht, um das grosse Ziel zu erreichen,
und zwar angesichts der anarchischen Zustände und
der Gleichgültigkeit des Königs, der für Polen kein
Interesse hatte, ausser wenn es galt, eigensüchtige
Pläne zu verfolgen.
Beide Parteien erkannten, dass sie aus eigenen
Kräften das Vaterland aus dem Marasmus nicht wür-
den heben können. Nunmehr suchten die Potockis
Frankreich, Schweden und die Türkei für sich zu
gewinnen, während die Czartoryskis sich Russland
zuwandten, in der Hoffnung, vermöge ihrer geistigen
Überlegenheit, ihrer staatsmännischen und diploma-
tischen Künste, sich die russischen Politiker und Di-
plomaten gefügig zu machen. Russland sollte als Werk-
zeug zur Ausführung ihrer Pläne dienen. Alle Hoff-
nungen setzten sie auf den Thronfolger Peter und
dessen Gattin Katharina, mit der ihr Neffe Stanislaw
August Poniatowski, der damals als Gesandter am
XXII
russischen Hofe in Petersburg weilte, ein Liebesver-
hältnis angeknüpft hatte.
Die Weltgeschichte schien plötzlich allen Reform-
plänen gewogen zu sein. Es brach der Siebenjährige
Krieg aus. Für den neutralen Staat Polen wäre es
der gegebene Moment gewesen, die Zeit, während
der die Nachbarn in Kriegswirren verwickelt waren,
zur inneren Gesundung und Aufrichtung auszunützen.
Das tragische Geschick Polens fügte es anders. Obwohl
unbeteiligt, litt Polen furchtbar unter den Lasten des
Krieges. Russland und Preussen scheuten sich nicht,
es rücksichtslos auszusaugen und zu verwüsten. Die
Czartoryskis, die sich gerade damals mit dem Hofe
arg verfeindet hatten, waren zu schwach, um auf ei-
gene Faust ihre Pläne auszuführen, und August III.
sowie seiner Anhängerschaft war die in der polni-
schen Geschichte stets so hoch gehaltene salus pu-
blica, im Grunde genommen also auch jede Reform,
völlig gleichgültig.
Nach dem Tode der Kaiserin Elisabeth wähnte
sich die „Familie" endlich am Ziele ihrer Hoffnungen.
Als vollends Katharina sich zur Zarin gemacht hatte,
gewannen sie auch im Inneren die Oberhand und tri-
umphierten über ihre Gegner. Katharina gewährte
ihnen die verlangte Hilfe und Unterstützung, wenn
auch nur mit unangenehmen Restrikten. Nach dem
Tode Augusts III. empfahl sie — zum Reweise ihres
besonderen Wohlwollens — Stanislaw August Ponia-
towski als König von Polen. Das bedeutete eine
schmerzliche Enttäuschung für die „Familie", die
den Fürsten August Czartoryski oder dessen Sohn,
den Fürsten Adam, auf dem Throne sehen wollte.
Als aber Katharina nach dem kurz darauf erfolgten
XXIII
Abschluss eines Bündnisses mit Friedrich IL, das auf
ein gemeinsames Vorgehen in den polnischen Ange-
legenheiten und auf eine energische Verhinderung
der Reformen hinauslief, zusammen mit diesem auf
der Wahl Stanislaw August Poniatowskis bestand,
mussten die Czartoryskis sich fügen und sich wohl
oder übel mit der Erhebung ihres Neffen zum polni-
schen König abfinden. Im stillen hofften sie, wenn
auch nicht den grossen Reformator, den Erfüller ih-
rer Ideen, so doch ein Werkzeug zur Ausführung
ihrer Pläne in ihm zu finden. Die Gegenpartei konnte
im entscheidenden Moment keine Einigung im Schosse
ihrer Anhängerschaft erzielen, da sowohl das dama-
lige Haupt der Partei, Hetman Branicki, wie auch ein
Potocki und ein Lubomirski sich auf den Königsthron
schwingen wollten.
Die Motive, von denen Katharina sich leiten Hess,
waren schlau erdacht und weitsichtig. Es gab Leute,
die in ihrem Vorgehen die übertriebene Leidenschaft
einer Kaiserin erblickten, die politische Spielerei einer
Frau, die ihren Geliebten für die Stunden der Lust
und der Liebe kaiserlich belohnen wollte. Das war
eine absolute Verkennung ihrer Persönlichkeit. Sie
kannte Poniatowskis Charakter, sie wusste genau,
dass derjenige, der in Polen sich weder auf die Ver-
ehrung und Achtung des Volkes stützen, noch die
Gunst der stolzen- Magnaten erwerben konnte, dass
derjenige, den weder Ruhmestaten umstrahlten, noch
ein verdienstvoller, den polnischen Adel blendender
alter Name über die Masse emporhob, ein gefügiges
Werkzeug in den Händen seiner Begünstigerin wer-
den musste, — sich ihr in allem fügen würde, da sie
ihn mit Hilfe ihrer Bajonette auf den Thron erbo-
XXIV
ben hatte. Die Antwort, die Katharina Baron de Bre-
teuil gab, als dieser ihr vorschlug, mit Frankreich ein
Abkommen über die bevorstehende polnische Köuigs-
wahl zu treffen, enthüllte ihre herrschsüchtigen Pläne
zur Genüge: „Tavenir vous apprendra, sil appartient
ä quelque autre que moi, de donner un roi aux Po-
lonais."
Und so wurde am 7. September 1764 der Truch-
sess von Litauen Stanislaw August Poniatowski zum
König von Polen gewählt.
Nach den bösen Erfahrungen mit den beiden Sach-
senkönigen wünschte die öffentliche Meinung Po-
lens einen Piastensohn auf dem Thron zu sehen, einen
Polen. Das Volk verlangte nach einem einheimischen
Herrscher. Die einzelnen Parteien, ja selbst einzelne
Woiwodschaften schoben ihre Kandidaten vor, ein-
zelne Gruppen des Adelsvolkes ihre Brotherren, Ma-
gnaten, die durch Freigebigkeit und breite Geste eine
zahlreiche, ihnen auf Leben und Tod ergebene Kli-
entel um sich zu versammeln verstanden. Um nur
einen Karl Badziwill zu erwähnen, der im Besitze
eines unermesslichen Vermögens war, aber ein Drauf-
gänger von geringer Bildung und abgesehen von sei-
nem überschäumenden Temperament, seinen Magna-
tenallüren und wahnwitzigen Einfällen, die von sei-
ner Umgebung mit Begeisterung aufgenommen wur-
den, von zweifelhaften ethischen und geistigen Qua-
litäten, der sich wohl eignete, bei Gelagen inmit-
ten seiner Kumpane als deren König den Vorsitz zu
führen, in keiner Weise aber zu einem Herrscher
taugte.
XXV
Rief nun die Stimme des Volkes Poniatowski auf
den Thron? Wurde er doch auf dem Wahlfeld ein-
stimmig als König ausgerufen. Verdankte er also der
Volksmeinung die Krone?
Nein. Nur die Regie funktionierte beim Konvoka-
tionsreichstag glänzend, dank den russischen Bajo-
netten im Hintergrund. Die fürstlichen Regisseure
bewiesen auch hierbei ihre grossen Talente. Freilich
in der tiefsten Überzeugung, von zwei Übeln das
kleinere erwählt, und im festen Glauben, unter den
obwaltenden Umständen die einzig noch mögliche
Bahn eingeschlagen zu haben. Doch bald sollte die
Tragödie der „Familie" ihren Höhepunkt erreichen,
um mit furchtbarer Wucht die Katastrophe zu be-
schleunigen. Das Geschick, das die Czartoryskis mei-
stern zu können wähnten, verstrickte sie in unheil-
volle Fäden, aus denen es kein Entrinnen mehr gab.
Es sollte ihnen die bitterste Enttäuschung bringen
und war ihrem Unterfangen anscheinend schon von
vorneherein abhold. Das tragische Schicksal dieses
Geschlechts, das wie ein nicht abzuwendendes Fa-
tum über ihnen schwebte und es auf Abwege führte,
das die nüchternen, schlauen und hochbegabten Köpfe
im Ranne hielt, bestimmte sie beinahe zu Büssern
für die Sünden einer ganzen Nation und stürzte sie
ins Verderben. Die politisch falsch erwählte Grund-
lage, auf der sie ihr Werk aufbauen wollten, rächte
sich bitter.
Poniatowski gehörte durch seine Mutter dieser
„Familie" an. Seine Laufbahn war also sozusagen
vorgezeichnet. Ob er es fühlte? Ob er sich ohnmäch-
tig unter der Last des Geschickes beugen zu müssen
glaubte? Ob er tatsächlich zur endgültigen Expiation
XXVI
vorbestimmt war? Er, der letzte König auf dem pol-
nischen Thron! Oft pflegte er resigniert zu sagen: „es
ist meine Bestimmung, stets das Gute zu wollen und
stets nur Böses dem Lande zuzufügen." Zu schwach,
um mit dem Geschick zu ringen, zu ohnmächtig, um
es einmal herauszufordern und die Konsequenzen zu
ziehen, schwankte er nach allen Seiten, um wenig-
stens von seiner eigenen Person das Fatum abzuwen-
den, den sich immer enger schliessenden Maschen
entschlüpfen und sich auf einen Starken schutzfle-
hend stützen zu können. Ein schutzbedürftiger,
schwacher Fatalist auf einem von allen Seiten von
Mächtigen gerüttelten Throne. Die Schicksalsfäden
des Landes verwoben sich mit den Fatumsbanden,
die den Herrscher umstrickten.
Die Geschichte urteilt hart über König Stanislaw
August, vergisst den Menschen über dem König. Und
doch, wäre er als schlichter Truchsess von Litauen
aus der Welt geschieden, die Nachwelt hätte ihm das
beste Gedächtnis bewahrt, — da er aber als letzter
König die Geschichte seines Landes schmählich be-
schloss, ohne eine einzige grosse Heldentat auf das
letzte Blatt verzeichnet zu haben, wurde er verdammt.
Er hätte die Krone ausschlagen können, hätte we-
nigstens seine eigene Person aus dem festen Ring,
den damals Russland und Preussen um Polen ge-
schlossen hatten, retten und aus der vampyrhaften
Umklammerung, die ihn auf den Thron drängte,
entweichen können, um seinen Namen nicht auf die
Wagschale der drohenden Geschicke werfen zu müs-
sen. Vielleicht hätte sich in dieser durch ihn neu ge-
schaffenen Lage eine andere Lösung ergeben. War-
um tat er es nicht? Er, der geistig hoch über der
XXVII
Masse und seiner Zeit stand und die ganze Sachlage
überblicken inusste. War es ein Opfer, das er aus
seiner eigenen Person auf dem Altar des Vaterlandes
darbringen wollte, wenn es schon sein musste?
Glaubte er doch, sich zum Retter des bedrängten Va-
terlandes aufschwingen zu können. Schon von frühe-
ster Jugend an wurden ihm Horoskope auf das kö-
nigliche Szepter gestellt. Ein Astrolog hatte es ihm
prophezeit, und seine ganze Erziehung wurde auf die
glanzvolle Rolle eingestellt, die er einst spielen sollte.
Aus der Umgebung der Verschwendung und Genuss-
sucht des Magnatentums nach Frankreich verpflanzt,
entfaltete sich die schmiegsame, für Kunst und gei-
stige Kultur so überaus empfängliche Seele des jun-
gen Edelmannes zur vollen Blüte auf dem Boden des
verfeinerten Geschmacks, der galanten Erotik, der
geistreichen Philosophie und der leichten vornehmen
Formen, inmitten der heiteren Philosophen und der
grossen Lebenskünstler. Mit vollen Zügen atmete er
die Luft des 18. Jahrhunderts ein, verkehrte mit Ge-
lehrten und Künstlern, erfreute sich der Gunst der
Frauen und blendete sogar die verwöhnte franzö-
sische Gesellschaft durch die Schönheit seiner Ge-
stalt, durch Geist und Grazie. Der junge polnische
Edelmann wurde zur populären Persönlichkeit der
französischen Salons und war ein gern gesehener
Gast am französischen Hofe — von vielen umschmei-
chelt, von vielen geliebt.
Auch auf seinem weiteren Lebenswege war ihm
anfangs das Glück hold. Der Stern, von dem der
Astrolog sein Horoskop hergeleitet, schien ihm ge-
wogen zu sein. Glaubte er etwa damals an diesen
glücklichen Stern, der ihn im Leben begleitet und
XXVIII
ihm vorangeleuchtet, ihm die Liebe und Zuneigung
seiner Zeitgenossen verschafft und seinen Namen
schon in seiner Jugend mit der Aureole eines über-
ragenden Geistes umstrahlt hatte? Oder vermochte
er nicht mehr, sich aus den Schlingen des Geschicks
herauszureissen? Waren es vielleicht doch andere
Motive, die ihn geleitet — Motive, die menschlichen
Schwächen entsprangen?
Die Geschichte hat ein hartes Urteil über ihn ge-
fällt. Sicherlich war einer seiner ausgeprägtesten
Charakterzüge der Ehrgeiz. Und zwar nicht jenes
grosse Streben einer Herrschernatur nach Machtfülle
und Machtentfaltung und Volksbeglückung, sondern
jene Ambition, die sich mit Eigenliebe und Eitelkeit
paart und rein persönlicher Erhöhung und Überlegen-
heit zusteuert. Bei Stanislaw August waren es in erster
Linie geistige Ambitionen. Als König standen ihm
so viele Pforten offen, die dem Privatmann vielleicht
stets verschlossen geblieben wären. Eifrigst bemühte
er sich, den Namen eines Mäzens und Protektors der
Künste und Wissenschaften sich zu erwerben, einen
Titel, der im Zeitalter der Enzyklopädisten von bes-
serem Klang und ehrenvoller vielleicht als der eines
Herrschers war.
Der auf französischer Kultur aufgewachsene und
in ihrem Geiste erzogene Edelmann, der in seiner
Person einen Romanhelden seines Zeitalters mit einem
von Voltaireschen Ideen durchdrungenen Menschen
vereinen wollte, war ein vollkommener Typ dieses
Zeitalters. Tatsächlich eine glänzende Romanfigur,
aber kein Herrscher über ein Volk, dessen innerstes
Wesen ihm fremd und dessen Sitten und Gebräuche
ihm widerlich waren. Dabei darf nicht vergessen
XXIX
werden, dass dieses We?en so ursprünglich und bo-
denständig war, wie kaum bei einem anderen Volke,
und dass dieses trotzige und stolze Volk von jedem
und selbstverständlich in erster Linie von seinem
König unbedingte Achtung seiner Eigenart ver-
langte.
Mit reichen Gaben ausgestattet, von tiefer, um-
fassender Bildung, voller Verständnis für die Kunst,
über ein grosses Wissen auf allen Gebieten der
Wissenschaften verfügend, ein Kenner fremder Kul-
turen wie der des eigenen Volkes, hatte er wohl
einen klaren Blick für öffentliche Dinge, wusste ge-
nau, wo die Mängel und Fehler der polnischen Ge-
sellschaft und des polnischen Staatswesens lagen, er-
kannte auch die Notwendigkeit grundlegender Refor-
men und Hess sich von den besten Absichten der Ab-
hilfe und der Wiederaufrichtung des Zertrümmerten
und brach Darniederliegenden tragen, begeisterte sich
sogar für grosse, segensreiche Pläne, die er selbst
entwarf und die wirklich von staatsmännischer Klug-
heit zeugten und der Weltweisheit entsprungen zu
sein schienen, — doch es mangelte ihm die Kraft zur
Ausführung, es mangelte die ungebeugte Willens-
stärke, die männliche Charakterfestigkeit, die sich
durch Hindernisse nicht betören lässt, die vor keiner
Schwierigkeit zurückschreckt, darin gerade einen
Ansporn und Anreiz findet, die ungeachtet der An-
feindung seitens andersgesinnter Machthaber dem
vorleuchtenden Ziele zustrebt, die unerschrocken
den ganzen Menschen einsetzt, wenn es gilt, Rettung
aus der Not zu finden.
Es fehlte ihm Seelengrösse und jene schöpferische
Kraft, die nie erlahmt, wenn es darum geht, neue
XXX
Wege zu finden, neue Mittel zu ersinnen, um das
Erstrebenswerte zu erreichen.
Seine Begeisterung, die jedes Erfolg verheissende
Vorhaben stets begleitete, schwand, sobald sich der
Ausführung Hindernisse in den Weg legten, wenn
Opfer zu bringen waren. Der geistig so hoch stehende
und wirklich überlegene Mensch versagte immer,
wenn es galt einen Kampf zu wagen. Und doch, so
wie die Dinge damals innerpolitisch und erst recht
ausserpolitisch lagen, konnte ohne Kampf, ohne ge-
waltsames Zugreifen nichts erreicht werden. In jener
Epoche, in der mehr denn je Schwierigkeiten sich
auf Schwierigkeiten auftürmten. Das mag in man-
cher Beziehung zu seiner Entschuldigung gelten.
Russland und Preussen wachten an den Grenzen und
im Lande selbst darüber, dass der König nur ihren
Willen tat, und waren bereit, jederzeit ihren Wün-
schen und Forderungen mit Gewalt Geltung zu ver-
schaffen; der grössere Teil des polnischen Adels
kehrte sich von dem hin und her schwankenden
Schwächling ab, und ein grosser Teil der Magnaten
versagte dem, der, obwohl gekrönt und gesalbt, sei-
ner Abstammung nach doch nicht einmal ihresglei-
chen war, jede Unterstützung.
Ohne moralischen Halt und ohne Hemmungen,
die bei einer derart angelegten Natur auch kaum zu
erwarten waren, sank Stanislaw August zum Schat-
tenkönig herab, zum Spielball der an dem Zustand
der inneren Erkrankung Polens höchst interessier-
ten angrenzenden Mächte, deren Pläne die Gesun-
dung des polnischen Staatsorganismus zuschanden
gemacht hätte, zum Spielball der sich befehdenden
Parteien und immer mehr zum gefügigsten Werk-
XXXI
zeug der ihre Chancen kühl herechnenden Katha-
rina.
Allmählich verlor er auch alles Interesse für Land
und Volk, blieb stumm auf die dringendsten Vor-
schläge und politischen Pläne seiner Oheime, der
Fürsten Czartoryski, raffte sich vielmehr infolge der
Einflüsterungen Katharinas und ihrer Parteigänger
in Polen nur dazu auf, die Obhut und Bevormun-
dung seiner Oheime abzuschütteln, und geriet jetzt
nur noch tiefer in die Abhängigkeit seiner früheren
Geliebten und indirekt in die ihrer Ambassadeurs
und Vertrauten, eines Kayserling, Repnin, Stackel-
berg, Siewers und anderer. Diese russischen Vertre-
ter wurden auch zu den eigentlichen Machthabern
der polnischen Republik, regierten darin, als ob sie
Herrscher im Lande wären, verstanden es last stets,
den König sich gefügig zu machen und sich auch mit
Hilfe der in Russland erprobten Mittel ergebene und
einflussreiche Parteien zu schaffen.
Gramerfüllt und verzweifelt mussten sich die Czar-
toryskis zurückziehen. Ihrer von Vaterlandsliebe er-
füllten Politik wurde der letzte Schlag versetzt. Po-
litisch waren sie erledigt. Jäh war über sie die Kata-
strophe hereingebrochen. Katharina triumphierte.
War es doch ihr Werk. Der König in der Gewalt
seiner Oheime und^in der Politik von ihnen umgarnt,
von jenen schlauen und mächtigen polnischen Ma-
gnaten, die einsichtig und politisch genug geschult
waren, um, wenn sie auf der einmal eingeschlagenen
Bahn nicht zum Ziele gelangen konnten, kurzerhand
und unverfroren die entgegengesetzte Bahn zu be-
schreiten und die auf dieser Bahn vielleicht das ganze
Volk mit sich reissen und alle Parteien unter das
XXXII
nationale Banner scharen konnten, — dieser König
bedeutete eine nicht zu unterschätzende Gefahr für
die von Katharina von vornherein gefassten Pläne
und Entschlüsse. Das stolze Geschlecht hatte seine
Partie verspielt, zur Freude und zum Hohngelächter
der Gegner. Und während dieser auch für die Ge-
schicke der ganzen Nation so entscheidenden Augen-
blicke brachte der König seine Nächte damit zu, glü-
hende Liebesbriefe an Katharina zu schreiben . . .
Ein zarter, edelmütiger, aber vom Leben und den
ihn umgebenden Schmeichlern verdorbener Charak-
ter; eine grossmütige Natur, ein Mann, der sich nur
von Leidenschaften leiten liess, seine Gefühle nicht
zähmen konnte und, sich seiner Schwäche bewusst,
ohnmächtig zusah, wie sie Gewalt über ihn bekamen,
immer wieder in neue Liebesabenteuer und Intrigen
verstrickt, ohne die Kraft aufbringen zu können, mit
starker Hand das von Frauen und Höflingen eng ge-
zogene Netz zu zerreissen; ein Herrscher, der sich
vor Ohnmacht im Staube wälzte und verzweifelt die
Hände rang, — oft fanden ihn die Diener nach einem
frohen Feste oder nach einem Reichstag am anderen
Morgen zerknirscht, mit wilden Augen und wirrem
Haar vor seinem Bette liegen; ein „Präsident" dieser
polnischen Adelsrepublik, der sich nicht ein einzi-
ges Mal ermannen und aufraffen konnte, vor versam-
meltem Reichstag sein Elend und des Vaterlandes
Not offen zu bekennen, das Volk angesichts des klaf-
fenden Abgrunds aus dumpfer Erstarrung aufzurüt-
teln und machtvoll aufzurufen, kühn in die Geschicke
der Nation zu greifen, das innere Feuer und den so
leicht zu weckenden Enthusiasmus der Polen in
Flammen zu setzen und das ganze Volk mit sich
XXXIII
fortzureissen. Und doch hätte er die Nation, getra-
gen von dem Aufschwung und der Begeisterung des
im Herzensgrunde opferfreudigen, heldenmütigen,
nur unter der Last der Sachsenzeit gebeugten und
zersprengten polnischen Volkes, im Namen der glor-
reichen, grossen Vergangenheit um die nationale Idee
scharen, die ruhmbedeckten Banner der Vorfahren
aufrollen und sie einer dieser Vergangenheit würdi-
gen Zukunft entgegen führen können.
Es ist falsch, dass es zu spät gewesen wäre. Es ist
falsch, dass sich während seiner Regierungszeit keine
politisch günstige Gelegenheit hierzu geboten hätte.
Es fehlte nur der Mann, der, über allen stehend, mit
einem Machtwort und einer königlichen Geste das
zersprengte Gefüge zusammengeschweisst hätte. Dass
er nicht der Mann war, den die Gesamtseele des
Volkes herbeisehnte, dass er nicht der Mann war,
den Polen in diesem Augenblick brauchte, — das
trug ihm die Abwendung des Volkes zu und das
harte Geschichtsurteil.
Und als dann sich Einzelne zu übermenschlicher
Kraft emporschwangen, als dann in der fürchter-
lichsten Zeit der polnischen Geschichte Einzelne, von
höchsten Idealen beseelt und bereit, alles für das arg
bedrängte Vaterland hinzugeben und lieber umzu-
kommen, als dem allmählichen Verfall zuzusehen, die
Führung an sich rissen, — da zeigte es sich, dass
das Volk wirklich seiner Vorfahren und seiner Vergan-
genheit würdig war; stets bereit, Leben, Hab und
Gut freudigen Herzens auf dem Altar des Vaterlandes
darzubringen, stets bereit, um der Idee willen tau-
sendfacher Übermacht entgegenzutreten.
Diese Einzelnen standen aber nicht über allen. Ver-
XXXIV
schiedene Magnaten hielten sie nicht für die Auser-
wählten und sprachen ihnen das Recht der Führung
des Volkes ab, der König unterstützte sie nicht. Des-
halb misslangen ihre Versuche.
Diesmal schien sich das Geschick nicht mehr wen-
den zu wollen, die Weltgeschichte schien dem Volke
und seinen Helden ein furchtbares „zu spät" ent-
gegen zu rufen. Und nur die für alle Zeiten verewig-
ten Heldennamen der Kämpfer für Freiheit und
Selbständigkeit, für Vaterland und Volk zeugen, dass
es der Nation in entscheidender Stunde nie an Män-
nern gefehlt hat, die die nationale Idee hochzuhalten
verstanden haben. Sie haben denn auch den Namen
Polens der Nachwelt ruhmbedeckt hinterlassen, den
einzelnen Epochen aber den Stempel des Heroismus
als höchsten Ausdruck des Lebens aufgedrückt. Trotz
des Zusammensturzes des polnischen Reichs hat das
polnische Volk ein unbestrittenes Recht, vor der Welt
und vor der Geschichte auf seine Vergangenheit stolz
zu sein.
1772, 1793, 1795. Die Wellen brandeten unter
Stanislaw August Poniatowski. Die Pfeiler barsten
und das Reichsgebäude stürzte ein. Die Krone fiel
vom Haupte des letzten Königs.
Für die Kulturgeschichte Polens bedeutet die Re-
gierung Stanislaw Augusts eine Epoche. Der Kö-
nig leitete sie ein, baute die schon vorhandenen An-
sätze aus, stellte seinen Geist und reiche Mittel in
ihren Dienst, drückte ihr seinen Stempel auf und
lebt im Gedächtnis der Nachwelt als Träger derselben.
XXXV
Den politischen Tod des Reiches begleitete die
Wiedergeburt der Geister.
Die im Inneren so notwendigen Reformen wurden
endlich, nach langen Kämpfen, durchgesetzt. Die
Konstitution vom 3. Mai 1791 als Abschluss des vier-
jährigen Reichstags verlieh ihnen erhabensten Aus-
druck. Der „Regierung veraltete Fehler" wurden er-
kannt, das Volk schwang sich aus sich heraus zum
grossen Reformwerk auf. Auf modernsten Ideen und
Prinzipien wurde eine Verfassung aufgebaut, welche
die alten hochgehaltenen Institutionen mit den radi-
kalen Doktrinen und freiheitlichen Tendenzen der
französischen Revolution harmonisch verband. Wohl
war es zu spät. Doch bedeutet die Konstitution einen
machtvollen Aufschwung, eine Hebung aus den Nie-
derungen der Eigensucht, bedeutet den Sieg der
Staatsklugheit über Verblendung, liefert den Beweis,
dass in der Gesamtseele des Volkes die edlen Regun-
gen stets die Oberhand behalten hatten, dass die
Vaterlandsliebe nie erloschen war.
Die Ehre des Volkes war gerettet. Den Namen und
die heiligen Traditionen Polens verewigten die Hel-
den der letzten Epoche, allen voran Tadeusz Kos-
ciuszko. Die gewaltige geistige Wiedergeburt errettete
die ganze Nation, schuf in wenigen Jahren Werte und
trug Früchte, wie sie andere Völker nur in Jahr-
hunderten hervorzubringen vermögen.
Die Keime zu neuem Gedeihen und neuem Auf-
blühen hatte der Piarist Konarski gelegt. Die Wir-
kung seiner Tätigkeit und seiner Reformen hielt die
nächsten Jahrzehnte an und äusserte sich in Anre-
gungen aller Art. In seinen Bahnen fortfahrend,
gründete König Stanislaw August unter anderem die
XXXVI
erste polnische Staatsschule, eine Ritterschule, in der
nicht nur der Geist und der Körper, sondern auch
die Seele ausgebildet wurde; Wissenschaft und Va-
terlandsliebe wurden der Jugend eingeimpft. Diese
sogenannte Kadettenschule, die der König selbst oft
besuchte und in der er mit den Schülern in persön-
licher Fühlung stand, hat Männer hervorgebracht,
deren Namen der Geschichte angehören. Kosciuszko,
Niemcewicz und viele andere.
Als erstes Land in Europa schuf Polen ein beson-
deres, dem gesamten Unterricht dienendes Unter-
richtsministerium, daneben wurde aus den reichen
Jesuiten fonds die sogenannte Edukationskammer be-
gründet, die, in modernstem Geiste geleitet, zur Re-
formierung des Unterrichts vvesens und zur Organisa-
tion der Mittel- und Volksschulen, sowie zur Umge-
staltung und Hebung der Universitäten diente. „Sie
war der Anker, der das Schiff des Vaterlandes über
den Abgründen hielt."
Die Bildung und Aufklärung der grossen Masse
war eine Grundlage, auf der gedeihlich weiter gear-
beitet werden konnte. Bald erblühten Literatur und
Kunst, Handel und Gewerbe, die Sitten verfeinerten
sich sichtlich. Überall tritt der König als feinsinniger
Mäzen auf, überall regt er an und spart nicht mit
Geldmitteln. Die französische Zivilisation, die sich
bereits im 17. Jahrhundert in Polen einzubürgern
begann, wird von Stanislaw August in jeder Weise
gefördert; er schickt die polnische Jugend nach Frank-
reich, lässt französische Lehrer und Künstler nach
Polen kommen. Der Zivilisation folgt die französische
Kultur, die zunächst als rein äusserliche Nachahmung
erscheint, bald aber von der polnischen Kultur auf-
XXXVII
genommen und innerlich verarbeitet sich organisch
mit der heimischen Kultur verbindet, um nunmehr
selbständig eigene schöpferische Werte hervorzu-
bringen.
Das ganze geistige Schaffen in Kunst und Wissen-
schaft findet in dem König den empfänglichen und
befruchtenden Mittelpunkt. Er fördert jedes Talent,
weist Zweifelnde und Ungereifte in die richtigen
Bahnen, versammelt die führenden Geister des ganzen
Landes um sich. Der Hof wurde zur blühendsten
Stätte des Geistes.
Ebenso umgab sich der König in seiner Sommer-
residenz, dem anmutig reizenden und mit Kunstschät-
zen aller Art reich ausgeschmückten Schlosse Lazienki
mit Vertretern der Kunst und der Wissenschaft.
Jeder, den der Funken der Begabung zum Schaf-
fen drängte, fand beim König Zutritt und konnte,
wenn das verständnisvolle und abgeklärte Urteil zu
seinen Gunsten ausfiel, freundlichster und gastlich-
ster Aufnahme gewiss sein. Zu den berühmten Don-
nerstagsdiners des Königs fanden sich an der könig-
lichen Tafel Künstler, Dichter und Gelehrte ein, so-
wohl Vertreter der alten Richtung, wie die Jungen
aus seiner Schule. Literarische, künstlerische, wissen-
schaftliche, soziale und politische Probleme wurden
hier diskutiert, auf jedem Gebiet war der König be-
wandert, jedem brachte er wahres und grosses Inter-
esse entgegen ; er regte die Gespräche durch geistreiche
Bemerkungen an, und oft löste er ganz verstrickte,
fachmännische Kenntnisse erheischende Fragen mit
der ihm angeborenen Leichtigkeit seines Geistes. Er
war es, der die Initiative zu einem der berühmtesten
polnischen Werke des 18. Jahrhunderts gab, zu der
XXXVIII
„Geschichte des polnischen Volkes", die einer seiner
Freunde und Genossen, Naruszewicz, verfasste. Auch
auf so manches Werk des Fürstbischofs von Erme-
land Krasicki, des glänzendsten polnischen Fabeldich-
ters und witzigen Satirikers, dessen geistreicher, geis-
selnder Spott keine Hemmungen kannte und der
durch seine graziösen Fabeln und Episteln auch den
nüchternen und in dieser Hinsicht recht verwöhnten
Friedrich II. ergötzte, — mochte wohl der König un-
bewusst anregend gewirkt haben.
Der Einfluss seiner Persönlichkeit war so tiefgehend,
dass sie nirgends zu verkennen war. Dabei muss her-
vorgehoben werden, dass er selbst bei denjenigen,
die er sich zu Hofpoeten erwählte und zu Kammer-
herren machte, die Entwicklung des Talents nie nach
irgend einer ihm sympathischeren Richtung umzubeu-
gen versuchte, sondern es stets nach seiner Art sich
ausleben Hess, voller Ehrfurcht vor dem Genie. Zu
seinen Hofpoeten gehörten Trembecki, ein glänzender
Meister der Form, der an Reichtum der Sprache,
Reinheit des Reimes, Fülle der Einfälle in seinem
Zeitalter keinesgleichen hatte, der Satiriker We,-
gierski, der hervorragende Komödiendichter Zabloc-
ki, der Lyriker Karpinski und so viele andere. Zur
Poniatowski-Epoche gehörte auch Niemcewicz, der
Dichter der von Vaterlandsliebe durchdrungenen
Lieder und Gesänge. Die wissenschaftliche Prosa ver-
traten hochbegabte Schriftsteller und Politiker vom
Range eines KoII^taj, eines Staszic. Das vom König
1765 in Warschau gegründete erste nationale Thea-
ter leitete der berühmte Boguslawski.
Die polnische Literatur dieser Epoche gewinnt all-
mählich ein bestimmtes Gesicht von charakteristi-
XXXIX
schein Gepräge und bietet treu den Ausdruck eines
geschlossenen Zeitalters, das wohl von Rousseau und
Voltaire beeinflusst, aber doch bodenständig und
durchaus völkisch war. Auch für die Malerei, die
Bildhauerkunst und die Architektur bedeutet die Ära
Stanislaw Augusts einen Höhepunkt. Auch hier war
der Einfluss des kunstfreudigen Ästheten und des
Epikuräers vom feinsten Geschmack richtungge-
bend.
Die unvergänglichen Werte der polnischen natio-
nalen Kunst haben zum grossen Teil ihren Ursprung
im Schaffen jener Künstler, die den Hof Stanislaw
Augusts zierten, sich seiner Freundschaft rühmten
und die Entwicklung ihres Talents seiner Person mit-
verdankten. Die Werke Bacciarellis, Canalettos, Al-
bertrandis, Lessueurs, Czechowicz1, Smuglewicz', Fon-
tanas, Orlowskis, Norblins, Grassis, Marteaus, Cho-
dowieckis, Vogels, Lampis, Aigners, Merlinis u. a.
legen Zeugnis ab vom künstlerischen Erlebnis der
Epoche und bedeuten einen Wendepunkt in der Kul-
tur der heimischen Kunst. Die Gründung von Aka-
demien, Schulen und Ateliers, die Anlegung von Bi-
bliotheken und Sammlungen, die Förderung der Stu-
dien der polnischen Jugend im Ausland und die fi-
nanziellen Unterstützungen für Reisen nach Griechen-
land, Rom und Paris, wo Kenntnisse erworben, Ein-
drücke und Anregungen gesucht und gesammelt,
wo die grossen Werke antiker und zeitgenössi-
scher Kultur geoffenbart werden sollten, sind Ver-
dienste, die dem König nicht abgesprochen werden
können. In allen Hauptstädten Europas standen ne-
ben den diplomatischen Vertretern spezielle Agenten
im Dienste des Königs, die den Auftrag hatten, Kunst-
XL
werke jeder Art für die königlichen Sammlungen zu
erwerben.
Und so wurde das von Stanislaw August umge-
baute und mit wahren Schätzen ausgeschmückte kö-
nigliche Schloss in Warschau zu einem Kulturzen-
trum, das seine Strahlen über das ganze Land aus-
sandte und wie die Morgenröte geistiger Kultur über
den polnischen Landen leuchtete. So wurde der kö-
nigliche Hof im vollsten Sinne des Wortes zu einem
polnischen Versailles.
Der historische Glanz erblasste am politischen Ho-
rizont immer mehr, — die Sonne der Kunst und des
Wissens erstrahlte in um so üppigerem Licht. Der
junge Tag der neu erweckten Kultur brach an, der
Geist feierte seine höchsten Triumphe. „Ge ne sont
pas les lois, c'est lesprit qui gouverne ce pays," sagt
Ruiniere.
Auch die polnischen Magnaten schufen, dem Bei-
spiel des Königs und dem Zeitgeist folgend, aus ihren
Schlössern richtige Kulturstätten, zogen begabte
Künstler an ihre Höfe, führten Prachtbauten auf,
legten riesige Sammlungen an, unterhielten ständige
Hoftheater, warfen jährlich unermessliche Summen
aus, um sie in kulturelle Werte umzusetzen. Jeder
bemühte sich, in seiner Gegend im Umkreis seiner
Besitzungen, die an Umfang manches heutige Her-
zogtum übertrafen, und weit und breit über diese
hinaus die Blüte der Kultur zu erhalten und der
Nachwelt neben diesen aufgestapelten kostbaren
Schätzen auch den Namen eines hochherzigen För-
derers der Kunst und der Wissenschaft zu hinterlassen.
Es ist nicht zu leugnen, dass die führenden polni-
schen Geschlechter, um nur die Czartoryskis und ihre
XLI
königliche Residenz Pulawy zu erwähnen, sich um die
polnische Kultur unschätzbare Verdienste erworben
haben, dass ihr Wirken weit über ihr Zeitalter hin-
aus bis in die heutige Zeit hineinragt und Früchte
trägt. Die reichen polnischen Museen und Samm-
lungen legen Zeugnis davon ab — leider auch zahl-
reiche Museen und Sammlungen Petersburgs. So
wurde unter anderem auch die 3ooooo Bände um-
fassende Bibliothek Zaluskis, die dazumal grösste
Privatbibliothek Europas, auf Geheiss Katharinas von
Warschau nach Petersburg geschafft.
In dem mit echtem Prunk und künstlerischem Ver-
ständnis üppig ausgeschmückten Königshof in War-
schau, inmitten der endlosen Galerien, Bibliotheken,
Marmorsäulen, Gobelins, Arazzis, inmitten der sel-
tensten Kunstwerke der Welt, in den prachtvollen
Warschauer Palästen der Grossen des Landes und
auf den Magnatenschlössern spielte sich das bunt be-
wegte, der Zeit entsprechend von feinen Intrigen-
fäden umsponnene, geistig verfeinerte Leben des 18.
Jahrhunderts ab.
Der König und die Elite der Nation gaben den
Ton an. Ein Leben in Schönheit und breiter, slawi-
scher Pracht. Literarische Diners, Diskussionen über
Kunst, Wissenschaft und Politik, heiteres Philoso-
phieren wechselten ab mit Festen und Gelagen —
bei denen man es an Temperament, Geist, Wein und
Geld nicht fehlen liess — , mit Duellen und galanten
Stelldicheins.
Doch das Bild wäre nicht vollkommen, würde man
die soziale Wiedergeburt ausser acht lassen. Das, was
im Westen in Strömen von Blut und Hekatomben
von Menschenopfern erreicht wurde, vollzog sich in
XLII
Polen ohne Opfer an Menschenleben, ohne gewalt-
same Umwälzungen, durch das schöpferische und
von einem erstaunlich freiheitlichen Geist getrage-
ne Werk der Konstitution vom 3. Mai. Das festge-
fügte, auf Jahrhunderte sich stützende Gebäude der
Vorurteile und der althergebrachten morschen Ein-
richtungen stürzte in Trümmer, die klaffenden Ab-
gründe der Standesunterschiede wurden überbrückt.
Ein enges Band verknüpfte die französische Revolu-
tion mit dem Geist der Hauptstadt Polens.
Und nun setzte der letzte Akt der Tragödie ein.
Seelenstarke Patrioten, tatkräftige Männer, schöpfe-
rische und überragende Geister hatte die Epoche
hervorgebracht, den Atem der Zukunft in der heili-
gen polnischen Sehnsucht erhalten, so viel Energie
und erneuernde Kraft geweckt und gezeugt, den
Willen der Selbstbehauptung geläutert und gestärkt
und das Bewusstsein sittlicher Pflichten gehoben, die
geistige und soziale Wiedergeburt des ganzen Volkes
in sich geschlossen, den Höhepunkt der Kultur er-
klommen und in den fruchtbaren Heimatsboden
Keime für Jahrhunderte gelegt, das Reichsgebäude
im Inneren festgefügt und ausgebaut, — da barsten
die Fundamente und jäh folgte der Einsturz.
Doch selbst aus den Trümmern sprossen Blumen
und bezeugten vor Welt und Menschheit die Unver-
sehrtheit des polnischen Elements, die Lebensfähig-
keit und die Lebensberechtigung des untergegange-
nen Reiches. Und wahrlich, „fallen kann auch ein
grosses Volk, elend untergehn nur ein gemeines".
Stolz und unverwüstlich erhob sich auf den zer-
fallenen Mauern die polnische Idee, machtvoll stieg
der nationale Gedanke auf und wuchs zur Ideologie
XLIII
des Patriotismus empor, um Jahrhunderte zu über-
dauem, um auf das nationale Banner in glühender
Schrift das »contra spem spero" zu setzen und der
Nation in den bittersten Tagen, die sie erwarteten,
voranzuleuchten, alle Säfte und Kräfte in sich aufzu-
nehmen und das Volk einer besseren Zukunft, einer
neuen Wiedergeburt, sicher entgegenzuführen, —
der Auferstehung, wenn diese auch in noch so weiter
Ferne liegen sollte.
Unter der Last der Pflichten und den von allen Sei-
ten auf ihn einstürmenden Anforderungen fühlte
sich König Stanislaw August Poniatowski bewogen,
im Jahre 1 767 vor versammeltem Reichstag die Ideen
und die Absichten, von denen er sich bei Übernahme
der Krone leiten liess, kund zu tun. Sollten die Zeit-
genossen ihn verkannt haben, so könnte er mit ruhi-
gem Gewissen das gerechte Urteil der Nachwelt ab-
warten und über sich ergehen lassen. Nur das Wohl
des Vaterlandes sei stets und überall die Triebfeder
seines Handelns gewesen und werde es auch in Zu-
kunft sein. Davon würden einst, wenn sich das Grab
über ihm schliessen und sein Mund verstummen
werde, die authentischen Dokumente und Schriften
vor Polen und aller Welt Zeugnis ablegen.
Damit kündigte der König seine Aufzeichnungen
an, die eine Analvse seiner Seele und seines Fiihlens
im Rahmen der Zeitgeschichte offenbaren sollten.
Am 12. Februar 1798 verschied Stanislaw August
Poniatowski im Marmorpalais zu Petersburg, — nach
seiner Abdankung hatte er sich nach Grodno zurück-
gezogen, das letzte Jahr seines Lebens brachte er in
XLIV
dem ihm von Paul I. zur Verfügung gestellten Mar-
morpalais in Petersburg zu.
Sofort wurden alle Wohnräume, Schränke und
Schatullen von dem früheren Kronmarschall und
Verwandten des Königs Michael Mniszech und dem
russischen Kanzler Bezborodko sorgfältigst versiegelt.
Welchen Wert der russische Hof dem geistigen Nach-
lass des verstorbenen Königs beimass, erhellt aus dem
Befehl des Zaren, der Feldmarschall Fürst Repnin,
der Kanzler Bezborodko, die Geheimräte Bezborodko
und Rumianzow sollten sofort die angelegten Siegel
nachprüfen, sie dann entfernen, die hinterlassenen
Papiere durchsehen und was ihnen als besonders
wertvoll oder besonders — verdächtig vorkommen
würde herausnehmen, um es der genauesten Prü-
fung zu unterziehen.
Fürst Repnin entnahm der geschichtlichen Erb-
schaft zwei ungebundene Bände, welche die Auf-
schrift „Memoires du roi Stanislas Auguste" trugen.
Einer der ehemaligen Sekretäre des Königs, dem die-
ser seine Memoiren teilweise diktiert hatte, Christian
Wilhelm Friese, überreichte dem Fürsten acht in
Maroquin gebundene Bände der Aufzeichnungen.
Auf ausdrücklichen Wunsch des Zaren wurden diese
acht Bände im kaiserlichen Kabinett verwahrt, wäh-
rend die beiden anderen von Rumianzow im Archiv
des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten hin-
terlegt wurden. (Zwei Bände befinden sich in dem
Museum der Fürsten Czartoryski in Krakau, die
einst in den Besitz des Fürsten Adam Czartoryski
gelangt waren und deren Text mit den vorliegenden
ersten zwei Bänden des handschriftlichen französi-
schen Originals bis auf unwesentliche Änderungen
XLV
und neu eingefügte Notizen des Königs überein-
stimmt.)
Tm Jahre i832 befahl Zar Nikolaus I., die versie-
gelten Bücher im Staatsarchiv unterzubringen. Nach
neun Jahren Hess sie sich der Zar nochmals vorlegen.
Es ist anzunehmen, dass er in den Papieren geblät-
tert, vielleicht nach Aufschlüssen und Enthüllungen
gesucht und vielleicht auch welche gefunden hat. Als
er sie nämlich dem Reichskanzler zur Verwahrung
wieder zurückgab, bestanden sie nur aus einem Pa-
ket, während derselbe Kanzler i832 noch zwei Pa-
kete in Empfang genommen hatte. Das Paket war
sorgfältigst versiegelt, darauf ein vom Zaren eigen-
händiger Vermerk, die Memoiren sollten gut ver-
wahrt und die Siegel dürften keinesfalls ohne seinen
Befehl entfernt werden.
Nun schien es, als sollte den vergilbten Bänden der
ewige Schlaf vergönnt sein, als scheuten sich die rus-
sischen Herrscher, in den Bekenntnissen des Königs
zu wühlen und vergessene Erinnerungen wachzu-
rufen. Denn ein halbes Jahrhundert rührte keines
Menschen Hand an dem Vermächtnis. Erst 1891 ver-
langte Zar Alexander III. wieder nach ihnen. Und
wieder wanderten sie, neu versiegelt und mit dem
neuen Vermerk, sie ohne ausdrückliches Geheiss
nicht anzurühren, zurück zu ihrer Ruhestätte.
Bis endlich 1907 der Direktor des Petersburger
Staatsarchivs Sergius Goriainow mit Genehmigung
des Zaren Nikolaus II. die Siegel erbrechen durfte.
Er übergab die Memoiren der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften zur Veröffentlichung, um jetzt
erst die von russischen Herrschern so streng bewach-
ten Geheimnisse vor der Nachwelt zu enthüllen und
XL VI
die Weltgeschichte um ein Werk zu bereichern, das
schon deshalb besondere Beachtung verdient, als es
von einem Manne stammt, der als einziger von den
konstitutionellen Monarchen vor der Revolution den
Mut gehabt hat, die Geschichte seines Zeitalters selbst
niederzuschreiben. Die vier ersten Teile des hand-
schriftlichen Originals wurden 191 4 im französischen
Urtext herausgegeben. — Der hier in deutscher
Übertragung vorliegende Band besteht aus den bei-
den ersten Teilen, das Gesamtwerk wird fünf bis
sechs Bände umfassen.
Begonnen hat König Stanislaw August die Nieder-
schrift seiner Memoiren im Jahre 1771, wie er es
selbst in einer Notiz sagt. Den zweiten Teil schrieb er
zehn Jahre nach dem ersten, den Rest später, führte
aber sein Tagebuch bis ans Lebensende. Im Winter
des Jahres 1797 überraschte den entthronten Kö-
nig oft sein Neffe, Fürst Adam Czartoryski, am frü-
hen Morgen am Schreibtisch, mit wirrem Haar und
blassem Gesicht. Er schriebe seine Memoiren, hiess
es. Kurz vor seinem Tode fügte er noch eigenhändig
einige Korrekturen, Notizen und Anmerkungen ein.
Welche Motive den König zur Niederschrift ver-
anlasst haben mögen: ob das Gefühl der Notwendig-
keit einer Rechtfertigung seiner selbst vor der Ge-
schichte oder das Gefühl der Notwendigkeit eines
Dokuments für sein Wollen und Streben, ob der
Drang nach einer Klärung seines Verhältnisses
zum polnischen Volke und zur polnischen Republik
oder das Verlangen, die Schuld, die das Geschick auf
ihn geladen, von seinen Schultern abzuwälzen, ob
der heisse Wunsch, das Urteil der Geschichte aufzu-
halten, dessen Ungerechtigkeit er vielleicht befürch-
XLVIf
ten zu müssen glaubte, ob tiefe Selbsterkenntnis oder
das Geschick ihm die Feder in die Hand gedrückt
haben, ob er ein Vermächtnis und ein politisches
Testament zur Warnung für die Nachkommen hin-
terlassen wollte oder ob es nur eine pro domo Schrift
sein sollte, — bleibe dahingestellt. Sicher ist, dass
nicht überall die Objektivität und Vollständigkeit
des gewissenhaften Historikers zu finden ist, dass
vielfach die Dinge rein subjektiv beurteilt und durch
das Prisma des mit grossen Teilen des Volkes und
mit zahlreichen Parteien des Landes nicht einigen
Königs gesehen sind. Das aber macht gerade den be-
sonderen Wert dieser Memoiren aus; historiogra-
phisch liegen viele einwandfreie Darstellungen dieser
Epoche vor, jedoch die subjektive, individuelle Auf-
fassung und Beurteilung eines so überragenden Gei-
stes, den das Schicksal vom einfachen Truchsess zum
König machte, um ihm dann brutal Krone und Szep-
ter wieder zu entreissen, eines Geistes, der eine
ganze Epoche befruchtet und zugleich sein Reich
dem Verderben entgegengeführt hat, der Träger
eines Kulturzeitalters war, — ist von besonderem
Wert. Und es muss betont werden, dass die Memoi-
ren, abgesehen von dem subjektiven Stempel, abge-
sehen davon, dass sie manches wohlweislich ver-
schweigen und manches unnötig her vorheben, keinerlei
Fälschungen der geschichtlichen Ereignisse enthalten.
Deshalb sind die Aufzeichnungen des letzten pol-
nischen Königs, die sich erst nach über hundert Jah-
ren ans Tageslicht haben wagen dürfen, ein grosses
kulturhistorisches Dokument.
Dr. A. v. Guttry
XL VIII
Hoc enim est sors hominum in primis reipublicae officiis
constitutorum, ut non solum nihil in ea contingat quoil eos
non afhciat, sed ut neque illis quidquani feie eveniat quud
non simul ipsam rempublicam afHcere possit. Unde et pri-
vata eoruiu vita posteris tradenda est exwraplo vel monitioui.
l/yenn jene Geschichte die beste ist, die den Leser
mit grösster Wahrhaftigkeit über die Rechte und Bei-
spiele belehrt, welche die Vorfahren ihm überliefert
haben; wenn der wirkliche Verlauf der Ereignisse von
niemandem so genau gekannt werden kann, als von den
daran Beteiligten, welche nicht nur die Tatsachen ken-
nen (sonst wären sie den Zeugen gleichzustellen), son-
dern als die einzigen auch die Motive wissen, so genügt
es, bei dem Autor seiner eigenen Lebensgeschichte Wahr-
haftigkeit und Exaktheit vorauszusetzen, um seine Er-
zählung jeder anderen vorzuziehen. Und diese Voraus-
setzung gehört nicht ins Bereich des unmöglichen. Gleich
jeder anderen Tugend ist die Aufrichtigkeit eine Gabt'
Gottes; wer von Geburt an grössere Befähigung zu die-
ser Tugend zeigt, wird sie um so leichter üben, auch bei
seiner eigenen Lebensgeschichte, wenn die Zufälle seines
Lebens den Lauf der öffentlichen Ereignisse beeinßusst
haben, wenn er sein Vaterland und die Menschheit liebt
und schliesslich wenn er der Meinung ist, dass sogar
jene Verfehlungen, die das Selbstbewusstsein am tief-
sten demütigen, schoti halb gesühnt sind, sobald man
Mut hat, sie einzugestehen und durch dieses Geständnis
dem Leser dienlicli zu sein, — so wie die Trümmer
eines zerschellten Scläffes noch jenen als Warnung die-
nen können, die auf ihrer Fahrt dieselben Gestade auf-
suchen.
ERSTER TEIL
ERSTES KAPITEL
MEINE KINDHEIT. — URSACHEN MEINER GE-
FANGENNAHME. — CHARAKTER MEINER MÜT-
TER. — MEINE ERZIEHUNG. — SLIWICKI. —
MEINE ERSTE REISE. — NOTWENDIGKEIT EINES
FELDZÜGS. — MEIN EID. — KAüNITZ. — LÖ-
WENDAL. — MORITZ VON SACHSEN. — BERG-
OP-ZOOM. SEIGNEUR DE COURT. — BOGQUET. —
RREDA. — DAS HOLLÄNDISCHE LAGER. — BEGEI-
STERUNG DER HOLLÄNDER FÜR DEN PRINZEN
VON ORANIEN. — AACHEN. — MEINE ERKRAN-
KUNG.—RÜCKKEHR NACH WARSCHAU.— REICHS-
TAG UNTER DEM VORSITZ VON SIEMIENSKI VOM
JAHRE 1748.
Ich bin am 17. Januar 1782 zu Wolczyn in der
Woiwodschaft Brzesc Litewski geboren, welcher
Besitz damals meinem Vater gehörte, — ein Jahr vor
dem Ableben Augusts II.
Bei den darauf folgenden Unruhen wurde ich der
Wiege entrissen und von dem Woiwoden von Kiew
Potocki (dem nachmaligen Grosshetman und Kastel-
lan von Krakau) als Geisel nach Kamieniec entführt;
er wollte auf solche Weise seine Anhänglichkeit an
den König Stanislaw Leszczyriski beweisen, obgleich er
unter der Hand sein Übereinkommen mit August II F.
von Sachsen, dessen Mitbewerber, vorbereitete, lange
noch bevor mein Vater, nach der Übergabe Danzigs
an die Russen, zugleich mit dem Primas Potocki und
allen anderen polnischen Fürsten, die sich zu jener
Zeit in der Stadt befanden, gezwungen war, sich den
Gesetzen des Siegers zu beugen.
Potocki befriedigte durch diese Tat, wie auch durch
manche andere, den eifersüchtigen Hass, den er ge-
gen meinen Vater hegte und der zur Ursache vieler
Ereignisse unter der Regierung Augusts II. und Au-
gusts III. wurde. Seine Folgen äusserten sich noch
unter meiner Regierung durch eine unausgesetzte Ri-
valität zwischen dem Hause der Potockis und dem
meinigen, welche Gefühle und Interessen einerseits
5
die Fürsten Czartoryski, die Brüder meiner Mutter,
mit ihrem zahlreichen Anhang, andererseits die Rad-
ziwills, Mniszechs und so viele andere teilten.
Nach beendeter Belagerung Hessen meine Eltern mich
nach Danzig kommen. Ich war damals drei Jahre alt;
von jetzt ab begann meine Mutter sich um meine
Erziehung zu bekümmern, und zwar mit derselben
überlegenen Intelligenz, durch die sie sich schon bei
der Erziehung meiner älteren Geschwister ausgezeich-
net hatte, aber mit noch erhöhter Sorgfalt. Die wirk-
lich aussergewöhuliche Frau gab mir nicht nur selbst
Unterricht in den meisten Dingen, die man sonst
ganz den Lehrern überlässt, sondern bemühte sich
vor allem, meiner Seele strenge, erhabene Grund-
sätze einzupflanzen, die mich tatsächlich ihren Ab-
sichten gemäss auch bald von der gewöhnlichen We-
sensart anderer Kinder entfernten, zugleich aber auch
die Ursache einiger meiner Fehler wurden; ich glaubte
mich meinen Kameraden überlegen, weil ich viele
Dinge nicht tat, die bei ihnen Fehler genannt wur-
den, und weil ich Verschiedenes wusste, was man sie
noch nicht gelehrt hatte. Ich wurde zu einem sehr
stolzen kleinen Wesen.
Die in Polen im allgemeinen wirklich unzuläng-
liche nationale Erziehung sowohl in wissenschaftli-
cher als auch in moralischer Hinsicht veranlasste
meine Mutter, mich vor jedem Verkehr zu bewahren,
von dem sie ein schlechtes Beispiel für mich befürch-
tete; das brachte mir in einer Hinsicht so viel Gutes
als Böses in der anderen. Auf der fortwährenden
Suche nach vollkommenen Menschen sprach ich fast
mit niemandem, und die beträchtliche Anzahl jener,
die sich von mir verachtet glaubten, brachte mir die
missliche Auszeichnung, dass ich bereits in meinem
fünfzehnten Lebensjahr Feinde hatte; dagegen muss
ich bekennen, dass die Richtung, die man mir gege-
ben, mich vor allem behütet hat, wodurch eine
schlechte Gesellschaft jungen Leuten gefährlich wer-
den kann. Ich gewann und bewahrte mir eine Anti-
pathie gegen jede Falschheit, aber auch eine (im Ver-
gleich zu meinem Alter und meiner Stellung) zu grosse
Antipathie gegen alles, was man mir als niedrig und
mittelmässig bezeichnet hatte. Man hat mir sozusagen
niemals die Zeit gelassen, Kind zu sein; als würde
man dem Jahr den Monat April wegnehmen. Heute
empfinde ich das als eine nicht wieder gutzuma-
chende Entbehrung und ich beklage sie, denn ich bin
der Ansicht, dass meine so oft schmerzlich empfun-
dene Neigung zur Melancholie eine Frucht dieser
künstlich und frühzeitig grossgezogenen Weisheit ist,
die mich doch nicht verhindern konnte, alle mir vor-
herbestimmten Fehler zu begehen, hingegen mich
bereits in meinem zartesten Alter zu einem Enthusi-
asten zu machen gedachte.
Mit zwölf Jahren schon fühlte ich ganz ernsthafte
theologische Beunruhigungen über die Freiheit des
Willens und die Prädestination, über die Täuschung
der Sinne, den absoluten Phvrrhonismus usw., so dass
ich beinahe krank wurde. Ich werde mich stets mit
Dankbarkeit erinnern, auf welch kluge Weise Pater
Sliwicki l) damals meine Beängstigungen beschwich-
tigte. „Mein liebes Kind," sagte er, „ist es wirklich
wahr, dass Sie an allem, was Sie sehen und hören,
*) Anm. des Königs: Er war in Polen Chef der Kongrega-
tion, die man dort „Missionäre" nennt, und die in Frank-
reich unter dem Namen der „ Lazaristen " bekannt war.
durchaus zweifeln? Könnten Sie wirklich nicht daran
glauben, dann wäre es nicht Ihre Schuld; Gott jedoch
ist zu gütig, um Sie in dieser Unruhe und diesen Lei-
den zu belassen, wenn Sie ihn, den Schöpfer Ihres
Wesens, von dessen notwendiger Existenz Ihr eigenes
Dasein Ihnen doch Gewissheit geben muss, vertrauens-
voll darum bitten." Diese wenigen Worte, der herz-
liche Ton, in dem sie gesprochen wurden, und offen-
bar auch der innere Drang, einen Ausweg für meine
Qualen zu finden, beruhigten mich wieder.
Meine Mutter hatte zwar nicht den Fehler began-
gen, mich in diesem Alter in der Metaphysik zu un-
terweisen ; da sie mich jedoch beständig von der kind-
lichen Sorglosigkeit fernhielt und mich daran ge-
wöhnte, jedem Wort, das in meiner Anwesenheit
gesprochen wurde, Aufmerksamkeit zu schenken,
hatte ich viele Gedanken erfasst und durchdacht, bei
denen ich mich noch nicht hätte aufhalten sollen.
Mein sanftes Naturell und meine lebhafte Phantasie
verführten mich, alles, was mir an Menschen und
Dingen der Achtung und des Lobes wert erschien,
mit geradezu überschwenglicher Neigung, ja Leiden-
schaft aufzunehmen, indes ich anderei'seits im Ton
eines Zensors und mit Abscheu fast alles verurteilte,
was ich als tadelnswert erachtete.
So beendete ich denn mein sechzehntes Lebensjahr;
ich besass eine für mein Alter ungewöhnliche Bildung,
grosse Wahrheitsliebe, hatte grosse Ehrfurcht vor den
Tugenden meiner Eltern, denen mir nichts gleichzu-
kommen schien, und die Überzeugung, dass man
mindestens ein Aristides oder ein Cato sein müsse,
um etwas zu bedeuten. Ich war klein und von ge-
drungener Gestalt, ungeschickt, kränklich und in
8
Stanislaw Ciolek Poniatowski, Kastellan von Krakau,
Vater des Königs
mancher Beziehung ein wilder Arlekin. In dieser Ver-
fassung Hess man mich meine erste Reise antreten.
Sechsunddreissigtausend Russen unter dem Ober-
befehl des Fürsten Repnin marschierten durch Polen,
um Maria Theresia Hilfe zu bringen. Mein Vater, der
bisher meine Erziehung fast gänzlich meiner Mutter
überlassen hatte, gab mir eine Empfehlung an den
General Lieven mit, den zweiten Befehlshaber dieser
Armee und seinen alten Bekannten. Mein Vater war
der Ansicht, dass eine mitgemachte Kampagne die
Erziehung eines jungen Mannes besser vollenden
könnte, denn irgend eine Akademie der Welt; meine
Mutter hatte den Mut, derselben Ansicht zu sein; zu
meinem grössten Bedauern Hessen sich ihre Absichten
in diesem Punkte nicht erfüllen. Ein Mann, der be-
rufen ist Staaten zu lenken und der nicht Krieg zu
führen versteht, ist wie ein Mann, dem die Natur
einen der fünf Sinne versagt hat; wenn er im Verlauf
seines Lebens gezwungen ist, durch seine Stellvertre-
ter und nur durch Stellvertreter Krieg zu führen,
wenn diese dann fühlen, dass er nicht nur gezwungen
ist, durch ihren Arm zu handeln, sondern auch einzig
und allein mit ihren x\ugen zu sehen, werden sie es
sich übermässig zu Nutzen machen ; und die Soldaten
lieben nur ihre wirklichen Führer und gehorchen
den Fürsten nur dann, wenn ihre Führer es wollen.
Meiner Meinung nach soll jeder Mann von hoher Ge-
burt (vor allem in einem freien Staat) und jeder Sohn
eines Herrschers einen Feldzug mitmachen, wenn sich
die Gelegenheit bietet, und soll sogar während einer
gewissen Zeit in irgend einem Korps dienen. Man
soll die kleinen Details des Dienstes nicht als Pedan-
terie verrufen; nur durch Übung kann man sie er-
9
lernen, und sie sind die notwendige Grundlage jedes
grossen Manövers und dessen, was wir die hehre
Kriegskunst nennen. Der einzige Unterschied zwischen
dem einfachen Offizier und dem grossen Führer be-
steht darin, dass die Fähigkeiten des Offiziers sich auf
die Kenntnis und Ausführung dessen beschränken
müssen, was dem Führer nur als Instrument dient.
Kehren wir jedoch zu meiner Geschichte zurück.
Kaum war meine Kriegsausrüstung beendet, da
wurde die Unterzeichnung der Präliminarien von
Aachen bekannt. Mein Vater sagte: „Diesmal wirst
du noch nicht einen Krieg sehen, reise jedoch sogleich
ab, um wenigstens die versammelten Armeen zu se-
hen."
Er gab mir Briefe mit für den Marschall von Sach-
sen, den Marschall von Löwendal und einige seiner
Freunde in den verschiedenen Ländern, die ich un-
terwegs berühren sollte. Als Begleiter gab man mir
Major von Königfels mit, den ehemaligen Adjutanten
des berühmten Marschalls Münnich; seit dieser in Un-
gnade gefallen war, hatte sich Königfels in das Haus
meines Vaters zurückgezogen. Im Dienste Russlands
erzogen, war er ganz besonders geeignet, mit mir als
Freiwilligen einen russischen Feldzug mitzumachen.
Da er nun schon einmal zu meinem Begleiter auser-
sehen war, blieb es dabei, obgleich der Zweck meiner
Reise ein anderer geworden. Er konnte nicht Franzö-
sisch und sein ganzes Wesen eignete sich wenig für
das Land und die Leute, die ich aufsuchen sollte; sein
gesunder Menschenverstand und seine Rechtschaffen-
heit kompensierten jedoch alles.
Meine Eltern nahmen mir damals das Ehrenwort
ab, mich niemals an irgend einem Hasardspiele zu
io
beteiligen, weder Wein noch starken Likör zu verko-
sten, noch vor dem dreissigsten Lebensjahr zu heira-
ten; dasselbe hatten sie auch von meinen Brüdern
gefordert. Ich habe diesen Schwur gehalten; meine
Eltern dachten, sie könnten mich auf diese Weise von
der allgemein üblichen Unsitte des übermässigen
Trinkens bewahren; denn sowohl bei unseren Ver-
sammlungen wie fast in allen Privathäusern musste
man sich ihr unterwerfen, wollte man nicht missfal-
len, indem man sich weigerte, jedesmal den Becher
zu leeren, so oft man zum Trinken aufgefordert wurde,
es sei denn, dass man nachweisen konnte, man habe
noch nie mit irgendjemand getrunken. Das nützliche
Beispiel meiner Erziehung hat durch — wenn auch
nicht ganz so strenge — Nacheiferung in anderen
fürstlichen Häusern vielleicht mit dazu beigetragen,
dass dieses in Polen durch August II. so übermässig
geförderte Laster erheblich nachliess.
Endlich reiste ich ab, nahm meinen Weg über
Czenstochau, Troppau, Königgrätz, Prag, Eger, Bay-
reuth, Frankfurt und den Rhein abwärts bis Köln
und traf am io. Juni in Aachen ein, wo Kauderbach,
dazumal sächsischer Minister, einst Instruktor meines
Vaters und meiner älteren Brüder im Haag, mich den
Ministern der anderen Höfe vorstellte, die zum Kon-
gress versammelt waren. Fürst — damals noch Graf
— Kaunitz, der Gesandte und spätere Minister des
Wiener Hofes, empfing mich trotz unseres grossen
Altersunterschiedes und der Schrullenhaftigkeit, die
ihm nachgesagt wurde, auf das liebenswürdigste und
Hess sich herab, beinahe eine ganze Stunde mit mir
zu plaudern.
Drei Tage später gelangte ich nach Maastricht, wo
l i
sieh damals das Hauptquartier des Marschalls von Lö-
wendal befand. Der General empfing mich freundlich,
Königfels gegeuüber,den er in Russland kennen gelernt,
zeigte er sich sehr wohlwollend und verschaffte uns
jede Möglichkeit — damals hing dort alles von ihm
ab — , in Maastricht und Umgebung alles zu sehen,
was einen jungen Reisenden vernünftigerweise inter-
essieren konnte. Eines Tages sagte er zu Königfels in
meiner Gegenwart:
„Der kleine Poniatowski rnuss nicht schlecht er-
staunt sein, statt hier die Strenge des schwedischen,
russischen und deutschen Dienstes vorzufinden, von
dem sein Vater und Sie ihm vorgefaselt haben mö-
gen, einen französischen Marschall zu sehen, der in-
mitten seiner Armee jeden Abend zum Schauspiel
geht und seinen Tag mit den Damen vom Theater
verbringt."
In jenem Augenblick füblte ich, wie leicht ein auf
hohem Posten stehender Mann sich vor allem die
Herzen der Jugend gewinnen kann, wenn ihm nur
daran liegt, den Eindruck, den er auf sie macht, zu
beobachten oder zu erraten, und wie leicht ein Grosser
sich Popularität erringen kann. Trotzdem Löwendal
einen so bedeutenden militärischen Ruf genoss und
mich so freundlich empfangen hatte, war ich durch
die Erzählungen der von ihm geplünderten Flamlän-
der über seine Zuchtlosigkeit gegen ihn eingenom-
men; nun, durch diese seine Bemerkung gewann er
sich meine Neigung, die ich nicht unterdrücken
konnte, obgleich ich sie verdammte. Als er sich nach
Brüssel begab, folgte ich ihm, und er stellte mich
dem Marschall von Sachsen vor.
Ich glaubte, den ersten Menschen der Welt vor
i 2
mir zu haben: gross, gebaut wie ein Athlet, stark wie
Herkules, den mildesten Blick und die männlichsten
Züge, den edelsten Gesichtsausdruck; der Ton seiner
Stimme wie Orgelklang; er ging langsam, jedoch mit
grossen Schritten; jedes Wort seines Mundes (er
sprach nie viel auf einmal) und die geringste seiner
Bewegungen machten auf alle, die ihn umgaben,
grossen Eindruck. Dreihundert bis vierhundert fran-
zösische Offiziere waren jeden Tag bei ihm anwe-
send, und ich war tief ergriffen zu sehen, wie die
Träger berühmtester Namen dieser Nation, die sonst
gewöhnt war, überall den Ton anzugeben, unterwür-
fig und ehrfurchtsvoll sozusagen von jedem Atemzug
dieses Fremden abhingen, der sie erst wieder zu sie-
gen gelehrt hatte1). Er war dazumal General-Gouver-
neur der Niederlande, die er für Frankreich erobert
hatte; die Soldaten und die subalternen Offiziere ver-
götterten ihn, die höheren Offiziere beneideten und
bewunderten ihn, doch hassten sie ihn nicht, wie sie
Löwendal hassten, der sie mit weniger Rücksicht be-
handelte; sogar die Flamländer beklagten sich nicht
über ihn; die besiegten Generale jedoch verkündeten
laut sein Lob, und der Fürst von Cumberland hing
sogar in seinem Zimmer zu Windsor sein Porträt auf.
Er empfing mich gütig, äusserte sich liebenswürdig
über meine Familie und hauptsächlich über meinen
ältesten Bruder, der 1 74 1 und I742 die Kampagne
unter ihm mitgemacht hatte. Ich erinnere mich, dass
er sagte:
*) Anra. des Königs: Man wird sich erinnern, dass wäh-
rend des ganzen Krieges nach dem Tode Kaiser Karls VI. die
französischen Armeen kein Glück hatten und erst unter der
Führung des Marschalls von Sachsen wieder siegreich wurden.
i3
„Ich hätte ihn gerne hier bei mir gehabt, ich habe
nie einen jungen Menschen getroffen, der zum Krieg-
führen befähigter schien; er hätte es weit gebracht,
wäre er so fortgefahren; ich hatte ihn gern, und auch
er hatte mich gern."
Da der Friede so gut wie geschlossen war, hatten
die Franzosen das Lager aufgelöst und ihre Truppen
beinahe vollständig in Kantonnements verstreut; ich
habe nur wenige und nur an einzelnen Orten gese-
hen; ich erinnere mich, in Maastricht mit einem
jungen Artillerieoffizier gesprochen zu haben, der
einige Jahre früher als neunjähriger Knabe bei der
Belagerung dieser Stadt verwundet worden war.
Je weniger militärisch der Zweck meiner Reise
wurde, um so begieriger wurde ich, alles zu sehen,
was dieses schöne Land an Schätzen der Kultur, der
Kunst und hauptsächlich der Malerei besitzt. Wie
fühlte ich mich erhoben beim Anblick eines Rubens,
eines Van Dyck; mein Mentor war so erfreut, dass
ich nur den Malereien nachlief, dass er mir trotz sei-
ner Sparsamkeit erlaubte, in Brüssel meinen ersten
Einkauf dieser Art zu machen ; ich dachte einen Schatz
zu besitzen, als ich ein kleines Bild erworben.
Von Brüssel ging es über Mecheln und Antwerpen
nach Berg-op-Zoom, wo damals ein Schweizer, Che-
valier de Court, das Kommando für Frankreich hatte;
sein Entgegenkommen und seine Bemühungen, mir
alles zu zeigen, was durch jene Belagerung so inter-
essant geworden, liessen mich hier wieder wie später
noch oft erkennen, welches Glück es ist, der Sohn eines
berühmten und in vielen Ländern persönlich bekann-
ten und beliebten Mannes zu sein. Der Chevalier de
Court kannte und liebte meinen Vater; er gab mir
i4
einen Brief mit für seinen Landsmann Cornabe, Ge-
neral in holländischem Dienste, der dazumal in Roo-
seodaal befehligte, dem ersten Soldatenposten der
Republik zwischen Berg-op-Zoom und Breda. Die-
ser vermittelte mir die Bekanntschaft eines anderen
Schweizers namens Bouquet, damals Generalquartier-
meister, der mir nicht nur das Lager der dreissigtau-
send Holländer bei Breda zeigte, sondern sich sogar
die Mühe nahm, mir eine kurze Direktive niederzu-
schreiben, die mir bei meiner Rundreise in Holland
als Führer dienen sollte; ich konnte es diesmal nur
ganz flüchtig bereisen, denn man hatte mir wenig
Zeit hierfür bestimmt.
Obgleich noch ein Rind, hatte ich doch Gefallen
an den Ausbrüchen des Enthusiasmus, der sich da-
mals in den untersten Volksschichten jenes Landes in
der lächerlichsten Weise für den Prinzen von Ora-
nien offenbarte, trotz der Niederlagen, welche die
Republik seit seiner Erhebung zur Statthalterschaft
erlitten und für die man ihn verantwortlich machte,
weil er durch ungerechte Protektionen Fehler be-
gangen hatte. Die Begeisterung des Pöbels war zu je-
ner Zeit aufs neue entfacht, denn das Volk hatte ge-
rade die Verpachtung einiger öffentlicher Einkünfte
gewaltsam abgeschafft.
Am 5. August kehrte ich nach Aachen zurück, um
die Badekur zu gebrauchen; meine Eltern meinten,
sie könnte auf die Entwicklung meiner Gestalt ein-
wirken und mein Wachstum fördern. Ich war schon
einmal unter Erscheinungen krank gewesen, die in
meiner Konstitution etwas Rheumatisches vermuten
Hessen. Man wähnte, ich hätte von meinem Vater die
Gicht geerbt. Jeder Wunsch meiner Eltern war für
i5
mich gleich einem höchsten Gesetz. In Aachen gab
es einen Arzt namens Cappel, der seinerzeit meinen
Vater behandelt hatte; er setzte sich sehr für die
Quelle jenes Ortes ein, doch offenbar taugten die
Wasser nicht für mich, denn am gleichen Tage, an
dem ich die Kur begonnen, fühlte ich einen überaus
schmerzhaften Krampf in den Eingeweiden, der so
heftig war, dass er mir den Magen gegen die Knie
drückte und ich fast erstickt wäre. Ehe noch andere
Hilfe kommen konnte, schüttete mir Königfels einen
Löffel Lavendelwasser in die Gurgel; jetzt konnte ich
wenigstens wieder atmen und blieb am Leben, bis der
Arzt kam, der mich einige Wochen behandeln und
mir Duschen und Dampfbäder applizieren musste,
um mich wieder auf die Beine zu bringen. Die Flasche
mit dem Lavendelwasser, die mir das Leben rettete,
war meinen Leuten einige Stunden früher von einem
Diener, der aus Hannover gekommen war, übergeben
worden; ich kannte ihn nicht, und er verschwand
gleich darauf, so dass ich dieses Qui-pro-quo nicht
aufklären konnte. Dieser Zufall ist um so auffälliger,
als ich damals weder Lavendelwasser gebrauchte noch
welches besass, aus Rücksicht auf meine Mutter, die
diesen Geruch nicht vertragen konnte.
Als ich wieder leidlich hergestellt war, ging ich
nach Eyndhoven und Ruzemonde, um mir die dort
noch versammelten österreichischen und englischen
Truppen anzusehen. In Ruzemonde sah ich den Che-
valier Faulkener, dem Voltaire seine Zaire gewid-
met hat.
Über Kassel und Dresden kehrte ich nach War-
schau zurück, zu Beginn des Oktobers 1748- Gleich
am ersten Tage wurde mit ziemlicher Leichtigkeit
16
Ronstanzia Poniatovvska, Mutter des Königs
der Referendar Siemieriski zum Marschall gewählt.
Bestuscheff, damals Gesandter Russlands und Bruder
des russischen Grosskanzlers, glaubte in diesem De-
büt die Ankündigung eines für seinen Hof gefährli-
chen Unternehmens zu sehen und erkaufte die Auf-
lösung dieses Reichstags.
2 Poniatowski
ZWEITES KAPITEL
PORTRÄT DES FÜRST-KANZLERS CZARTORYSKL—
HEIRAT MEINER JÜNGSTEN SCHWESTER. — POR-
TRÄT MEINES SCHWAGERS BRANICKI. — POR-
TRÄT DES FÜRSTEN SAPIEHA. — PORTRÄT SÜL-
KOWSK1S UND DES GRAFEN BRÜHL. — VERVOLL-
KOMMNUNG MEINER ERZIEHUNG DURCH MEI-
NEN ONKEL, DEN KANZLER. — BESCHREIBUNG,
WIE ZU JENER ZEIT UNSERE TRIBUNALE ZUSAM-
MENGESETZT WURDEN. RERICHT, WAS IM JAHRE
i749 DABEI GESCHAH. — EDLE HANDLUNG MO-
KRONOWSKIS. — PORTRÄT DER KASTELLA-
NIN VON KAMINSK. — PORTRÄT WIELOPOLSKIS,
DES KRONFÄHNRICilS. — BETRACHTUNGEN ÜRER
SEINE GLEICHGÜLTIGKEIT GEGENÜBER NEUIG-
KEITEN. — ERSTE ERWÄHNUNG KAYSERL1NGS.
SEIN EINFLUSS AUF MEINE RILDUNG. — SEIN
RAT. — ICH WERDE NACH BERLIN GESCHICKT. —
LIEBEBKÜHN. — BÜLOW. — DIE FRAUEN IN BER-
LIN. — DER KÖNIG VON PREUSSEN. — SANS-
SOUCI. — ERSTE ERWÄHNUNG DES CHEVALIER
WILLIAMS. — MNISZECH HEIRATET BRÜHLS
TOCHTER.
Hl, !■. IllillMUll 1,,, II1.IM IM I
Zu jener Zeit brachte man mich hei meinem Onkel,
dem Fürsten Czartoryski, Vizekanzler von Litauen
unter. Seine Stellung und sein Charakter hatten ihn
zu einem Mann gemacht, dem als wichtigste Auf-
gabe die Erlangung der grössten Popularität im gan-
zen Reich vorleuchtete und der daher besonders ge-
eignet schien, den Charakter eines jungen Mannes zu
formen. Mit zwanzig Jahren hatte er sich die Gunst
des sächsischen Feldmarschalls Flemming gewonnen,
der dazumal auch der wirkliche erste Minister Au-
gusts II. für Polen war, obgleich er nicht diesen Titel
führte. Durch Flemmings Vermittlung wurde mein
Onkel mit fünfundzwanzig Jahren Vizekanzler von
Litauen, erlangte dadurch eine Stimme bei der Er-
nennung zu den Ämtern der Provinz und als Folge
hiervon grossen Einfluss.
Von überragender Bildung und Kultur und einer
gewissen Neigung zur Spottsucht, gewöhnte sich der
Fürst Czartoryski unter dem allmächtigen Minister,
der ein witziges Wort und Originalität zu schätzen
wusste, daran, seine Meinung jedem ganz offen
zu sagen. Viele Leute, die seiner Vermittlung bei
Flemming bedurften, liessen sich dies gefallen, und
bald glaubte er, ein Privileg als Zensor und Richter
zu haben ; da er während der langen Zeit seiner Ver-
20
waltung sich wirkliche Verdienste erwarb, gewöhnte
sich das Publikum an seinen Ton, der bald von vie-
len, am meisten jedoch von ihm selbst, als Catonische
Tugend angesehen wurde, besonders wenn sich die
Gelegenheit bot, sie gegen die Fehler und Schwach-
heiten der Regierung und des Hofes Augusts III. aus-
zuspielen. Sein wirkliches Verdienst offenbarte sich
am meisten darin, dass er beharrlich die besten Un-
tertanen Litauens zu den Ämtern und Starosteien be-
rief, manchmal sogar die Gunst des Hofes Leuten
verschaffte, die durch ihre Geburt und ihre Verbin-
dungen als Anhänger seiner Gegenpartei angesehen
wurden ; solche Ernennungen machte er häufig ge-
nug, um seine Unparteilichkeit zu bekunden, und sel-
ten genug — und zwar nur für gewisse, ganz beson-
dere Verdienste — , um auf diese Weise seinen Plä-
nen nicht zu schaden.
Da sich der Einfluss eines Mannes am deutlichsten
bei der jährlichen Zusammensetzung unserer Tribu-
nale zeigt, gewann er sich das Lob und die Dankbar-
keit seiner Mitbürger, indem er sich bemühte, stets
ehrlichere und befähigtere Männer zum Richteramt
zu berufen, als es gewöhnlich die Kreaturen der litaui-
schen Herren, seiner Rivalen um den Einfluss, waren.
Auch gehörte er zu jenen polnischen Magnaten sei-
ner Zeit, die durch ihre Kritik und ihre Ratschläge
am meisten dazu beitrugen, dass die Jesuiten und die
Piaristen das Joch des Rarbarismus abschüttelten,
welches in ihren Schulen noch dominierte.
Während der zehn letzten Jahre der Regierung
Augusts II. und zwei Drittel der Regierungszeit Au-
gusts III. hatte er das Glück, jeweils nur einem Hof
oder einem Günstling unterstellt zu sein, welche die
21
Angelegenheiten Litauens unbedingt nur durch seine
Augen sehen wollten, und als Nebenbuhler in dieser
Provinz bloss Männer zu haben, die durch ihre Feh-
ler und Laster tief unter ihm standen. Ferner eignete
ihm die Gabe unerschöpflicher Geduld beim Anhö-
ren der Plaidoyers und der Prozess führen den, wobei
er mit Scharfsinn und der erforderlichen Gerechtig-
keit die Klagen zu verstehen trachtete, fast immer
eine gerechte Entscheidung traf und beide Parteien
befriedigte.
Anfänglich stützte er sich auf den Einfluss und die
Verbindungen meines Vaters. Zu jener Zeit, von der
ich spreche, war jedoch sein Einfluss in Litauen be-
reits gefestigt, und in Polen genoss er das Ansehen
und sogar die Anhänglichkeit fast all jener, die
von dem Woiwoden von Ruthenien, seinem Bruder,
in gewisser Abhängigkeit standen; von ihnen wurde
er sogar als Gesetzesorakel angesehen. Da er oft und
viel über die Reform der nationalen Erziehung sprach,
durch seine Reden und sein Beispiel den Fleiss an-
eiferte, eine zahlreiche Korrespondenz mit dem gan-
zen Reich unterhielt und da er vor allem es liebte,
sozusagen beständig über alle öffentlichen Angelegen-
heiten zu sprechen und auch über alle privaten An-
gelegenheiten, die jene in irgend einer Weise beein-
flussten, glaubte man, mich in keine bessere Schule
bringen zu können, um mir ein umfassendes Wissen
vom Stand der Nation zu verschaffen, um mich im
Schreiben und in den Kunstgriffen der Popularität
zu üben.
In diesem Jahre schien das Ansehen meiner Fa-
milie den Höhepunkt zu erreichen: meine jüngste
Schwester heiratete den Grafen Branicki, Woiwoden
11
von Krakau und Feldhetman der Krone, und meine
Cousine, die Tochter des Fürst-Vizekanzlers, den Woi-
woden von Podlesien, Sapieha; beide Hochzeiten fan-
den am selben Tage, dem 19. November statt.
Der Marquis des Issarts, der Gesandte Frankreichs
am polnischen Hofe, sprach meiner Familie die bei
solcher Gelegenheit üblichen Glückwünsche aus, be-
merkte jedoch, er müsste seinen Hof benachrichtigen,
dass diese Verbindungen uns ein entscheidendes Über-
gewicht verschafften, und er müsste die Aufmerksam-
keit seines Staates auf die Vorgänge in unserem Lande
lenken; er glaubte, meine Familie sei den Absichten
seines Hofes durchaus ungünstig gesinnt. In der Folge
jedoch enttäuschten diese vielversprechenden Verbin-
dungen, und zwar sowohl durch die persönlichen
Eigenschaften wie durch die Konnexionen der beiden
Männer.
Branicki, der einzige Erbe eines alten Geschlechts,
war sehr reich und verstand es, seinen Reichtum so
zu gemessen, dass er zu seiner Zeit mit Recht als ein
polnischer Magnat berühmt war, in dessen Hause der
beste Geschmack und die grösste Üppigkeit herrsch-
ten. In seiner Jugend war er der Gefährte aller Ver-
gnügungen Augusts II. In den Jahren, wo der Reichs-
tag in Grodno tagte, waren sowohl der König als auch
sein Sohn August III. wiederholt in Bialystok, der
Residenz der Branickis, zu Gaste; der König und sein
ganzer Hofstaat wurde dort mit solchem Prunk und
solcher Ungezwungenheit aufgenommen, dass alle
staunten. Die ländlichen Residenzen in Bialystok und
Choroszcza und ihre Gärten sind Denkmäler von Bra-
nickis Geschmack, die Polen zur Zierde gereichen.
Von kleiner Gestalt, hatte er doch das Aussehen
13
eines grossen Herrn; er besass all jene notwendigen
Gewandtheiten, durch die man der Menge imponiert,
war auch geschickt genug, sich in kein bedenkliches
Abenteuer verwickeln zu lassen und sich nicht den
Hass einer der beiden gegnerischen Parteien des Rei-
ches zuzuziehen, die dazumal Polen in zwei grosse
Lager teilten. Gegenwärtig war er Woiwode von Kra-
kau und Feldhetman der Krone; man versprach sich
von ihm, er würde sowohl aus wirklicher Neigung
wie auch aus Eitelkeit an der Vervollkommnung der
Armee und somit auch des Staates arbeiten, sobald
man ihm den Feldherrnstab übertrug, den der acht-
zigjährige Potocki bald abgeben musste und der ihm
durch die Gunst des Hofes gesichert schien; deshalb
wurde er schon von beiden Parteien umworben. Sol-
ches waren seine Vorzüge. Seine Mittelmässigkeit in
allen Dingen, die für einen Staatsmann wesentlich
sind (er war sich ihrer durchaus bewusst, und sie war
zum grossen Teil durch seine gefällige, jedoch ober-
flächliche Erziehung verschuldet), warnten seine
Eitelkeit vor all jenen, die ihn übertrafen.
Der Fürst- Woiwode von Ruthen ien hatte trotz sei-
ner angeborenen Vorsicht ihm nie verhehlt, wie ge-
ring er ihn achtete und wie wenig geneigt er ihm
war. Der Fürst- Vizekanzler hatte ihm gegenüber zu
sehr den Ton des Richters und Pädagogen angeschla-
gen, und so war es den Feinden meiner Familie ein
leichtes ihn zu überzeugen, er würde als Verbünde-
ter meiner Oheime doch stets nur ihr Untergebener
und ihr Werkzeug sein; indessen versicherten die
Potockis durch unterwürfige Schmeicheleien, sie wür-
den ihn nach dem Tode des Grosshetmans, ihres
Oberhauptes, als Protektor ihres Hauses ansehen. Zu
24
Jan Klemens Branicki, Woiwode von
Krakau, Grosshetman der Krone
(Phot. Anderle, Krakau)
ihren Einflüsterungen gesellten sich die Anstiftungen
der Franzosen und oftmals auch die Subsidien ihres
Hofes, wodurch Branicki in fortgesetzte Opposition
gegen die Czartoryskis geriet. All diese Einflüsse
machten sowohl die persönliche Anhänglichkeit an
meinen Vater, die er ehemals bekundet, zunichte
wie auch die Anhänglichkeit an seine Gattin, um de-
ren Hand er sich doch ihrer Reize wegen beworben,
deren Tugend und engelhafte Milde jedoch diesen sech-
zigjährigen Libertin nicht genügend fesseln konnten.
Prunkliebend, dabei jedoch wenig wählerisch in
den Mitteln, war er stets darum bemüht, den Glanz
seines Hauses aufrechtzuerhalten; als Staatsmann
äusserst beschränkt und faul, war er doch listig und
eifrig bestrebt, seine besonderen Zwecke zu erreichen ;
selbst Falschheit war ihm nicht fremd. Sein Haus
erschien als eine vollkommene Miniatur eines grossen
Hofes, voller Intrigen, Ränke und tief korrumpier-
ter, jedoch wohlgezügelter Gunstbewerbungen, wo
fast alle (mit Ausnahme Mokronowskis) von Brühl,
dem Günstling Augusts IIP., erkauft waren, um ihren
Patron davon abzuhalten, ihm zu schaden.
Da nicht Ehrgeiz, sondern viel eher Eitelkeit und
Bequemlichkeit die Motive von Branickis Handlungen
waren, da ihm nur daran lag, an der Oberfläche zu
bleiben, den äusseren Apparat seines Ansehens beizu-
behalten, nichts von seinen Vergnügungen und seinen
Vorteilen einzubüssen, so kümmerte er sich wenig um
die Interessen des Staates, ja nicht einmal um jene
Angelegenheiten, zu denen seine eigenen Günstlinge
ihn antrieben, die er der Reihe nach täuschte und
denen gegenüber er sich nur in seinem Testament
grossmütig zeigte. Das war also jener Mann, der durch
25
die Üppigkeit und durch den verschwenderischen
Glanz und Luxus seines Auftretens zu einer hervor-
ragenden Gestalt der europäischen Höfe wurde, wie
es aus den Berichten der Fremden, hauptsächlich der
Franzosen, hervorgeht, die in seinem Hause manche
Annehmlichkeit und eine zweite Heimat fanden.
Sapieha, Branickis leiblicher Vetter, schien dage-
gen meinem Onkel völligen Einfluss in Litauen zu
sichern. Oberhaupt der Familie, Erbe eines berühm-
ten und in jener Provinz noch sehr geachteten Na-
mens, reicher Witwer (seine Frau hatte ihm ein an-
sehnliches Vermögen zugebracht), zu eigener Arbeit
fähig, liebte und verstand er alle Ränke der Land-
tage, verstand es auch, mit Würde populär und zu
diesem Zwecke auch freigebig zu sein; er liebte es,
den Söhnen der Edelleute, die sich ihm anschlössen,
seine Bildung mitzuteilen (und es mangelte ihm nicht
so sehr an Bildung, wie den meisten seiner Zeitge-
nossen), auch war er für seine Zeit ziemlich redege-
wandt. Er hatte einen Bruder: Koadjutor des Bistums
von Wilno, ausgesprochener Protektor der Literatur,
grosser Intrigant; sie beide waren gebürtige Feinde
der Radziwills, die hinwieder Feinde der Czartoryskis
waren. Diese Feindschaft hielt jedoch nicht zugun-
sten meines Onkels stand und nicht unter den Ränken
des Grafen von Brühl, dem es einige Jahre später ge-
laug, den Samen der Zwietracht zwischen Schwie-
gervater und Schwiegersohn zu säen.
Es ist jetzt an der Zeit, ein Bild dieses berühmten
Günstlings zu entwerfen, der vierundzwanzig Jahre
lang im Namen seines Herrschers allmächtig regierte.
Unter August II. in die Staatsgeschäfte eingeweiht
— er war sein Page, später sein Minister — , wurde
26
ihm nach dem Tode dieses Fürsten bis zum Jahre
1739 der Weg zum Glück und Erfolg durch den da-
maligen Günstling Sulkowski versperrt, der ihn nicht
ausstehen konnte. Sobald jedoch dieser in Ungnade
fiel und er an dessen Stelle treten konnte, wurde es
das Streben seines ganzen weiteren Lebens, sich an
diesem Platz zu erhalten und alles zu vermeiden,
wodurch Sulkowski gestürzt war.
Auch Sulkowski hatte als Page gedient und zwar
unter August III., zu einer Zeit, wo dieser bloss Kur-
fürst war; er war ein guter Reiter und leidenschaft-
licher Jäger und setzte sich durch diese beiden Eigen-
schaften bei seinem Herrn in Gunst; später liebte
August III. ihn mit einer Art Leidenschaft, die um
so auffälliger war, als man keinen Zweifel an der
Sittenreinheit des Königs hegte; so heftig war diese
Leidenschaft, dass jede seiner Launen und Neigungen
von ihr abhing. Sulkowski wiegte sich in Sicherheit
und wagte sogar, lange Zeit abwesend zu sein, ja er
beleidigte sogar die Königin rücksichtslos und behan-
delte jeden, der ihm missfiel, verächtlich und weg-
werfend; er verwehrte niemandem den Zutritt zum
König, dem er ganz öffentlich seinen Willen auf-
drängte und den er so oft misshaodelte oder mit ihm
schmollte, dass es wirklich schien, als trachte er da-
nach, ihm lästig zu werden ; es ging so weit, dass der
König gezwungen war, ihn zu verabschieden. Er
war sehr beschränkt und gestand oft und ganz auf-
richtig, er fürchte nur geistreiche Leute; man konnte
ihm jedoch weder eine Schurkerei noch Unredlich-
keit nachsagen. Die sächsischen Finanzen verschlech-
terten sich nicht zu jener Zeit, wo er in Gunst stand,
und seine Reichtümer rührten nur von freiwilligen
Geschenken seines Herrn her, den er in keiner Weise
von den Staatsgeschäften fernzuhalten suchte.
Obgleich er keinem bekannten Geschlecht ent-
stammte, betonte er gerne, dass er ein Pole sei, und
versuchte, den König für die polnischen Interessen
und den Aufenthalt im polnischen Lande zu ge-
winnen.
Brühl dagegen machte es sich zum Prinzip, den
König zu isolieren, und da ihm das Wesen der Re-
gierung dies in Sachsen leichter machte, bekräftigte
er ihn in seiner natürlichen Abneigung gegen Polen,
in welchem Lande sich König August III. immer
nur auf der Durchreise wähnte. Stolz und Faulheit
waren die beiden Hauptfehler Augusts III.; Brühl
bediente sich ihrer, um ihm einzureden, er würde in
seinen Erblanden leichter Gehorsam finden; auch
müssten alle seine Wünsche durch einen einzigen
Mann gehen, der es verstünde, ihm endlose Diskussio-
nen zu ersparen, und dessen Gesundheit es erlaubte,
gleichzeitig Minister in allen Departements zu sein,
Arrangeur seiner Vergnügungen und ständiger Beglei-
ter seiner Reisen, Jagden und Spaziergänge, kurz der
Begleiter eines jeden seiner Schritte; den Zutritt zu
ihm würde er allein in seinem Namen gestatten.
Dieser Mann war nun Brühl; ohne hervorragende
Bildung, weder Finanzmann, noch Soldat, noch gu-
ter Reiter, Jäger, Musiker oder Kunstkenner, ver-
stand er es dennoch, durch seine Anpassungsfähig-
keit, Geschicklichkeit und Freigebigkeit in den Augen
seines Herrn all diesen Anforderungen zu genügen.
Die Natur hatte ihn mit einer eisernen Konstitu-
tion und einem angenehmen Äusseren ausgestattet;
weder schlaflose Nächte noch die grössten Anstren-
28
gungen und Sorgen liesseu die geringste Veränderung
an ihm erkennen. Stets lächelnd, stets frisch, stets
ausserge wohnlich höflich, machte er allen Kompli-
mente und sagte nie irgend etwas Verletzendes; er
entzückte die Durchschnittsmenschen und verstand es,
den Leuten, die ihm schaden konnten, den Zutritt
zum Monarchen so zu erschweren und so unange-
nehm zu gestalten — denn Brühl wusste, der König
würde ihn niemals desavouieren noch im Stiche las-
sen — , dass endlich fast alle, des Kampfes müde, sich
ihm unterwarfen.
Er hatte keinen auserwählten Geschmack, doch
eine natürliche Vorliebe für jedweden Prunk, für
kostbare Juwelen und prachtvolle Gewänder, die ihn
zu einem märchenhaften Aufwand trieb. Seine gere-
gelten und offenkundigen Ausgaben beliefen sich auf
eine Million Taler jährlich, und sein Herr schien
darin nur ein Abbild und eine Ausstrahlung seiner
eigenen Grösse zu erblicken. Doch gewöhnten sich
der Günstling und alle seine Verwandten, Unterge-
benen, Spione, Favoriten und Mätressen mit ihrem
ganzen Anhang so sehr daran, jeden ihrer Wünsche
als ein Recht anzusehen, dass bald alle Wohltaten
des Herrn nicht ausreichten und die Finanzen des
Kurfürstentums Sachsen, die Brühl völlig unterstan-
den, es zu verspüren begannen.
Freilich dienten der ausserordentliche Prunk der
königlichen Tafel, der Jagden und Schaustellungen
Augusts III. und ferner seine erstaunlichen Erwer-
bungen an Diamanten und Gemälden dem Minister
lange als Vorwand für die leeren Truhen des Königs.
Die Wahrheit brach sich jedoch endlich Bahn; man
wusste, dass trotz all der oben erwähnten Ausgaben
29
die Gelder für den Unterhalt der Armee nicht vom
König aufgebraucht worden waren, und trotzdem
war die Armee nicht bezahlt. Pater Ligeritz, der
Beichtvater des Königs, wagte ihm dies mitzuteilen.
Brühl legte die Quittungen des letzten Quartals vor,
ohne die vorherigen bezahlt zu haben, und Hess so-
fort den Beichtvater verabschieden, dem eine Konfron-
tation mit seinem Herrn nicht mehr gestattet wurde;
die Indolenz des Königs selbst fürchtete die Mühen
einer Erklärung, der Berufung eines neuen Ministers
und scheute die Notwendigkeit, seine Befehle ver-
schiedenen Persönlichkeiten erteilen zu müssen und
sich an neue Gesichter zu gewöhnen.
Endlich gaben zwei preussische Einfälle (die Sach-
sen wirklich schwer schädigten) Brühl die Gelegen-
heit, alle Irrtümer und Missstände seiner Verwaltung
mit dieser offensichtlichen Schädigung zu entschul-
digen. Jetzt wurde der König für jede Beschwerde
und Anschuldigung gegen Brühl völlig unzugänglich;
einige Jahre nach Sulkowskis Sturz beherrschte Brühl
den Geist seines Herrn ganz ausschliesslich, sowohl
in Sachen des polnischen Beichs wie in denen Sach-
sens. Eine beträchtliche Anzahl der verschiedensten
Aufseher und Spione wurde von Brühl freigebig ent-
lobnt, der auf diese Weise nicht nur alles erfuhr,
was die Person des Königs zu jeder Tageszeit betraf,
sondern auch von jedem gegen ihn gefassten Plan.
Da er wirklichen Buhm weder kannte noch nach
ihm strebte, vielmehr nur seine Stellung und die da-
mit verbundenen Annehmlichkeiten nicht verlieren
wollte und seine ganze Geschicklichkeit allein dar-
auf abzielte, war er weder ausserordentlich gut, noch
gross, noch grausam, sondern nur korrumpiert, mit-
3o
telmässig und oft sogar ganz kleinlich. Die Regierung
seines Herrn nahm völlig das Merkmal seines Cha-
rakters an, was nur zu sehr dazu beitrug, den Cha-
rakter der ganzen Nation zu verderben.
Ungefähr ein Jahr verbrachte ich an der Seite
meines Onkels, des Vizekanzlers, und hatte genügend
Gelegenheit mich zu überzeugen, welche Rolle oft
sowohl im Kleinen wie im Grossen ein angemasster
Ruf spielt. Die politische Erziehung, die mir in die-
sem Hause so sicher zuteil werden sollte, sank in
nichts zusammen; niemals war ich untätiger, mein
Onkel gab mir keine Aufgaben und erkundigte sich
nur selten, ob ich seinen ersten Sekretär um eine Ar-
beit gebeten hatte; ich hätte in jeder Beziehung kor-
rumpiert werden können, ohne dass er es gemerkt
hätte. Er bildete sich ein, mich zu erziehen, indem
er mir von Zeit zu Zeit über Gemeinplätze Vorträge
hielt. Der einzige wirkliche Nutzen, den mir diese
Schule brachte, war die hier erworbene Kenntnis der
Beziehungen und Grundlagen der Popularität, die er
vor allem in Litauen genoss. Dieses Beispiel gab mir
folgendes zu bedenken: Eltern, die um die Erziehung
ihrer Kinder besorgt sind und diese fern von sich er-
ziehen lassen — selbst bei Leuten, von denen sie die
höchste Meinung haben — , sollen ihnen dennoch eine
gewisse Lektüre und gewisse Arbeiten, wie Auszüge,
Analysen, Bemerkungen usw. vorschreiben und diese
sich vorlegen lassen, um sie vom Müssiggang fernzu-
halten und sie an Arbeit zu gewöhnen, es sei denn,
dass sie die Gewissheit haben, die Persönlichkeit, bei
der sie untergebracht wurden, trage Sorge hierfür.
Aber bald bot sich meinen Augen ein neues Schau-
spiel.
3i
Man schickte mich nach Piotrkövv, um dort der
Bildung des Tribunals beizuwohnen,
Um das, was sich damals dort ereignete, zu be-
greifen, muss man vorausschicken, was diese jähr-
liche Neubildung unserer Tribunale war, was sie sein
sollte und warum meine Familie an der diesjährigen
besonderen Anteil nahm.
Seit König Stefan Bathory diesen obersten Gerichts-
hof, bei uns kurz Tribunal genannt, gegründet und
das Gesetz vom Jahre 1726 einige Beformen einge-
führt hatte, waren alle Woiwodschaften der Krone
verpflichtet, um den i5. September herum (nach dem
Wortlaut des Gesetzes am ersten Montag nach Maria
Geburt) je zwei oder drei Deputierte zu wählen, die sich
anfangs Oktober in Piotrköw versammeln sollten
(nach dem Wortlaut des Gesetzes am ersten Montag
nach dem heiligen Franziskus), um dort gemeinsam
den obersten Gerichtshof zu bilden, an den in letzter
Instanz alle Gerichtsentscheidungen des ganzen Beichs,
sowohl die ländlichen wie die städtischen, verwiesen
wurden.
Bevor die Deputierten ihre Plätze im Bathause
zwecks Ausübung dieser Amtshandlung einnehmen
durften, mussten sie ihre Wahl von Zensoren legalisie-
ren lassen ; diese Zensoren waren der Landrichter und
der Landnotar von Sieradz, oder in ihrer Vertretung
der Starost von Piotrköw oder seine Gerichtsbeamten.
Die Gültigkeit der Deputierten wähl war von der Ein-
stimmigkeit aller wahlberechtigten Anwesenden ab-
hängig. Zur Bestätigung der Wahl oder zur Verhin-
derung der Eidesleistung durch die Prätendenten (die
Eidesformel sollte ihnen von den oben erwähnten
Zensoren erst dann diktiert werden, wenn sie die
32
O
Wahl geprüft und als rechtmässig anerkannt hatten)
bediente man sich eines der folgenden Mittel: ent-
weder brachte man erneu Protest (ein sogenanntes
Manifest) vor, der sich gegen den Landtag des frag-
würdigen Prätendeuten richtete. In diesem Protest
musste gesagt werden : dieser oder diese in dem frag-
lichen Distrikt begüterten Edelleute hatten laut und
deutlich auf dem Landtag der Wahl jenes Deputierten
widersprochen ; oder sie hätten durch ihren Einspruch
sämtliche Handlungen dieses Landtags hinfällig ge-
macht, oder, wie man damals sagte, gebrochen, und
das bezügliche Manifest sei im zuständigen Gerichts-
ort fgrodj verfasst worden. Die zweite Art, die Wahl
eines Deputierten umzustürzen, war die Vorbringung
(stets vor denselben Zensoren) eines Kondemnals gegen
den Prätendenten, das heisst eines gegen ihn in con-
tumaciam erlassenen Dekrets bei irgend einem Ge-
richtshof des Reiches vor seiner Wahl zum Depu-
tierten.
Die Verteidigungsmittel gegen derlei Einwände
waren: i. das Vorweisen des Laudums, das heisst
eines Attests der in jeder Woiwodschaft dafür be-
stellten adligen Beamten, durch welches sie beteuer-
ten, ein gewisser N. N. sei zu Recht erwählt; i. die
Erbringung des Nachweises, dass die gegen den Prä-
tendenten vorgebrachten Manifeste nicht von Leuten
verfasst wurden, die beim Landtag anwesend waren;
3. oder, dass sie zwar anwesend waren, aber nicht
mit lauter Stimme an dem Wahlorte ihre Opposition
kund getan hatten; 4- dass jene Edelleute, welche die
Manifeste vorbrachten, nicht in jenem Distrikt be-
gütert waren; 5. dass sie selbst unter einem Kon-
demnat standen; 6. endlich, dass sie einen Verzicht
3 Poniatowski 33
auf das Kondemnat seitens desjenigen vorweisen
konnten, der es seinerzeit erwirkt hatte.
Die oben erwähnten Zensoren fällten hierüber end-
gültig ihr Urteil. Sie waren es, die entscheiden muss-
ten, ob ein gewisser N. N. zum Deputierteneid zuge-
lassen werden durfte, ob er völlig zurückgewiesen
oder seine Ernennung nur suspendiert werden sollte,
bis dieVersammlung der bereits rechtlich anerkannten
Deputierten den Fall diskutiert und entschieden hätte.
Das war der rechtliche Vorgang, der durch folgende
Missbräuche gestört wurde: jeder, der in Polen einen
Prozess vor diesem Tribunal zu führen hatte oder
sich Einfluss im Lande erwerben wollte, versuchte,
unter den Männern, aus denen die Deputiertenver-
sammlung sich zusammensetzen sollte, genügend
Freunde zu gewinnen, um die Mehrheit für sich zu
haben; man bemühte sich daher, auf so vielen Land-
tagen als es nur möglich war die Wahl von Leuten
durchzusetzen, auf die man sich verlassen konnte,
und all jene, wo man seinen Einfluss nicht durch-
setzen konnte, zu annullieren; da Einstimmigkeit da-
mals ein unentbehrliches rechtliches Requisit der
Landtage war und ein einziges Manifest sie bereits
brechen konnte, mochte es vorkommen (und es kam
in Anbetracht der Aktion der Gegenparteien in Polen
auch in der Tat oft vor), dass bei der Versammlung
in Piotrköw sich nicht einmal sieben weltliche Depu-
tierte einfanden, gegen die kein rechtlicher Einwand
erhoben werden konnte; da jedoch sieben die kleinste
bei diesem Rechts verfahren notwendige Zahl war, so
wäre das. Reich oft ohne Tribunal geblieben, hätten
nicht, um diesem Missstand zu begegnen, die er-
wähnten Zensoren und andere Personen jeden Stan-
34
des, die sich in Piotrköw zur Zusammensetzung eines
jeden neuen Tribunals einfanden, sich darum be-
müht, diejenigen, die hier eintrafen, um Manifeste
und Kondemnate gegen verschiedene Prätendenten
einzubringen, davon abzuhalten.
Das alles war noch kein eigentlicher Missbrauch.
Wenn aber die Zensoren sich erlaubten, Deputierte
zuzulassen oder auszuschliessen, ohne sich um die
Dokumente zu kümmern, die sie anklagten oder frei-
sprachen, und sich hierbei nur von ihrer Sympathie
oder ihrem Hass leiten Hessen, dann versuchten auch
die daran interessierten Personen, sich verschiedener
Bestechungsmittel zu bedienen, um die Entscheidung
der Zensoren zugunsten ihrer Interessen zu beein-
flussen. Wenn die Zensoren jedoch unbestechlich oder
voreingenommen waren, dann ersannen die einzelnen
Herren andere Mittel und Wege.
Das Gesetz hatte zur Legalisierung der Deputierten
den ersten Montag des Monats Oktober nach dem hei-
ligen Franziskus festgesetzt und zwar in der Kathedrale
von Piotrköw, nach dem Hochamt, vor einem Tisch,
hinter dem der erste der Zensoren den Deputierten
den Richtereid diktieren sollte; vorher mussten alle
Manifeste, Kondemnate, Lauda und Verzichte auf
diesen Tisch niedergelegt werden.
Dieser Tisch bildete also den Mittelpunkt der gan-
zen Handlung und alle, die Manifeste, Kondemnate,
Lauda und Verzichte vorzubringen hatten, versuch-
ten sich ihm so sehr als möglich zu nähern. So lag
es denn auch im Interesse der Fraktionen und ihrer
Führer, die Gegner und deren Anhang zu hindern,
an den Tisch heranzutreten, oder sie von ihm zu ent-
fernen, denn was dort nicht niedergelegt wurde, ver-
3- 35
lor seine Wirksamkeit. Zuerst versuchte man es mir
mit Geschicklichkeit, bald wurde sie jedoch durch
das massenhafte Vordrängen der zahlreichen Anwe-
senden ersetzt, welche als erste zur Stelle sein wollten
und oft die Hand gegen ihre Mitbürger erhoben, um
sie fernzuhalten oder sie gewaltsam zurückzustossen
oder ihnen die Papiere zu entreissen, durch welche
sie die Prätendenten stützen oder stürzen wollten.
Sobald die Zahl und die physische Kraft die Wage
der Gerechtigkeit zu beeinflussen drohten, befürchtete
das Volk mit Recht, die Entscheidung würde stets
den Grosshetmans, den seinerzeit absoluten Armee-
kommandanten, zufallen. Deshalb fügte man im Jahre
1 7 1 7 in die Eidesformel des Grosshetmans die aus-
drückliche Klausel ein, sie würden nie und in keiner
Weise die Heere der Republik hierzu verwenden. Um
diese Klausel zu umgehen, verbreitete in diesem Jahre
1749 die Partei der Potockis bereits im August das
Gerücht, ein gewisser P^cherzewski verwüste an der
Spitze einer Räuberbande die Umgegend von Piotrköw.
Dieser Pqcherzewski existierte überhaupt nicht, eben-
sowenig wie seine Genossen. Nichtsdestoweniger be-
nutzte der alte Grosskronhetman Potocki diese Mär,
um dem Woiwoden von Smolensk Sapieha, dem
Regimentskommandanten von Gross-Polen, zu be-
fehlen, ein Korps Soldaten zusammenzuziehen, das
diesen angeblichen Ruhestörer abfangen sollte; Sa-
pieha benutzte dies, um die wirklichen Absichten des
Grosshetmans auszuführen, und liess sich von einer
Abteilung Soldaten als angeblicher Ehrengarde nach
Piotrköw begleiten.
Ein Potocki (er ist als General der litauischen Ar-
tillerie gestorben und war damals Starost vonTlomacz),
36
ein Neffe des Grosskronhetmans, hatte sich auf dem
Landtag zu Beiz zum Deputierten wähleD lassen
wollen; der Kastellan von Beiz, Lipski, erschien selbst
in Piotrköw, um die Ungültigkeit dieser Wahl nach-
zuweisen. Potocki wollte Marschall des diesjährigen
Tribunals werden, um durch seine Autorität und eine
Beeinflussung seiner Kollegen alle juristischen Be-
schlüsse nichtig zu machen, welche in den letzten
Jahren vor dem Tribunal zustande gekommen waren
und die beweisen sollten, dass Graf Brühl in direkter
Linie von einer alten polnischen Familie abstammte:
ein Zweig dieser Familie sollte vor zwei Jahrhunderten
aus Polen ausgewandert sein; ferner wollte er gegen
meinen ältesten Bruder, den Grosskämmerer der
Krone, die Wiederaufnahme eines Prozesses durch-
setzen, welcher die Folgen jenes Duells vom Jahre ] 744
niederschlug, in dem er unglücklicherweise den Grafen
Tarlo, den Woiwoden von Lublin, getötet hatte.
Einer der wesentlichsten Fehler unserer Gesetze
war die Unendlichkeit der vor das Tribunal der
Krone vorgetragenen Prozesse. Jeder, der in einem
Prozess unterlag, konnte im nächsten Jahre und so-
gar mehrere Jahre später ihn wieder aufnehmen,
unter dem Vorwand, das in Frage stehende Dekret
enthalte einen Rechtsbruch (quod vim legis sapit, so
hiess die Formel); wenn er bei diesem zweiten Ver-
such den Prozess gewann, so konnte sein Gegner
wieder bei einem dritten Tribunal Vergeltung suchen
und so ins Endlose; es kam vor, dass dieselbe Sache
bis zu zwanzigmal verhandelt wurde. Im Jahre 1766
wurde das Uebel verringert; ein Gesetz von diesem
Jahre bestimmte, dass zwei gleichlautende Dekrete,
die vor zwei verschiedenen Tribunalen in derselben
37
Sache gefallt wurden, den Prozess endgültig ent-
schieden. Seit dieser Zeit versucht die Schikane, eine
solche Uebereinstimmung zu verhindern.
Die Potockis konnten diesen Stand der Dinge be-
nutzen, um meinen Bruder die schlimmsten Folgen
ihres schlechten Willens merken zu lassen, dessen
Quelle die alte Rivalität zwischen dem Grosskronhet-
man und meinem Vater war; ihr damals aktueller
Ansporn war der Neid um die Gunst, die meine Fa-
milie bei Hof genoss. Die Potockis rechneten damit,
sie könnten sich dafür an der Person des Grafen Brühl
rächen und ihre Rivalen in der Person meines Bruders
demütigen.
Es ist klar, dass der natürliche Selbsterhaltungs-
trieb meine Familie veranlasste, die übrigens wirklich
illegale Wahl Potockis, des Prätendenten zum Mar-
schallsamt des diesjährigen Tribunals, zu durch-
kreuzen.
Zum Unglück waren nur fünf richtig gewählte
Deputierte anwesend, und die Potockis wollten einer
Behebung der Hindernisse, die sich der legalen Zu-
lassung von zwei weiteren entgegenstellten, nicht zu-
stimmen, es sei denn unter der Bedingung, dass man
auch ihren Kandidaten aufnehme.
Hierüber verhandelte man zwecklos bis zum Mittag
des 6. Oktobers. Die Stunde des Gottesdienstes, welcher
der Sitte gemäss dem Zivilakt des Tages vorangehen
sollte, war vorüber. Es waren nur noch wenige Stunden
bis zum Einbruch der Dunkelheit, das Tageslicht war
jedoch auch eines der rechtlichen Erfordernisse. Die
beiden Parteien versammelten sich also gegen drei
Uhr nachmittags in der Kathedrale von Piotrköw,
weniger in der Hoffnung etwas Nützliches zustande
38
zu bringen, als in der Erwartung eines blutigen Zu-
sammenstosses.
Um die Verantwortung dafür nicbt auf uns zu
laden, hatten wir allen Edelleuten unserer Partei
ausdrücklich anbefohlen, nicht eher die Säbel zu ziehen
und dreinzuschlagen, als bis nicht jemand von uns ver-
wundet war; auf unserer Seite hatten wir an die tau-
send Edelleute, auf der anderen Seite standen etwas
weniger, aber diese Ungleichheit wurde durch die
Truppen der Republik gänzlich kompensiert.
Der Woiwode von Smolerisk Sapieha betrat die
Kirche, die Mütze auf dem Kopf, die Hand am Säbel-
griff; ihm voran schritt eine Kompagnie Tataren; der
Vizekanzler von Litauen Sapieha, sein Vetter, der auf
unserer Seite stand, machte ihm vergebliche Vor-
stellungen wegen der Unschicklichkeit und Unrecht-
mässigkeit seines Schrittes ; mehrere hundert Dragoner
und andere Tataren unter dem Befehl des Woiwoden
von Smolerisk und des Starosten von OsViecim Mala-
chowski, eines militärischen Untergebenen des Gross-
kronhetmans, standen dicht bei der Kirche unter
Waffen, bereit beim ersten Appell herbeizueilen.
Der Grosskämmerer traf die Starosten von Ttomacz
und von Oswiecim in der ersten Kirchenbank an; ab-
sichtlich setzte er sich zwischen die beiden. Einer
unserer Freunde, Glinka mit Namen (damals Land-
notar, später Kämmerer von Lomza), hielt mit lauter
Stimme eine Art Anrede an die Versammelten, um
zu bezeugen, wie bestürzt und entsetzt er beim An-
blick der Truppen der Republik war, die entgegen dem
ausdrücklichen Gesetz vom Jahre 1717 bei der Zu-
sammensetzung des Tribunals in so sonderbarerweise
mitwirkten. DerStarost von Oswiecim sprachdieWider-
39
rede, aber es waren nur leere Worte und die Tat-
sachen sprachen zu sehr gegen ihn.
Kurze Zeit darauf begaben sich mehrere Edelleute,
ärgerlich darüber, dass man nicht zur Tagesordnung
schritt, in die Sakristei, um den Tisch zu holen, an
dem die Eide abgelegt werden sollten. Dieser Gegen-
stand der allgemeinen Aufmerksamkeit bewirkte, dass
die Anhänger beider Parteien, ohne den Befehl der
Führer abzuwarten, sich dem Tisch durch Vordrängen
möglichst zu nähern versuchten. Der hierbei verur-
sachte Lärm täuschte den Kom mandanten der Tataren-
truppe, die der Woiwode von Smolensk mitgebracht
hatte; er gab das Zeichen durch Hochheben seiner
Mütze; im selben Moment schwangen die Tataren die
Säbel ; eine grosse Zahl Edelleute von unserer Partei
verliess rasch die Kirche, da sie weder ein Losungswort
noch ein Zeichen der Zusammengehörigkeit hatten,
auch kein Befehl zum Kampf an sie ergangen war und
sie daher ihre eigenen Kräfte nicht kannten. Gleich-
zeitig trat ein gewisser Czarnecki, ein von den Potoekis
bezahlter Bramarbas, mit blankem Säbel vor den
Grosskämmerer hin, in der Annahme, der Moment
des Handelns sei gekommen, und sagte:
„Du hast den Woiwoden von Lublin getötet, du
willst verhindern, dass Herr Potocki Marschall wird,
du willst dich hier als Herr aufspielen, wir werden dir
aber zeigen, dass du es nicht bist!"
Im gleichen Augenblick hielt ein gewisser Komo-
rowski, der Stallmeister der Kastellanin von Kaminsk
(der Schwester des Starosten von Tlomacz), einige
Schritte weiter rechts vom Grosskämmerer eine ähn-
liche Rede, während sein Bruder, ein Artillerieoffizier,
über mehrere Bänke sprang und sich unmitielbnr
4o
Andreas Poniatowski, Bruder des Königs
hinter den Grosskämmerer stellte; sein Säbel war
schon halb gezückt, als Gozdzki (damals Grosskron-
küchenmeister, später Woiwode von Podlesien), der
sich damals in Piotrköw befand, ohne irgend einer
Partei anzugehören, sich zufällig umwandte, dies sah
und empört den Offizier nach dem Grunde seiner
Handlung fragte. Verwirrt erwiderte ihm Komorowski,
er täte es nur zu seiner Verteidigung. „Dann konntest
du bleiben, wo du warst," erwiderte Gozdzki, zwang
ihn, das Schwert wieder in die Scheide zu stecken,
und stiess ihn zurück.
Jetzt ergriff der Grosskämmerer die Hände seiner
Nachbarn, des Starosten vonTlomacz und des Starosten
von Oswiecim, Hess sie die Taschen seines Rockes be-
fühlen und sagte:
„Da, seht, meine Herren, ich habe zwei Pistolen bei
mir, sie sind für euch bestimmt, wenn ihr nicht augen-
blicklich euren Schreiern und euren Soldaten Schwei-
gen und Ruhe gebietet; eure Pläne waren mir bekannt,
ich konnte mit meinen Edelleuteu allein genau solche
militärische Vorbereitungen treffen wie ihr, wollte
aber nicht die Schuld auf mich laden. Ich habe mich
absichtlich zwischen euch gesetzt, damit ihr mir Ge-
sellschaft leistet, falls ihr meinem Leben nachstellen
wollt."
Während der Grosskämmerer diese Worte sprach,
stürzte sich Oberst Blendowski *), ohne den Säbel zu
ziehen, mitten unter die Tataren und rief:
*) Anm. des Königs: Dieser Blendowski befehligte während
des 1741 ausgebrochenen Krieges in Böhmen mit Erfolg und
Auszeichnung die Ulanenregimenter Augusts III., aus denen
die Tataren beim Friedensschluss entlassen wurden. Siegingen
in der Mehrzahl in die Begimenter der Bepublik über. Diese
„Freunde, denket an euren alten Führer, haltet ein !
Ich sage euch, man will euch zu einer schlechten
Handlung missbrauchen!"
Diese Worte hielten sie zurück. Ebenso hielt der
General Mokronowski, ein sehr populärer Mann, auch
ohne den Säbel zu ziehen an einer anderen Stelle eine
Menge Edelleute von der Potockischen Partei zurück,
indem er ihnen die Fürchterlichkeit der Handlung
darlegte, die man ihnen zumutete. Als Malachowski
und Potocki sahen, dass der erste Ansturm der Menge
sich gelegt hatte, und sie nicht wagten, nach den so-
eben gefallenen Worten des Grosskämmerers öffent-
lich neue blutige Befehle an ihre Leute auszuteilen,
riefen sie ihren Anhängern zu, den Säbel in die Scheide
zu stecken ; einen Augenblick später forderten sie den
Grosskämmerer auf, sich mit ihnen zu einer Verhand-
lungin die Sakristei zu begeben. Sie kamen zu keinem
anderen Resultat, als dass infolge der ungenügenden
Anzahl der Deputierten das Tribunal nicht tagen
könnte. Mein Bruder sagte: „Dafür seid ihr verant-
wortlich." Sie Hessen ein Manifest aufsetzen, um den
Grund für das NichtZustandekommen des Tribunals
festzulegen.
Wir gingen alle zusammen die Kastellanin von
Kaminsk besuchen; sie hatte auf der Orgeltribüne
persönlich diesem für eine Frau so wenig entsprechen-
den Schauspiel beigewohnt; jetzt war sie damit be-
Tataren sind die Abkömmlinge jener, welche Witold, der
Grossfürst von Litauen, Anfang des i5. Jahrhunderts nach
Bessarabien und Litauen verpflanzt hatte, wo sie die pol-
nischen Sitten und auch die Sprache übernahmen und sich
nur ihre mohammedanische Religion bewahrten. Sie sind im
allgemeinen ruhige Bürger und ausgezeichnete Soldaten.
42
sehäftigt, mit Hilfe eines halben Dutzends von Nich-
ten und Kammerzofen, alles sehr schönen Mädchen,
Hunderten von Anhängern ihres Bruders die Pokale
mit Ungarwein zu füllen. Sie empfing uns mit der
grössten Höflichkeit, sagte jedoch halblaut nach allen
Seiten, es sei schade, dass die Sache nicht vollendet
wurde.
Am nächsten Tage verliessen alle Piotrköw in der
unruhigen Erwartung, welche Folgen dieses neuer-
liche Exempel, dass Polen ein ganzes Jahr lang des
obersten Gerichtshofes beraubt sein sollte, nach sich
ziehen würde. Es ereignete sich jedoch nichts von
Bedeutung; die öffentliche Sicherheit wurde nicht
gestört, und man erwartete, ohne weitere Schritte zu
unternehmen, die Ankunft des Hofes erst im Mai des
Jahres 17JO. Dies beweist einerseits, wie gutmütig die
Nation ist, und andererseits, dass sich trotz der wun-
dersamsten Vorfälle nichts ereignet, wenn eine Nation
nicht, wie die Engländer sagen, für eine Revolution
reif ist.
Da dies meine erste politische Kampagne war, das
Ereignis ebenso unerhört wie stürmisch und ich als
erster die Nachricht davon nach Warschau brachte,
hielt ich mich für eine bedeutende Persönlichkeit, die
wenigstens in den ersten Augenblicken von jedem mit
ebensoviel Aufmerksamkeit und Interesse angehört
werden musste, wie von meinen Eltern, die mich so-
fort zum Grafen Wielopolski schickten, um ihm Be-
richt zu erstatten. Er war Grossfähnrich der Krone,
ein damals durch seine Geburt, seine Rechtschaffen-
heit, seine Vorliebe für die Wissenschaft und seine
Beziehungen sehr angesehener Mann. Durch seine
Frau, die Schwester der Grosshetmanin Potocka, mit
43
den Mniszechs verschwägert, hatte er in beiden Häusern
viel zu sagen, und er wurde allgemein als ein unpar-
teiischer und redlicher Mann angesehen; aber er liebte
seine Ruhe und seine Vergnügungen über alles. Als ich
zu ihm kam, stimmte er gerade seine Violine (er spielte
übrigens recht schlecht), um mit dem Bankier Tepper
ein Duo zu spielen. Gleich bei meinem Eintritt sagte
ich ihm, ich käme aus Piotrköw und es gäbe kein
Tribunal. Er antwortete: „Warte, liebes Kind, warte,"
spielte die Sonate und hörte erst dann meinen Bericht
an. Ich traute nicht meinen Augen noch meinen Ohren ,
mir ist es noch nie gelungen, in ähnlichen Fällen so
viel Gleichmut zu bewahren, aber die Erfahrung hat
mich gelehrt, dass das Alter und die Gewöhnung an
Geschäfte den Eindruck selbst der grössten Neuigkeiten
abschwächen.
Der Hof war in Sachsen. Schon deswegen beeilte
man sich nicht, für diese Unterbrechung des Reelits-
zustandes Abhilfe zu schaffen. Da jedoch das Exem-
pel zu gefährlich war, gab man vor, sich damit ernst-
haft zu beschäftigen, und beschleunigte aus diesem
Grunde die Ankunft des Königs im Jahre iy5o um
einige Monate. Gewöhnlich kam der König in den
Reichstagsjahren erst im August nach Polen. In diesem
Jahre kam der König im Mai, und der gewöhnliche
Reichstag, der im Oktober hätte tagen sollen, wurde
in einen aussergewöhnlichen umgewandelt und zwei
Monate früher festgesetzt. Ich glaube, Brühl hoffte im
Grunde seiner Seele, er würde aufgelöst werden,
sollte er jedoch wirklich als ausserordentlicher Reichs-
tag tagen, dann durfte er nicht länger als zwei Wochen
währen. Auf alle Fälle plante Brühl, seinen Herrn
in jenem Jahre zur Jagdzeit nach Hubertusburg in
44
Sachsen zurückzubringen, was ihm auch gelang; dies
sollte ihm der König als neues Verdienst anrechnen,
da er sonst dieses Vergnügen (für ihn das höchste) in
den Jahren, die er in Polen zubrachte, entbehren
musste.
Aber noch vor der zur Zusammenberufung des
Reichstags angesetzten Zeit liess man mich eine Reise
nach Rerlin unternehmen. Meine häufigen und recht
heftigen Erkrankungen bewogen meine Eltern, dem
Rate des Grafen Kayserling zu folgen; er war damals
bereits zum zweitenmal russischer Gesandter in Po-
len; Avährend seiner ersten Gesandtschaftszeit hatte
er sich sowohl die aufrichtige Freundschaft meiner
Familie erworben, als auch die Achtung und das all-
gemeine Wohlwollen der ganzen Nation. Er hatte sich
daran gewöhnt, sich besonders mit mir zu beschäftigen,
seitdem es ihm im Jahre 1 744 durch beinahe schon
lästige dringende Ritten gelungen war, von meinen
Eltern die Erlaubnis zu erhalten, mich in der Logik
zu unterweisen ; das Studium der Logik und der Ma-
thematik waren seine tägliche Lieblingsbeschäftigung.
Die Aufgaben seines Amtes erlaubten ihm nicht, mir
regelmässigen Unterricht zu geben, er sah mich aber
seit jener Zeit immer als seinen Schüler an, und das
trug in grossem Masse mit dazu bei, dass er stets, bis
zu seinem Tode, mit grösstem Eifer für mich tätig war.
In der Zeit, von der ich gerade spreche, war Graf
Kayserling voller Verehrung für den Doktor Lieber-
kühn, den er in Rerlin kennen gelernt hatte. Er be-
hauptete, dieser allein könnte mich kurieren ; der wohl-
verdiente Ruf dieses Arztes und die damit verbundene
Gelegenheit, mich Rerlin sehen zu lassen, bewogen
meine Eltern, mich dorthin zu schicken. Sie empfahlen
45
mich dort dem sächsischen Minister von Bülovv, einem
Kurländer von Geburt, ihrem alten Freund. Die Heil-
mittel, die mir Lieberkühn in Berlin verordnete, waren
der Gebrauch der Egerquelle und seifenhaltiger Pillen
nach seinem Rezept. Diese Pillen verhinderten meh-
rere Jahre hindurch die Folgen der Magenkrämpfe,
an denen ich litt. Die Infektions- und anatomischen
Versuche, mit denen sich Lieberkühn erfolgreich be-
schäftigte, vergnügten und belehrten mich während
der Zeit meiner Kur.
Das Ansehn, das Herr von Bülow mit Recht in
Berlin nicht nur im Privatleben genoss, sondern —
was bei einem fremden Minister eine Seltenheit war —
auch beim König von Preussen selbst, verschaffte mir
alle Vergnügungen, die unter der Regierung Fried-
richs II.1) einem Fremden in Berlin zugänglich waren.
Die Höfe der Königinmutter und der Königin teilten
sich zweimal wöchentlich in die Pflichten der Etikette,
angesehene Fremde, die Damen des Landes und jene
kleine Anzahl von Untertanen des Königs von Preussen,
welche nicht Militärs waren, zu empfangen; diese
nämlich haben, von der Ausübung ihres Berufes stän-
dig ganz in Anspruch genommen, keine Zeit für ge-
sellschaftlichen Verkehr, und man erzählte mir, der
König von Preussen selbst, der auf das genaueste über
die Konduite eines jeden seiner Offiziere unterrichtet
ist, sähe es nicht gerne, wenn sie viel in Gesellschaft
verkehrten.
Dies und die Strenge des Dienstes, dessen Stunden-
einteilung schlecht mit jener der Damen harmoniert,
bewirken, dass in der Tat die Mehrheit der preus-
*) Anm. des Königs: Das habeich vor dem Tode Friedrichs II.
geschrieben.
46
sischen Offiziere sich aus Langeweile dem Trünke
und der Schwelgerei hingeben und eine lärmende und
anstössige Ungeschliffenheit annehmen. Ein Teil von
ihnen jedoch, der am Hofe ihres Herrn immer wie-
der von Voltaire gehört hat und seine Vorliebe für
die französische Sprache und Literatur kennt, beschäf-
tigt sich mit dieser Art Lektüre, und verschiedene von
ihnen vereinen die gefälligste Kultur des Geistes und
der Sitten mit der eifrigsten Betätigung der Kriegs-
kunst. In Polen gibt es einen Mann dieser Art, den
General Cocceji.
Da das Benehmen der Frauen in Polen damals im
allgemeinen viel zurückhaltender war, als es heute
ist, war ich über das Benehmen der Frauen in Berlin
erstaunt: es schien mir, als verlieh den meisten von
ihnen die Voltairomanie, der man mehr zum Schein
als aus Neigung huldigte, und ihre kühnen Redens-
arten, die sie für Beweise grosser Geistesschärfe hielten,
einen gekünstelten Ausdruck, als wollten sie viel freier
erscheinen als sie wirklich waren; vielleicht rührt das
alles ursprünglich nur von dem Impuls her, den die
Schriften und Reden des Philosophen von Sans-Souci
verursacht hatten.
Er hielt sich in Preussen auf, als ich in Berlin an-
kam, und kehrte erst drei Wochen später dorthin zu-
rück; ich habe ihn zweimal gesehen: er hat mich
beidemal angesprochen. Ich fand, dass er verlegen
war und sich verpflichtet fühlte, immer besser zu
reden als die anderen, und fürchtete, es könnte ihm
misslingen. Der Blick sehr unruhig, die Augen ver-
stört, die Haltung unsicher, die Kleidung unsauber
und die ganze Gestalt wenig edel. Ich habe oft an-
dere Leute sich genau so über ihn äussern gehört,
47
doch sind das bloss Äusserlichkeiten. Es ist hier weder
der richtige Ort noch ist es meine Absicht, ein er-
schöpfendes Porträt dieses Fürsten zu malen. Ich habe
alltäglich in Berlin seine Untertanen jeden Standes
und jeden Ranges viel Schlechtes laut über ihn spre-
chen gehört, was ihm auch ganz genau bekannt gewe-
sen sein soll und woran er sich so gewöhnt hatte, dass
es ihn in keiner Weise berührte.
Vor seiner Rückkehr aus Preussen habe ich Char-
lottenburg, Potsdam, das kleine Palais von Sans-Souci
gesehen und das Zimmer, das er bewohnte und in dem
er für gewöhnlich arbeitete. Es erschien mir in grösster
Unordnung: Bücher und Schriften durcheinander ver-
streut, überall, nach allen Seiten, Verse von des Königs
eigener Hand geschrieben, eine Unmenge Möbel bunt
durcheinander; die Frauen, die damit betraut sind,
den Fremden die königlichen Paläste dieses Landes
zu zeigen und die man dort Kastellaninnen nennt,
sagten mir, sie hätten strengen Befehl, jedes Ding ge-
nau an derselben Stelle zu lassen, an der sie es vor-
gefunden, als der Herr fortging; so sah ich in Char-
lottenburg den Kopf einer Marmorbüste des Julius
Cäsar unter einem Kanapee, und die Kastellanin ver-
sicherte, sie würde ihn nie von dort entfernen.
In allen Schlafzimmern des Königs von Preussen
sah ich ein für die Gestalt des Königs passendes ge-
sticktes Wams von kostbarem Stoff, man versicherte
aber, er zöge es nie an. Dieses Wams fiel mir auf,
weil es absichtlich dort hingehängt zu sein schien und
einen vollkommenen Widerspruch zu der Vorstellung
bildete, die man sich von dem Morgenrock eines Krie-
gers und Philosophen macht.
In seinem Schlafzimmer in Sans-Souci sah ich zwei
48
AVGVSTYS n mxwwsvk
kleine genau gleiche Betten, nahe beieinander auf-
gestellt; in Berlin waren über den Gebrauch dieser
zwei Betten verschiedene Gerüchte im Umlauf, aber
die Kastellanin sagte mir, der König lege sich von
einem Bett ins andere, sobald es ihm zu heiss werde;
und doch liebt er die Hitze; das Zimmer, welches er
im Sommer bewohnt, liegt nach Süden, und es gibt
fast keinen einzigen Tag im Jahr, an dem nicht in
seinem Kamin ein Feuer brennt; man hat mir sogar
erzählt, dass jene, die er aufsein Zimmer ruft, oft vor
Hitze fast ohnmächtig werden. Ich habe die Schränke
seiner Bibliothek in Sans-Souci gesehen, die Kastella-
nin sagte aber, sie besitze die Schlüssel nicht. Die
Kuppel dieses kleinen Palastes, ganz aus auserlese-
nem Marmor, durch ein rundes Fenster oben in der
Decke erleuchtet, und der Merkur von Pigalle im
Garten sind die zwei schönsten Dinge, die ich dort
gesehen habe.
Da es nicht meine Absicht ist, über die kuickerige
Armseligkeit zu sprechen, in der die Königin und ihr
ganzer Hof gehalten werden, noch über den strengen
Zwang, dem sich das ganze Leben der Brüder des
Königs unterwerfen muss, noch so manche Dinge über
seine Truppen und seine Finanzen zu sagen, die schon
andereüber Berlin gesagt haben und die bekannt genug
sind, begnüge ich mich zu bemerken, dass ich in Berlin
die Bekanntschaft des Chevalier Charles Hambury
Williams machte, des damaligen britischen Gesandten
am Hofe des Königs von Preussen, der mich bereits
damals mit vielen Höflichkeiten überschüttete und
mir später grosse Freundschaft bezeugte.
Während meines Aufenthalts in Berlin heiratete
der Hofmarschall Mniszech die Tochter des Grafen
4 Poniatowski 4 9
Brühl. Graf Brühl hatte sie meinem Bruder, dem Gross-
kämmerer, angetragen, dieser hatte jedoch gesagt:
„Wir sind schon Ihre Freunde. Geben Sie Ihre
Tochter Mniszech, dann werden Sie die Potockis und
die andere Hälfte Polens für sich gewinnen."
Meinem Bruder lag damals jeder Gedanke an eine
Heirat fern, weil ein Herzensbündnis ihn ganz im
Banne hielt, und das war die wirkliche Ursache jener
Worte, deren Wirkung nicht ausblieb.
Mniszech wurde von seinen Freunden fast gegen
seinen Willen bestimmt, der Schwiegersohn des Günst-
lings zu werden, der noch einige Zeit die guten Be-
ziehungen zu meiner Familie aufrechterhielt, da Mni-
szech anfänglich sehr gemässigte Absichten in bezug
auf die Gunst und den Einfluss äusserte.
5o
DRITTES KAPITEL
ZUM ERSTENMAL LANDBOTE. — URSACHE DER
AUFLÖSUNG DES AUSSERORDENTLICHEN REICHS-
TAGS VOM JAHRE i 75o. — MEINE BEZIEHUNGEN
ZU WILLIAMS WERDEN INNIGER. — MEINE REISE
NACH SACHSEN. — BESCHREIBUNG DES AUFENT-
HALTS IN HUBERTUSBURG.— ERSTE ERWÄHNUNG
DER GRÄFIN BRÜHL. — MEINE ERSTE REISE NACH
WIEN. — DAS HAUS DIETRICHSTEIN.— DAS HAUS
HARRACH. — VON ZINZENDORF. — GRAF FIR-
MI AN.— PRINZ JOSEPH WENZEL LICHTENSTEIN.—
LUCHESI. — DIE PRINZESSIN VON SAVOYEN. —
FRÄULEIN KOTULINSKA. — RÜCKKEHR NACH PO-
LEN. _ LUBNICE. — SKIZZE EINES PORTRÄTS DES
FÜRSTEN CZARTORYSKI. — SEINE ERSTEN GUNST-
BEZEUGUNGEN. — SEIN PORTRÄT NACH DEN
AUSSAGEN MEINER MUTTER UND MEINEN EIGE-
NEN BEOBACHTUNGEN. — BILD MEINER FAMILIE
BIS ZUM JAHRE 1762. — PORTRÄT MEINES VA-
TERS. — ALS KOMMISSAR IN RADOM. — ERSTE
REISE NACH FRAUSTADT. — MEIN LANDTAG
VON LOMZA.
Nach zweimonatlichem Aufenthalt in Berlin kehrte
ich nach Warschau zurück, rechtzeitig genug,
um als Landbote gewählt zu werden. Das erstemal
in meinem Leben geschah dies auf dem Landtag von
Zakroczym, nach dem zweiten Rundschreiben (Uni-
versal) 1). Ich wurde also zusammen mit Szydlowski,
dem heutigen Kastellan von Masowien, zum Boten ge-
wählt, und damit nichts von den Sitten und Bräuchen
jener Zeit fehlte, gab es bei dem Mahl, das der Wahl
folgte, einen Streit und gezückte Säbel.
Der Reichstag begann am . . . 2). Die Gutgesinnten
hofften, er würde dem Übel stand, wegen dessen er
zusammenberufen wurde, abhelfen, das heisst der
Nichtkonstituierung des Tribunals. Der Woiwode von
Ruthenien gab dem Hofe den Rat, Rzewuski solle auf
seine podolische Woiwodschaft verzichten und sich,
wie es auch wirklich geschah, im Gebiete von Chelm
zum Landboten wählen lassen in der Absicht, Reichs-
*) Anm. d. Königs: Wenn die ersten Landtage zur Wahl der
Landboten aufgelöst wurden, stand dem König das Recht zu,
zweite und sogar dritte Landtage festzusetzen. Der Zeitpunkt
für die gewöhnlichen Landtage war sechs Wochen nach Ver-
öffentlichung des Universals (des fürstlichen Rundschreibens),
für die ausserordentlichen Landtage vier Wochen.
2) Lücke im Manuskript.
52
tagsmarschall zu werden. Der Autor dieses Ratschlags
glaubte, diesem Manne, dem im Jahre 1 736 als Reichs-
tagsmarschall der Pazifikationsreichstag geglückt war
und der sich später dem ständigen Studium der müh-
samsten Praktiken der Popularität hingegeben, würde
das Glück auch in der zweiten Marschallszeit hold blei-
ben. Aber die Partei der Potockis erblickte in ihm
nur den Mann, der damals als Anhänger des Woi-
woden von Ruthenien galt und dessen zeremonielle,
überaus demütige, beinahe unterwürfige Höflichkeit
nur die Maske eines weitgehenden Ehrgeizes war.
Ausserdem gab diese Wahl den Potockis den Vor-
wand, gegen eine angebliche Beleidigung des Rit-
terstandes aufzutreten ; als hätte es in dieser ganzen
grossen Körperschaft keinen einzigen gegeben, der
fähig gewesen wäre, den Posten eines Reichstagsmar-
schalls zu bekleiden, als wäre es nötig gewesen, in
Ermanglung sich an den Senatorenstand zu wenden
und dadurch ein neues, zweckloses und wahrschein-
lich nur deshalb erdachtes Exempel zu geben, um die
gefährlichen Absichten zu verdecken. Der Hass der
beiden Parteien offenbarte sich lebhaft auf beiden
Seiten; die Dinge gingen so weit, dass der alte Gross-
kronhetman Potocki annahm oder anzunehmen vor-
gab, der Woiwode von Ruthenien hätte den Rat ge-
wagt, ihn festnehmen und nach Königstein bringen
zu lassen, wie es den beiden Söhnen Johann Sobies-
kis auf Befehl Augusts II. ergangen war.
Ich kann weder die Wahrheit noch die Falschheit
dieser Vermutung bezeugen, aber mehrere einfluss-
reiche Persönlichkeiten glauben es auch heute noch.
Sicher ist, dass der alte Potocki am Vorabend des
Tages, der angeblich für seine Gefangennahme be-
53
stimmt war, allen Truppen, die ihm in Warschau zur
Verfügung standen, befahl, die Patronentaschen zu fül-
len und die Waffen zu laden. Bekanntlich kam damals
ein Grosskronhetman niemals nach Warschau und
reiste niemals im Lande umher, ohne von einigen Hun-
dert Soldaten der Republik oder von ihm selbst be-
soldeten Soldaten eskortiert zu sein; am nächsten
Tage wurde er nicht festgenommen, aber nach einem
zwecklosen Disput, den man mehrere Tage über die
Wahl des Marschalls geführt hatte, sprengte ein
Landbote von Beiz, Wydzga mit Namen, ein Anhän-
ger der Potockis, den Reichstag durch ein formelles
Manifest.
Die Gründe der Auflösung dieses Reichstags waren
folgende: die Umstände der Demission Rzewuskis;
der Tadel, den die Potockis fürchteten, falls dieser
Reichstag Erfolg haben sollte (der doch einzig und
allein nur deshalb zusammenberufen wurde, weil sie
die Zusammensetzung des Tribunals verhindert hat-
ten); der gewisse Erfolg der Gegenpartei, den sie da-
durch zunichte machten; die Pläne ihrer Rivalen;
endlich, dass alle diese Motive von einem französi-
schen Hauch inspiriert waren. Zum Unglück wurde
dieses Exempel bei allen folgenden Reichstagen wäh-
rend der Regierungszeit Augusts HI. nachgeahmt.
Diesmal beschränkte sich der Ausbruch der bür-
gerlichen Zwietracht auf diesen Akt selbst. Rzewuski
empfing seine Senatorenwürde und seine podolische
W'oiwodschaft durch ein neues Privilegium l) aus den
Händen des Königs zurück, und wenige Monate spä-
a) Anm. des Königs: Man nennt in Polen Privilegium alle
vom König signierten Patente, durch die er irgend eine Gnade
oder Würde erteilt.
54
ter, als der September und damit der Zeitpunkt der ge-
wöhnlichen Landtage heranrückte, folgte das Tribunal
von 1 75o dem von 1 748, ohne dass die Unterbrechung
dieses höchsten Gerichtshofes im Jahre 1749 irgend
einen fühlbaren Nachteil mit sich gebracht hätte,
ausser, dass die Nation dadurch an eine neue Unord-
nung gewöhnt wurde. Vielleicht hätte man wünschen
sollen, dass irgend ein plötzliches Unglück uns aus
dieser Lethargie herausgerissen hätte, worin die
Mehrzahl unserer Mitbürger verfaulten in der Mei-
nung, sie hätten nichts anderes zu fürchten als nur
die Einführung der Pluralität.
Der Misserfolg dieses ausserordentlichen Reichsta-
ges diente dem Hofe als Vorwand, sich der Mühe des
ordentlichen Reichstages, der auf dieses Jahr fallen
sollte, zu entledigen, und kurze Zeit darauf kehrte
der Hof nach Sachsen zurück.
Während seines Aufenthalts in Polen gestalteten
sich meine Reziehungen zum Chevalier Williams in-
timer und trugen sehr dazu bei, mir in der grossen
Welt das Ansehen eines reifen Mannes zu verschaffen,
woran mich bis jetzt mein Alter und meine sehr
kleine Gestalt, welche sich erst in diesem Jahre durch
ein plötzliches Wachstum entwickelte, gehindert hat-
ten. Als Williams dem Hofe nach Dresden folgte,
wollte er eine chiffrierte Korrespondenz mit mir auf-
rechterhalten über die Angelegenheiten, die für meine
Familie von Interesse sein könnten. Diese Rekannt-
schaft war eines der Motive, welche meine Eltern be-
wogen, mich im darauffolgenden Herbst nach Sach-
sen zu schicken.
In diesem Winter wohnte ich der Hochzeit meines
Bruders bei, welche dem Reichstage von 1760 folgte;
55
seine Heirat kam ganz plötzlich und recht unerwar-
tet zustande, er vermählte sich mit Fräulein Ustrzycka,
der Tochter des Kastellans von Przemysl. Im Som-
mer nach seiner Heirat begleitete ich ihn auf all sei-
nen Reisen durch ganz Polen, welche er unternahm,
um seine Frau unserer ganzen Familie vorzustellen;
hierauf reiste ich nach Sachsen, um dem König meine
Aufwartung zu machen. Ich traf ihn in Leipzig an,
bei der Michaelismesse; während der wenigen Tage
seines dortigen Aufenthalts bereitete ich meine Jagd-
ausrüstung für Hubertusburg vor.
Dort repräsentierte der König von Polen August III.
mit dem grössten Aufwand, dort war er am glück-
lichsten. Seine ganze Familie versammelte er dort,
alle fremden, an seinem Hof residierenden Minister
folgten ihm dorthin, auch alle bürgerlichen und
militärischen Würdenträger seines Staates und alle
irgendwie angesehenen Fremden, die sich zur Zeit
der Jagdsaison in Dresden aufhielten. All diese Leute
wurden vom König untergebracht, bewirtet und aus-
gehalten, und das Leben, das man in Hubertusburg
führte, konnte wirklich köstlich genannt werden.
Um acht Uhr morgens erschien der König, um sich
zur Messe zu begeben. Um halb neun folgte man ihm
als seine Suite in seinen Wagen zum Jagdrendezvous,
wo im Schatten der Bäume ein üppiges Frühstück auf-
getischt wurde, das gleich auch als Mittagsmahl diente ;
dann stieg man zu Pferde, um ein, zwei oder auch drei
Hirsche bei einer Jagd einzulangen. Die Hofuniformen
in Gelb, Blau und Silber, die Schönheit der Pferde, die
vielen Kaleschen mit den zur Suite der Königin gehö-
renden Damen und vor allein die wundervolle Schön-
heit des Forstes, der drei Meilen im Durchmesser misst
56
und von vierundzwanzig schnurgeraden, rechtwinklig
sich schneidenden Wegen durchquert wird, machte
dieses Vergnügen wirklich zu einem Feste selbst für
jene, die keine passionierten Jäger waren.
Die passionierten Jäger verfolgten mit Begeiste-
rung, geführt von den Söhnen des Königs; die weni-
ger eifrigen wie ich gesellten sich zum Grafen Brühl,
der zwar niemals dicht hinter den von geschickten
Jägern geführten Hunden folgte, dennoch ohne sich
jemals überanzustrengen und stets auf den besten
Wegen zum Tod des Hirsches zurechtkam. Das war
die einzige Beschäftigung, bei der sich Graf Brühl
nicht ständig in nächster Nähe der Person des Kö-
nigs befand, der mit der Königin in einer Kalesche
der Jagd folgte. Während der Jagd, vor allem wäh-
rend einer glücklichen Jagd schien der König sich
selbst unähnlich: lustig, entgegenkommend, gesprä-
chig, so dass alle, die damals leichten Zutritt hatten,
beinahe zweifelten, es könnte derselbe stolze, ernste,
schweigsame König sein, den man sonst stets nur
von einer strengen, fast jede Annäherung verhin-
dernden Etikette umgeben sah.
Gewöhnlich kehrte mau zwischen vier und fünf
Uhr nachmittags von der Jagd zurück. Man hatte
eine Stunde Zeit, um sich auszuruhen und umzuklei-
den. Dann begab man sich ins Theater, wo die Jagd-
musik aufspielte, herrliche Stimmen zu hören und
prächtige Balletts zu sehen waren. Dann soupierte
man mit dem König an einer riesengrossen Tafel in
einem hellbeleuchteten, prachtvollen Saal; alle Gäste,
Damen und Herren, waren dort in ebenso reichen
wie schönen Trachten. Nach dem Souper, gegeu
neun Uhr, zog sich der König zurück und man be-
57
gab sich in die Gemächer des Thronfolgers, dessen
Gemahlin, Antonie von Bayern, obgleich sehr häss-
lieh, doch alle durch ihre Konversation und ihre
Stimme entzückte; fast jeden Tag wurde bei ihr vor-
trefflich musiziert.
Gegen zehn Uhr verabschiedete man sich und be-
gab sich dann zur Gräfin Brühl. Wer immer diese
Frau gekannt hat, muss zugeben, ein erster Minister,
ein Günstling hätte keine andere finden können, die
befähigter gewesen wäre, ihm Freunde zu schaffen
oder zum mindesten den Neid und die Eifersucht zu
verscheuchen, die ein Mann in ähnlicher Stellung
und vor allem ein Graf Brühl fürchten musste. Da
innige Freundschaft meine Mutter mit ihr verband,
genoss ich in ihrem Hause alle Rechte eines Sohnes.
Die Abwesenheit ihres Schwiegersohnes, die bereits
einige Monate dauerte, schien ihre Tochter, Madame
de Mniszech, sehr zu beunruhigen, und ich fand mit so
vielen anderen, dass ihr Gatte ihr dadurch grosses Un-
recht zufügte, noch mehr aber sich selbst schadete.
Das Haus der Gräfin Brühl verliess ich gewöhn-
lich kurz vor Mitternacht zusammen mit dem Che-
valier Williams, dem Grafen de Salmour1) und dem
Gesandten von Holland Kalkoen, um bei einem von
ihnen noch eine Stunde oder mehr zu verbringen
und unter Lachen und Scherzen alle Ereignisse des
Tages zu besprechen. Dieses lustige Leben währte
]) Anm. des Königs: Salmour, ein Piemontese, Neffe jenes
Salmour, der Gouverneur des Thronfolgers gewesen war,
ein junger, sehr liebenswürdiger, lustiger, sehr gebilde-
ter Mann, der damals in die Comtesse Lubieriska, meine leib-
liche Cousine, erstes Ehrenfräulein der Königin, sehr verlieht
war: später hat er sie geheiratet.
58
sechs Wochen. Ich war gesund, hatte zwar nicht viel
aber genügend Geld, keine Sorgen, wohnte zu einer
schönen Jahreszeit an einem schönen Orte in sehr
guter Gesellschaft, war beinahe verliebt aber in kei-
ner Weise ausschweifend; ich kam nur mit Leuten
zusammen, die zufrieden schienen und keine andere
Beschäftigung hatten als das Amüsement; in meinem
ganzen Leben war ich nie so glücklich wie während
dieser sechs Wochen. Als sie aber vorbei waren, da
waren mit ihnen auch meine guten Zeiten dahin.
Ich bekam Befehl von meinen Eltern, Sachsen zu
verlassen und mich nach Wien zu begeben. Gräfin
Brühl, die dort grosse Beziehungen hatte, Gräfin Stern-
berg, eine geborene Starhemberg, die Frau des Wie-
ner Ministers an unserem Hofe, und der Chevalier
Williams gaben mir viele Briefe mit; ich langte ge-
gen Ende des Jahres 1701 in Wien an; neunzehn
Jahre war ich alt, hatte keinen Mentor und auch nie-
manden, der mich wie Williams und die Gräfin Brühl
in Sachsen beraten hätte.
Wien war für mich eine neue Welt und machte
auf mich grösseren Eindruck denn alles, was ich bis
dahin gesehen. In Sachsen fühlte ich mich beinahe
zu Hause; in den Gesellschaften Berlins scheint man
ein wirkliches Bedürfnis nach Fremden zu haben;
an den anderen Orten, die ich bei meiner ersten
Reise berührt hatte, fand ich fast überall Freunde
meines Vaters, deren Aufnahme mir Mut einflösste.
Nichts von alledem kam mir in Wien zu Hilfe.
Dort sah ich einen grossen, majestätischen Hof,
von dem niemand schlecht zu sprechen wagte; eine
Menge sehr reicher, sehr pomphafter und im allge-
meinen sehr kühler, unzugänglicher Privatleute. Fast
59
alle Frauen züchtig und Fremden gegenüber wenig
zuvorkommend; die prüden Grundsätze der Kaiserin,
welche in jeder Weise tief verehrt wurde und deren
fast einziger Fehler sich damals in den zu genauen
Recherchen über die Sitten ihrer Untertanen äusserte,
waren sicherlich der Hauptgrund hierfür; all das zu-
sammen fiösste mir Respekt ein, brachte mir jedoch
manchen Zwang und Langeweile. Ich setzte meine
Ehre darein, in den ersten und besten Häusern Wiens
Erfolg zu haben; zunächst brachte mir das die un-
umgängliche und furchtbar langweilige Notwendig-
keit ein, Karten zu spielen und zwar Kommersspiele;
auch war die Konversation derjenigen, die ich bis da-
hin kannte, so unähnlich, dass ich mich anfänglich
oft verlegen fühlte; endlich aber setzte ich mich durch
und knüpfte einige Beziehungen an.
Die wohlwollende Aufnahme, die ich im Hause
Dietrichstein fand, verdankte ich meiner Qualität als
Neffe des Woiwoden von Ruthenien, dessen intime
Freundin die Prinzessin war. Die Gräfin Rosa Har-
rach, die Frau und Nichte des Präsidenten des Hof-
rats, „Königin der Engländer" genannt, nahm mich
dank meiner Empfehlung durch Williams sehr wohl-
wollend auf. August Suikowski, der älteste Sohn des
Exgünstlings Augusts III., seit langem in Wien in
alles eingeweiht, war mir behilflich, sogenannte Be-
kanntschaften anzuknüpfen.
Hierher gehört die Bekanntschaft des Komman-
deurs von Zinzendorf, dessen Existenz in Wien um so
mehr auffiel, als er damals fast der einzige war, der
ohne am Hof schlecbt angeschrieben^ zu sein sich in
Reden und Gebaren ganz wie ein alter französischer
Libertin benehmen durfte; schwer gichtleidend, sehr
60
gebildet, sehr mitteilsam, gelang es ihm oft, durch
seine Konversation die Gesellschaft zu belehren und
gleichzeitig zu unterhalten; um die Gunst, mit dem
alten, auf einer Chaiselongue liegenden Kommandeur
sprechen zu dürfen, bewarben sich damals selbst
Damen der höchsten Gesellschaft und Männer aller
Stände. Dem Ruf dieses seltsamen Mannes haftete
mancher merkliche Makel an, doch seine Beliebtheit
oder sein Glück liessen sie vergessen oder ignorieren.
Ein anderer Mann von sehr strengem Ausseren,
dessen Milde und Weisheit ich kennen lernen durfte,
war Graf Firmian, derselbe, der später das Herzog-
tum Mailand für Osterreich regierte.
Auch der Graf de Canal, der Gesandte des Königs
von Sardinien, nahm mich sehr wohlwollend auf;
dreizehn Jahre später sollte er mir am Wiener Hofe
von sehr grossem Nutzen sein 1).
Bei ihm traf ich den Fürsten Joseph Wenzel Lichten-
stein, der einst im Gespräch mit Maria Theresia den
Ausdruck gebrauchte: „Eure Artillerie, Madame,"
und von der Kaiserin unterbrochen wurde: „Sagen
Sie Ihre Artillerie, denn Sie sind nicht nur ihr Feldzeug-
meister, sondern auch ihr Schöpfer."
In der Tat behauptet man, dass er den grössten
Teil seiner unermesslichen Einkünfte hierfür ver-
wandt habe. Er gilt als der reichste und freigebigste
Untertan des österreichischen Hauses; man beschul-
digt ihn nur der Prahlsucht: obwohl von anerkann-
*) Anm. des Königs: Er war damals sehr angesehen als
ein Mann von grosser Routine und Gewandtheit in seinem
Amte, als eifriger Gelehrter, der durch seine Verheiratung
mit einer Dame aus dem ungarischen Hause Pälffy nützliche
Beziehungen erlangt hatte.
61
ter Rechtschaffenheit, liebte eres, aussergewöhnliche
Dinge zu erzählen, für die niemand hätte garantieren
wollen, denen jedoch keiner widersprach, weil sie
harmlos waren und niemanden schädigten. Äusserst
tapfer, erfolgreicher General, der die Schlacht von
Piacenza gewonnen, führte er dennoch oft bramarba-
sierende Redensarten.
Im Hause der Gräfin Harrach lernte ich den Grafen
Luchesi kennen, einen Sizilianer von Geburt und
General der Kavallerie in österreichischen Diensten,
der fünfzigjährig sich mit seinem afrikanischen Ge-
sicht, seiner seltsamen Sprache und absichtlich bi-
zarren Redensarten und bizarrem Renehmen noch
alle Wiener Damen unterjocht und sich besondere
Rechte in allen Wiener Gesellschaften, sogar bei
der Kaiserin selbst, erworben hatte; im Grunde
genommen erfreute er sich weder am Hofe noch in
der Stadt wirklicher Gunst, sondern er durfte sich
nur gewisse Freiheiten herausnehmen; dennoch war
er eine sehr unbequeme Persönlichkeit, weil die
schönen Frauen, die heiligsten sogar und die höchst-
gestellten — die er in seiner Sprache schöne Un-
geheuer nannte — , in seiner Gegenwart keinen
freundlich anzuschauen wagten, mit dem zu schmol-
len es ihm im Augenblick beliebte. Mit einem Wort,
er war eine Art gesellschaftlicher Despot, dessen
Tyrannei um so unerträglicher war, als sie sich auf
fast keinen reellen Titel stützte und vor allem nicht
auf den Wunsch, jemandem, sei es Mann oder Frau,
gefallen zu wollen. Seine Beliebtheit war jedoch
Mode geworden, seit er in den ersten Jahren der
Regierung Maria Theresias einige bedeutende Taten
verrichtet hatte, wofür er als Lohn entweder ein va-
62
kantes Regiment verlangte oder eiue Kokarde aus
Bändern, welche die Kaiserin trug. Diese ritterliche
Alternative, die er in einein Augenblick vorbrachte,
wo die Königin noch in Verlegenheit war wegen
eines früheren Versprechens, brachte ihm die Zusage
ein, das nächste Regiment zu erhalten, das frei würde,
und ausserdem das ausschliessliche Privileg, der
Kaiserin maurische Komplimente zu Füssen legen zu
dürfen. Der Krieg von i'jSG enttäuschte über seine
militärischen Fähigkeiten. Mich behandelte er einige
Male sehr liebenswürdig und offerierte mir sogar eines
Tages die Stelle eines Kornetts in einem Kürassier-
regiment für mich oder einen meiner Brüder. Das
bedeutete das non plus ultra seiner Gunst, und dieses
Anerbieten gab meinem Bruder den ersten Anstoss
für die Annahme des Dienstes und für den Ruf, den
er sich in Ausübung desselben später erwarb.
Unter anderen wurde ich auch im Hause der alten
Prinzessin Viktoria von Savoyen, der Nichte und Erbin
des berühmten Prinzen Eugen, vorgestellt; sie war
mit dem Prinzen von Sachsen-Hildburghausen, Feld-
marschall in österreichischen Diensten, vermählt ge-
wesen, hatte sich von ihm getrennt und hielt eigenen
Hof in dem von ihrem Onkel erbauten Palast. Als
Ebrenfräulein hatte sie zwei Schwestern, Gräfinnen
Kotulinskas, bei sich, die einer mährischen Familie
entstammten. Die ältere, Angelika mit Namen, wurde
von Kaiser Franz I. sehr geliebt, ohne dass man je-
doch später ihre Jungfernschaft deswegen anzwei-
felte; ich fand sie ausserordentlich schön und sehr
liebenswürdig, besonders seit sie mich einem schwe-
dischen, in österreichischen Diensten stehenden Offi-
zier vorzog, der sich um ihre Hand bewarb.
63
Dieser Umstand und zwei Besuche, die ich ihr
machte, bei denen aber ihre Schwester keinen Augen-
blick das Zimmer verliess, machten den Nuntius Ser-
belloni, einen Vertrauten des Hauses, glauben, ich
hätte diesem Fräulein Treue geschworen, was aber
nicht der Fall war. Er sprach darüber mit der Prin-
zessin von Savoyen und teilte es als Tatsache meinen
Eltern mit, die erkannte, da er früher Nuntius in Polen
war. Daraufhin schrieb mir mein Vater einen nieder-
schmetternden Brief, in dem er mir verbot, das Fräu-
lein je wiederzusehen, sollte die Mitteilung auf Wahr-
heit beruhen. Die Prinzessin von Savoyen verbot mir
ihrerseits das Haus. Das rief in mir den Wunsch wach,
meine Abreise von Wien zu beschleunigen, und ich
kehrte im April des Jahres 1762 nach Polen zurück.
Ich nahm meinen Weg über Mähren, das mir nach
den Niederlanden als das blühendste Land erschien,
welches ich je gesehen. Von dort führte mich mein
Weg über Krakau nach Lubnice, einem Landhaus in
der Woiwodschaft Sandomir, das dem Fürst- Woi-
woden von Ruthenien gehörte, den ich dort antraf.
Da er damals mich am meisten zu karessieren be-
gann, lernte ich diesen bedeutenden Mann näher
kennen, der später einen starken Einfluss in so man-
cher Beziehung auf mein ferneres Leben ausübte.
Es wäre wohl die beste Gelegenheit, hier sein Porträt
zu entwerfen. Aber es gibt tiefe Seelen, die man in
kurzer Zeit in keiner Weise völlig ergründen kann
und von denen man auf den ersten Anhieb kein
Porträt malen kann. Ich kann ruhig sagen, dass ich
den Woiwoden von Ruthenien wie ein Buch studiert
habe. Meine Kenntnis von ihm und meine Ansichten
über ihn erweiterten sich im Laufe der Ereignisse,
64
August Alexander Czartoryski, Woiwode von
Ruthenien
(Phot. Anderle, Krakau)
während meines langen familiären Verkehrs und durch
gemeinsame Angelegenheiten, und der Leser wird ihn
hesser kennen lernen, wenn er mit mir der Fortsetzung
dieser Geschichte folgt.
Hier muss erwähnt werden, dass der Woiwode von
Ruthenien stets die Maxime befolgte, sich junge Leute
zu attachieren, bei denen er auch nur das geringste
Talent zu entdecken wähnte oder irgend eine erwor-
bene oder zufällige Eigenschaft, und dass niemand es
so verstand wie er, der Eigenliebe des Betreffenden
zu schmeicheln, das Herz und den Geist eines ver-
trauensseligen Charakters zu gewinnen ; er hatte einen
beinahe magischen Einfluss, und wenn er es wollte,
so vermochte er den grössten Enthusiasmus für sich
zu entfesseln, ohne dass er sich darum zu bemühen
schien, ohne dass man in seinem Gebaren und seineu
Reden eine Absicht entdecken konnte, alles schien
einzig und allein seiner aufrichtigen Neigung zu ent-
springen; das glaubten vor allem jene, die noch keine
grosse Erfahrung hinter sich hatten.
Er nahm nun vor allem unbedingt an, dass ein
junger Mann, der von der ersten ohne Mentor unter-
nommenen Reise zurückkehrte, in Geldverlegenheit
sein müsse, und er bot mir Geld an. Vergeblich ver-
sicherte ich, ich hätte noch genügend, um mein
Vaterhaus zu erreichen; er jedoch sagte:
„Du bist mein Neffe und du wirst ein Geschenk
von mir nicht ablehnen; hier sind zweihundert Du-
katen, aber ich bitte dich, es niemandem zu sagen."
Ich erwiderte, dass er wohl das Recht hätte, mir
Geschenke zu machen, meine Eltern aber würden es
erfahren. Jetzt ging er anders zu Werke; er sprach
mir von ihnen, vor allem von meiner Mutter, im
"> Poniatowski t)5
liebevollsten Ton aber wie von Leid erfüllt wegen
jener Sache, die nach vierzigjähriger zärtlichster und
innigster Freundschaft zwischen meiner Mutter und
ihm das erste Zerwürfnis hervorgerufen, in der er die
Schuld jedoch nicht auf sich nehmen könnte. Bei dieser
Gelegenheit fügte er einige Worte über meinen Bru-
der, den Grosskämmerer, ein, über seine schwachen
Seiten, als wollte er zu verstehen geben, dass ich an
dessen Stelle nicht solches Unrecht begangen hätte;
dabei beteuerte er stets, dass er ihn liebte. Je mehr
ich mich von seinen Worten umgarnt fühlte, um so
mehr fürchtete ich, ich könnte meiner Mutter schuld
geben, die ich doch keiner Schuld für fähig hielt, vor
allem keiner solchen, bei der ihre Uneigennützigkeit
und ihre Wahrheitsliebe nur im geringsten hätten
verdächtigt werden können. Ich erinnere mich, dass
ich ihm ungefähr folgendes zur Antwort gab:
„Es ist mir unmöglich zu glauben, dass die Tat-
sachen anders sind, als meine Mutter sie mir berichtet
hat; ich glaube aber, ihr beide müsst die gleichen
Tatsachen von einem anderen Gesichtspunkt aus be-
trachtet haben. Ich kann meinen Bruder nicht schul-
dig finden; ist er doch in der Idee aufgewachsen, das
Krongarderegiment zu Fuss sei dir von meinem Vater
nur unter der Bedingung überlassen worden, dass du
es an seinen ältesten Sohn zurückgeben würdest, so-
bald er in die Jahre käme; es musste ihn schmerzen
als er sah, dass diese Hoffnung, die seinem Talent so
entsprochen hätte, fehlschlug. Aber ohne hier von dei-
nem Sohn zu sprechen — deine Zärtlichkeit für ihn ist
mir begreiflich, mein lieber Onkel — , finde ich, dass
diese Sache und noch zehn andere nicht das unschätz-
bare Gut eines so seltenen und musterhaften Verhält-
66
nisses trüben dürften, welches die Kraft unserer Familie
bedeutete und ihr zum Ruhme gereichte. Es wäre gut,
glaube ich, übereinzukommen, nie mehr von dieser
Sache zu sprechen und sie für immer zu begraben."
Er umarmte mich und schien über meine Auf-
fassung entzückt zu sein; ich blieb noch einige Tage
bei ihm; während dieser Zeit überzeugte er mich
vollends von seiner Achtung und Zärtlichkeit für
mich, und ich kehrte ganz von dieser Idee erfüllt nach
Warschau zurück, so dass meine Mutter es für nötig
hielt, mich vor der Verblendung durch meine Eigen-
liebe zu warnen, die hierbei genau so mitgespielt
haben mochte wie die Geschicklichkeit eines wirklich
sebr gewandten Mannes und der Einfluss, den dieser
auf einen aufrichtigen und in keiner Weise miss-
trauischen jungen Menschen ausüben musste. Sie er-
zählte mir die Geschichte ihres Bruders wie folgt.
Von Geburt an war sein Charakter cholerisch und
äusserst hochmütig, was sich bereits in seiner Kind-
heit in der heftigsten Weise äusserte; aber seinem
überlegenen Geiste gelang es, sich vom zwölften Le-
bensjahre ab so zu beherrschen, dass er sich völlig
verändert zu haben schien und jeder, der ihn nicht ge-
kannt und seine Entwicklung nicht verfolgt hatte, ihn
für einen in jeder Beziehung gemässigten Menseben
halten musste. Mit sechzehn Jahren schickte man ihn
mit seinem älteren Bruder und einem Mentor auf Rei-
sen. Er war geschickt und klug genug, die Eigenliebe
seines älteren Bruders zu schonen, indem er ihm in
allem nachzugeben schien, was jedoch den Bruder, der
heute Kanzler von Litauen ist, nicht hinderte, oft eifer-
süchtig zu sein, obwohl er sein ganzes Leben hindurch
die Vorrechte der Geburt sich oft zunutze machte.
5* 67
Bald trennten sie sich. Der jüngere blieb auf Malta,
nahm dasKreuz und begann ein abenteuerliches Leben
auf den Galeeren des Ordens. Einige Jahre später trat
er in österreichischen Dienst, machte einige Kam-
pagnen mit, unter anderen auch die denkwürdige
Schlacht von Belgrad im Jahre 1 7 1 8, die Prinz Eugen
gewann. Im österreichischen Dienste befreundete er
sich sehr mit dem berühmten Guido Starhemberg
und den Generälen de Merci und de Bonneval. Alle
angesehenen Frauen und Männer Wiens schätzten
und distinguierten ihn, nur gerade Prinz Eugen nicht,
denn er hatte nähere Beziehungen zu einer Anzahl
von Leuten, die der Prinz nicht mochte; dem Prinzen
Eugen ging es übrigens wie so vielen anderen be-
rühmten Kriegern aller Jahrhunderte, die, sobald sie
nicht Krieg führten, dem öffentlichen Tadel manchen
Vorwand boten. Guido Starhemberg, sein Rivale um
den Ruhm im Dienste der letzten Kaiser aus dem
Hause Osterreich, und noch mancher andere bestritt
ihm das Verdienst einiger Kriegstaten, bei denen in
Wirklichkeit vielleicht nur sein Glück ihm beigestan-
den haben mag. Übrigens schien die Gräfin Bathiany,
eine ältere, weder schöne noch kluge aber sehr eigen-
nützige Frau, nicht die geeignete Persönlichkeit zu
sein, der der Held des Jahrhunderts jeden Winter
seine Lorbeeren zu Füssen legen durfte.
Ein geistig höherstehender Mensch fühlt sich leicht
versucht, gegen das blendende Ansehen, das der grossen
Masse imponiert, anzukämpfen, gegen einen Ruhm,
der ihm in so manchen Beziehungen ungerechtfertigt
erscheint; solches war beim Fürsten Czartoryski dem
Prinzen Eugen gegenüber der Fall; das versperrte ihm
auch die Karriere, die er in jenem Lande hätte machen
68
können ; nach mehreren Jahren militärischen Dienstes
konnte er nicht über den Grad eines Oberstleutnants
hinauskommen.
Prinz Eugen verzieh niemandem, der sich vor ihm
nicht beugte. Trotzdem wäre der Fürst Czartoryski
wahrscheinlich in Österreich geblieben, hätte nicht
während der Reisen, die er von Zeit zu Zeit unter-
nahm, um seine Familie in Polen zu besuchen, meine
Mutter, die er grenzenlos zu lieben schien, mehr noch
als alle seine Verwandten sich die grösste Mühe ge-
geben, ihn dem Dienst seiner Heimat zurückzuge-
winnen, deren Sitten, deren Regierung und deren ganze
Lage ihm fast ebenso fremd wie verhasst geworden
waren; er glaubte nicht, sich je darin hervortun zu
können. Mein Vater, der von August II. sehr favori-
siert wurde, bot ihm seine Hilfe an und unterstützte
ihn in jeder Beziehung ; dashätte jedoch, wie ich glaube,
nicht genügt, seinen Blick Polen wieder zuzuwenden,
hätte ihn nicht die Hoffnung erfüllt, die junge Witwe
Denhoff, die Woiwodin von Polock, zu heiraten, die
einzige Erbin des Sieniawskischen Geschlechts und
dessen immenser Reichtümer, dabei schön, liebens-
würdig und in ganz Polen sehr umworben.
Ein Potocki, damals Starost von Beiz, heute Woi-
wode von Kiew, war einer seiner Rivalen, und das gab
den Grund zu ihrer gegenseitigen dauernden Feind-
schaft. Nach dem Tode Branickis gehörte eine Zeit-
lang auch mein Schwager, mit dem mein Onkel zu-
fällig in Wien ein Renkontre hatte, zu den Bewerbern
um die schöne Witwe. Ein Tarlo, damals Starost von
St^zyca, suchte persönlichen Streit mit meinem Onkel;
als der Gegner seine beide Schüsse abgegeben hatte,
begnügte sich mein Onkel, ohne seine Schüsse abzu-
69
geben, ihn zu fragen, mit was er ihm noch dienen
könne. Dieser Charakterzug machte auf die Witwe
Eindruck; aber erst nach drei Jahren oft verzweifelter
Werbung gelang es endlich meinem Onkel, die Wahl
seiner Dame auf sich zu lenken; er wurde hierin, wie
noch in vielen anderen Dingen, durch die fortgesetzten
und geschickten Bemühungen meiner Eltern bei der
Witwe ausserordentlich unterstützt.
Fast gleichzeitig wurden die Woiwodschaften von
Ruthenien und Masowien frei; mein Vater überliess
seinem Schwager die Wahl, welche August II. ihm
selbst zugedacht hatte. Fürst Czartoryski wählte
Ruthenien, mein Vater nahm Masowien; kurz vorher
hatte er mit Einwilligung des Königs ihm das Garde-
regiment unter der Bedingung überlassen, dass er es
dem ältesten Sohne meines Vaters zurückerstatten
würde, wenn dieser zu Jahren käme. Sie einigten sich
ausserdem über ein pekuniäres Abkommen, das für
meinen Vater sehr bescheiden ausfiel; all diese Ab-
machungen wurden nur mündlich getroffen; zwanzig
Jahre später bestritt sie der Fürst- Woiwode fast in allen
Punkten; meine Mutter empfand dies bis zu ihrem
Tode als eine tiefe Kränkung, die sie selbst zwar ver-
dammte, jedoch nicht bezähmen konnte, und zwar
deshalb, weil sie sich (trotz ihrer Klugheit) eine wenn
man so sagen kann übermenschliche Vorstellung von
dem Charakter ihres Bruders gemacht hatte, der, sobald
sein Glück durch die Heirat gesichert war, zunächst
nicht mehr das bis dahin meiner Mutter bewiesene
grenzenlose Vertrauen zeigte. Dennoch verständigte
er sich auch ferner lange Zeit mit ihr bei den Fami-
lien- und Parteiberatungen über alle Entschlüsse und
alle Schritte, die zu unternehmen waren.
7°
Kurze Zeit darauf nötigte ihn der Tod Augusts II.
und dessen Folgen, ebenso wie auch meine ganze Fa-
milie, nach Danzig zu ziehen; dort wäre er beinahe
an einer Krankheit gestorben, die seine Gesundheit für
sein ganzes weiteres Leben schwächte. Als in Polen
wieder Ruhe einkehrte, wurde es scheinbar die grösste
Sorge des Woiwoden von Ruthenien, auf den immen-
sen Gütern, welche seine Frau ihm zugebracht hatte,
die Ordnung wiederherzustellen; es gelang ihm so
gut, dass es hiess, er hätte ihren Ertrag verdoppelt,
nachdem er eine Million Dukaten Schulden zurück-
gezahlt, mit denen sie belastet waren.
Je mehr er nur damit beschäftigt zu sein schien,
um so weniger beunruhigten sich die Potockis und der
Hof über seine Politik. Sein Hang zur Bequemlichkeit,
seine wirklich grosse Faulheit, die er noch zu über-
treiben beliebte, liessen glauben, dass er die Bestre-
bungen um die sarmatische Popularität hasste und
dass er, wenn er sich um einen Landtag oder um die
Zusammensetzung eines Tribunals oder um die Ver-
handlungen eines Reichstages kümmerte, es nicht aus
INeigung und nicht aus Ehrgeiz tat, sondern weil er
in seiner Stellung unbedingt daran teilnehmen musste;
er verstand es immer, sich um Dinge bitten zu lassen,
die er im Grunde genommen selbst am meisten her-
beizuführenwünschte. Seine Vorsicht bei allen Reden,
seine Geschicklichkeit, die er sorgfältig zu verbergen
wusste, und die Überlegung, welche jedem seiner
Schritte, auch denen, die er als die natürlichsten hin-
stellen wollte, voranging, bekräftigten so sehr die Mei-
nung von seiner Weisheit, Milde und Rechtschaffen-
heit, dass vor seinen Wünschen oft die unangenehmsten
Hindernisse dahinsanken, und oft verstand er die hart-
nackigsten Gegner meiner Familie und seiner Interessen
zu bereden, dass sie zugunsten seiner Person, wegen
seiner allgemein anerkannten Mässigung, besondere
Ausnahmen machen müssten, während dem Fürst-
Kanzler, seinem Bruder, all das zugeschrieben wurde,
was die Gegner und die Rivalen meiner Familie am
meisten verletzte; in Wirklichkeit befolgte jedoch der
Woiwode von Ruthenien weit mehr die Maximen der
Herrschsucht und des Egoismus als seine Verwandten,
und zwar jedesmal, wenn er des Erfolges sicher sein
und die Hand, die den Schlag geführt, verdecken
konnte.
Im Grunde genommen liebt er es nicht zu geben ;
alles, was nur im geringsten sein Eigentum berührt,
verletzt ihn so empfindlich, dass es ihm schwer fällt,
bei solcher Gelegenheit die Maske der Mässigung zu
bewahren; indessen muss zugegeben werden, dass er
der Herr seines Geldes ist und sich nicht von ihm be-
herrschen lässt; er versteht es zu geben, er gibt so-
gar oft und ganz im Geheimen, aber niemals aus
Freude am Geben; dieses Gefühl ist ihm fremd, stets
tut er es zu einem ihm naheliegenden Zweck, obwohl
er den Glauben zu erwecken versteht, er tue es aus
Mitleid, aus Achtung oder aus Zärtlichkeit. Hätte ich
nicht mehrere Jahre hintereinander in der intimsten
Familiarität mit ihm gelebt, so hätte ich, wie eben auch
viele andere, in ihm nur die ruhigste Seele gesehen,
die hoch über den kleinen Leidenschaften und mensch-
lichen Irrungen der Allgemeinheit stand, eine fast
unfehlbare Gerechtigkeit des Geistes, weit verzweigte
Kenntnisse auf jedem Gebiet, eine präzise, vornehme
Rede, das Talent, bei der Mehrzahl derer, die er be-
herrschen will, sozusagen jeden Zweifel zu verscheu-
72
■■-
■—
i hen und sie zu entzücken, indem er sich fast nie
einen boshaften Spott, ja in der Öffentlichkeit nicht
einmal ein Urteil erlaubt: der Leser wird Gelegen-
heit haben, im Verlauf der Erzählung mit mir zu er-
fahren, inwiefern er in Wirklichkeit diesem Bilde
der Vollkommenheit nicht entsprach.
Bis zum Jahre 17D2 ungefähr hatte sich meine
Familie in den Angelegenheiten des Landes durch
eine Art Rat leiten lassen, in dem die Verschieden-
heit der Charaktere seiner Mitglieder durch still-
schweigende Übereinkunft die Rollen folgendermassen
verteilt hatte.
Der Fürst-Kanzler, der redseligste unter ihnen, der
grösste Publizist im Lande, der auch über die frucht-
barste Phantasie verfügte, ergriff für gewöhnlich als
Erster das Wort und beleuchtete alle Seiten der Frage;
einige erwählte und zum Rat zugelassene Freunde dis-
kutierten darüber; die Entscheidung fällten gewöhn-
lich meine Mutter und der Woiwode von Ruthenien,
und der Vollzug fiel fast immer meinem Vater zu, der
aufrichtiger, herzlicher, heiterer, tätiger, kräftiger und
freigebiger war als die anderen, auch beliebter und
populärer als sie. Seioe Meinung entschied nur in
unvorhergesehenen und dringenden Fällen; da konnte
niemand einen so raschen und glücklichen Entschluss
fassen wie er, und so riss er denn alle mit sich fort.
So war es bis zu seinem 76. Lebensjahr, von da ab
liessen seine Kräfte nach, und seit dem Jahre 1762
begann er allmählich sich von den Geschäften zurück-
zuziehen, während seine beiden Schwäger, die in-
zwischen ihr Ansehen gefestigt und sich eine grosse
Zahl anhänglicher Kreaturen verschafft hatten, nun-
mehr kein Hehl daraus machten, dass sie seiner nicht
"3
mehr bedurften. Meine Mutter dagegen, die aus ver-
schiedenen Gründen gegen sie verbittert war, wid-
mete sich von nun an fast ausschliesslich der Pflege
ihrer Mutter, der Kastellanin von Wilno, und der
Erziehung ihrer Kinder, die sie geeigneten Karrieren
zuzuführen trachtete; sie selbst zog sich jetzt noch
mehr als bisher von der Bühne der grossen Welt zurück.
Kurz nach meiner Rückkehr ging ich nach Radom,
um mein Amt als Kommissar der Woiwodschaft von
Masowien in jenem Dikasterium zu übernehmen, das
unter der Regierung Augusts II. durch eine sonder-
bare Verbindung der heterogensten Ideen für gewisse
Dinge gegründet worden war, für welche später, im
Jahre 1764, zwei besondere Kommissionen eingerich-
tet wurden, die Schatz- und die Kriegskominission.
In Wirklichkeit beschränkte die Kommission von Ra-
dom durchaus nicht das Übermass der Macht der
Grossschatzmeister noch der Grosshetmans, befreite
sie nur von einem beschwerlichen Teil ihres Amtes. Da
jedoch die Art der Plaidoyers und die ganze Gerichts-
prozedur jener des Tribunals der Krone völlig gleich
war und das Amt sich nur auf sechs Wochen erstreckte,
sah man es gerne, wenn jene Jünglinge, die zu Staats-
geschäften ausersehen waren, dort ihre Lehrzeit in
der Judikatur und gleichzeitig auch in der Populari-
tät durchmachten.
Nirgends in Polen machte man mehr Bücklinge,
nirgends trank man mehr; hier war ich wohl glück-
lich, dass es allgemein bekannt war, dass ich noch nie
puren Wein gekostet; ich blieb nüchtern, war aber
infolgedessen auch ein teilnahmsloser und gelangweil-
ter Zeuge der übermässigen Betrunkenheit. Doch
war nicht sie die Ursache eines Streites zwischen
?4
Rudzieriski, dem Kastellan von Czersk, damaligem
Marschall der Kommission, und Kossowski, Sehatz-
meister des Hofes, dem ersten Kommissär der Armee;
der Streit drohte hald sehr ernsthaft zu werden. Die
beiden Gegner waren intime Freunde meiner Familie,
ich geriet dadurch in grosse Verlegenheit, um so mehr,
als ich ohne mein Verschulden die Ursache des Strei-
tes war.
Dem Brauch gemäss sollte diese Kommission eine
Deputation an den König absenden; diese sollte aus
zwei Mitgliedern bestehen, deren Erster im Rang ein
Kleinpole sein musste. Rzewuski, damals Kommissar
der ruthenischen Woiwodschaft, wurde vom Mar-
schall Rudzieriski, dem die Entscheidung zufiel, er-
nannt; den zweiten Platz hatte er für die Provinz
Grosspolen bestimmt, und zwar ernannte er seinen
Neffen Karczewski, damals Starost von Budziszew, der
mein jüngerer Kollege für Masowien war. Kossowski
meinte, ich dürfte mir nicht die Gelegenheit entgehen
lassen, mich mit einem öffentlichen Amt betraut dem
Könige vorzustellen, und er forderte es mit solcher
Heftigkeit, dass der Marschall Rudzieriski sich be-
leidigt fühlte. Ich hielt es für meine Pflicht, das Wort
zu ergreifen, um sie zu besänftigen; ich bat selbst
Rudzieriski, er solle auf der Wahl seines Neffen be-
stehen; der Bischof von Kiakau Zaluski, der in je-
nem Jahre das Präsidium in Radom führte, half mir
sie zu versöhnen.
Die Deputation hielt ihre Ansprache an den König
in Fraustadt, wohin er in den Jahren des Reichstags
kam, um die Universalien ') zu unterschreiben, welche
laut der Vorschrift des Gesetzes auf polnischer Erde
*) Siehe Anm. *) Seite 52.
unterzeichnet werden müssen. Von Dresden gelangte
der König in dreissig Stunden dorthin, verweilte nur
so lange als nötig war, um die Universalien zu unter-
zeichnen, und kehrte sofort nach Dresden zurück;
nach Warschau kam er möglichst kurz vor dem Zeit-
punkt des ordentlichen Reichstags1). Seinen Aufent-
halt in Fraustadt verlängerte er nur dann um eiuige
Tage, wenn die Umstände ein Senatus Consilium oder
irgend eine orientalische Mission herbeiführten; nur
in Sachsen fühlte er sich zu Hause; er vermochte es
sich nicht einmal vorzustellen, dass er in seinem
Königreiche wohnen könnte. Bei Gelegenheit seiner
Anwesenheit in Polen (das Gesetz untersagte ihm,
ausserhalb des Landes andere Würden als militärische
zu erteilen) unterzeichnete er diesmal, nach dem Tode
des Grosshetmans Potocki, für meinen Vater das Pri-
vilegium eines Kastellans von Krakau; ich hatte das
Vergnügen, es meinem Vater zu überbringen, denn
er hatte sich nicht nach Fraustadt begeben.
Mein Schwager Branicki wurde Grosshetman nach
Potocki, undRzewuski, damals WoiwodevonPodolien,
heute von Krakau, erhielt den kleinen Hetmansstab.
*) Anm. des Königs: Er fiel auf den ersten Montag nach
Michaeli ; die Landtage müssen ihm um sechs Wochen voran-
gehen, und die Universalien müssen wieder den Landtagen
um sechs Wochen vorangehen; solchermassen hätte der König
bereits Ende Juni in Warschau sein müssen, und diese Zeit
wäre ihm verloren erschienen; gewöhnlich kam er erst im
August, und zu Weihnachten war er bereits wieder in Sachsen,
von wo er erst achtzehn Monate später wieder nach Polen zu-
rückkehrte; er erfüllte gerade das Gegenteil der Pacta Con-
venta, durch die er sich verpflichtet hatte, innerhalb zwei
.lahren nur sechs Monate in .Sachsen und achtzehn Monate in
Polen zu verbringen.
76
Bald nach meinem Ausflug nach Fraustadt musste
man an den Landtag denken, und das war in jenen
Zeiten keine leichte Sache; um Landnöte zu werden,
genügte es nicht, in einem Bezirk viele Freunde zu
haben, man durfte auch auf niemanden stossen, der
der Wahl opponiert hätte; man verheimlichte seinen
Weg, man verriet nicht den Ort, wo man sich wäh-
len lassen wollte, um zu verhindern, dass ein persön-
licher Feind oder ein Rivale der anderen Partei Ein-
spruch erheben könnte.
Mein Vater hatte im Gebiet von Lomza einen
Freund namens Glinka, damals Schreiber jenes Di-
strikts1). Diesem Mann, der alle Manöver der Land-
tage beherrschte und in seiner Art und in dem Be-
zirk, wo er wohnte, umsichtig und listig war, wurde
ich empfohlen, anvertraut und überlassen, um Land-
bote zu werden. Es war damals in Wirklichkeit be-
deutend trauriger als verdienstvoll, sich um dieses
öffentliche Amt zu bewerben; man wusste im voraus,
dass kein Reichstag zustande kommen würde, dass der
König sich nicht darum kümmerte, sein Günstling
noch weniger und die meisten polnischen Minister
fast ebenso wenig; und selbst wenn sie alle es wirk-
lich angestrebt hätten, wäre die Sache dennoch fast
unmöglich gewesen, denn die Nachbarmächte waren
bemüht, das Zustandekommen des Reichstags zu ver-
hindern, und das fatale und törichte liberum veto*)
kam ihnen dabei ausserordentlich zu Hilfe.
*) Anm. des Königs: Ich Labe ihn zum Kanzler von Lomza
gemacht. Er ist vor kurzem gestorben, es ist derselbe, der
i 749 gegen den Missbrauch der Militärgewalt gesprochen hat.
2J Das libei-um veto entsprang dem Prinzip der Einstimmigkeit,
wonach im Gesetz nur durch einstimmigen Beschluss der Land-
77
Um nun dieses überflüssige Amt eines Landboten
zu erlangen, dessen winziger Erfolg besten Falles nur
in der Opposition gegen einen wirklich gefährlichen
Vorteil, den der Hof sich hätte zufällig erringen
wollen, bestehen konnte oder darin, dass man be-
kannt wurde, sich an die Vertretung der Öffentlich-
keit gewöhnte, in den nationalen Angelegenheiten
(oder solchen, die dafür gehalten wurden) bewandert
wurde und schliesslich sich die Wege zu den Stellen
bahnen konnte, auf denen man wenigstens eines
Tages tatsächlich Gutes wirken konnte, — um dieses
erbärmliche Amt zu erlangen, musste man alle zwei
Jahre einigen hundert Männern den Hof machen,
die zufolge ihrer Geburt zwar das Recht hatten, sich
Edelleute und Bodenbesitzer dieses oderjenes Distrikts
zu nennen, von denen jedoch kaum die Hälfte lesen
konnte; und von diesen dienten (oder hatten gedient)
die meisten in den Häusern dieser selben Magnaten,
die jetzt ihre Stimmen für sich oder ihre Kinder ein-
sammelten. Während einiger Tage vor dem Landtag
musste man vom frühen Morgen bis zum späten
Abend mit dieser Menge räsonieren, ihr Geschwätz
bewundern, über ihre schlechten und guten Witze ent-
zückt scheinen und zum Überfluss noch unausge-
setzt diese schmutzigen und lausigen Gestalten um-
armen. Zur Auffrischung musste man noch zehn- bis
zwölfmal am Tage mit den einflussreichsten Män-
nern des Bezirks konferieren, das heisst unter gröss-
ter Geheimnistuerei sich die Details ihrer kleinen
boten, des Senats und Zustimmung des Königs Zustandekom-
men konnte. Der Widerspruch eines Einzelnen löste den
Reichstag auf und hob alle am h einstimmig in der Session
gefassten Beschlüsse auf. Anm. d. Herausg.
73
häuslichen Zänkereien anhören, die gegenseitigen
Eifersüchteleien berücksichtigen, bei ihrer Ernennung
zu den Ämtern des Distrikts vermitteln, sich mit
ihnen beraten, wie viel und wem von diesen sehr
edlen Wählern man bares Geld in die Hand drücken
müsste, hierauf mit ihnen frühstücken, dinieren, sou-
pieren, und zwar an ebenso unsauberen wie schlecht
bestellten Tafeln, — das alles, um gar oft die Frucht
all dieser Bücklinge, dieser Kosten und dieser Geduld
in einem Augenblick durch irgend einen im Dienste
des Gegners stehenden Tölpel vernichtet zu sehen,
oft auch durch die persönliche Abneigung eines
Menschen gegen deinen Kollegen, der dir im Land-
tag zugewiesen wurde, oder gegen einen der Haupt-
würdenträger des Bezirks, der für dich agitiert hat
und dem er dadurch die Berufung an den Hof zu
hintertreiben versucht, indem es bekannt ist, dass
der Magnaten söhn, der als Landbote kandidiert, als
Lohn für den gewährten Beistand beim Landtag sich
dieser Beförderung annehmen muss.
Glinka nahm mich unter grossen Freuden- und
Respektsbezeugungen in seinem Hause auf, hielt je-
den Morgen und jeden Abend eine Ansprache an
mich, um mir zu sagen, dass er „der glücklichste
aller Menschen sei, weil er in meiner Person ein
köstliches Kleinod besitze, das der Bezirk von Lomza
unbedingt in die wertvolle Fassung der Landboten-
schaft bringen müsse, um auf dem nächsten Reichs-
tag den ganzen sarmatischen Horizont zu erleuchten".
Diesen ärmlichen Tiraden musste ich ungefähr im
gleichen Stil erwidern, wohl an die zwei- bis drei-
hundert Mal während der acht Tage, da Herr Glinka
mich in seinem Besitz hatte und in seinem Bezirk
79
von Tür zu Tür führte, um die Zusagen aller Wähler
einzusammeln. Endlich war ich Landbote unanimovoto,
zusammen mit dem wStarosten des Ortes, Przymieski.
Darauf führte mich Glinka in das Haus des Sta-
rosten von Makow; das war mein härtester Tag. Der
alte, gichtische, unbewegliche Starost lebte nur beim
Trinken auf; seine Frau war der Gegenstand der
heissesten Wünsche meines Herrn Glinka, der, selbst
Writwer, hoffte, dass auch sie bald verwitwet sein
würde; in der Zwischenzeit hatte er seine Tochter
aus erster Ehe bei ihr untergebracht, ein achtzehn-
jähriges, fettes, rosiges Mädchen, eine wirkliche
„Kunigunde", die, nebenbei erwähnt, an dem sehr
heissen Augusttag ein schönes Kleid aus schwarzem
Samt mit rosa Plüschbesatz angezogen hatte.
Glinka schlug den beiden Damen einen Ball vor,
mit uns zwei Paaren als Quadrille und dem alten
Gatten als Zuschauer. Der Tanzplatz war eine Art
hölzerner Säulenhalle, zwölf Fuss im Quadrat, von
vier Pfeilern getragen, wo die Familie vor der Tür
des Hauses auf den halb verfaulten Brettern Luft zu
schöpfen pflegte. Der Starost setzte sich in eine Ecke,
eine verstimmte Violine besetzte die andere Ecke,
Glinka und ich, wir tanzten abwechselnd mit den Da-
men, von abends sechs bis morgens sechs. Nach jedem
Tanz leerte Glinka ein volles Glas bis zur Nagelprobe
auf das Wohl des Starosten, der alte Starost kam ihm
getreulich nach, stets auf mein Wohl, uud da ich
nicht trank, verbeugte ich mich vor ihm.
Nein, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen,
ich hätte es nicht für möglich gehalten. Der Zeiger
machte die Runde, und Glinka hörte nicht auf zu
tanzen und zu trinken; dreimal jedoch verringerte
er bereits den Umfang seiner Toilette, bat mich aber
jedesmal ganz demütig um Entschuldigung; zuerst
legte er seinen Gürtel ab, dann seinen Rock, dann
seinen Zupan oder die Weste; schliesslich war er im
Hemd, und nun legte er zum Akkompagnement sei-
ner weiten polnischen Hosen und seines kahlen Kop-
fes den Frisiermantel der Dame des Hauses an, die die-
ser artigen Possierlichkeit Beifall klatschte. Um sechs
Uhr morgens bat ich um Gnade; nur mit Mühe ge-
laug es mir, die Erlaubnis zu erhalten, mich in ein
anderes Zimmer zurückzuziehen; kaum hatte ich
mein Hemd gewechselt, da überfiel mich von neuem
die Dame des Hauses mit meinem Führer und dessen
Tochter; beinahe kniefällig bat ich, mich wenigstens
aufatmen zu lassen, und bekam endlich die Erlaub-
nis, nach dem Diner nach Warschau zurückkehren
zu dürfen.
Ich war noch nicht über die Umzäunung des Edel-
hofes hinausgekommen, da brach eine Achse meines
Wagens: jetzt sah ich mich verloren; Verzweiflung
packte mein Herz; doch Glinka bot mir grossmütig
seinen Wagen an, nur allzu glücklich, dass er einen
Vorwand hatte, bei seiner Dame zu verweilen.
Ich dagegen verfolgte meinen Weg durch die
Tannen und den Sand dieses elenden und so ärm-
lichen Bezirks, wo wörtlich genommen meine Pferde
und ich beinahe verhungert wären; ich nenne die
Pferde zuerst, denn die erste Frage, die mein Va-
ter nach meiner Rückkehr an mich richtete, betraf
sie. Mein Vater hatte eine Leidenschaft für Pferde ;
er hatte mir vor kurzem ein Lieblingsgespann über-
lassen; als er erfuhr, dass das schönste der sieben
Pferde auf dieser traurigen Pilgerfahrt eines plötz-
6 Poniatowsk i 8 I
liehen Todes gestorben war, vergass er für eine
Viertelstunde, dass ich die geheiligte Würde eines
Landboten bekleidete, um mir zu prophezeien, aus
mir würde nie ein anständiger Mensch werden, da
ich nicht verstand, ein Geschenk zu hüten, und vor
allem nicht verstand, solche hervorragende Pferde
zu schonen, deren Verdienst, edle Abstammung und
alle besonderen Tugenden mir in jenem Augenblick
vorgehalten wurden; es war eine unangenehme Vier-
telstunde, aber schliesslich war ich weit von Lomza,
schon hatte mich Herr Glinka nicht mehr unter sei-
ner Fuchtel und ich war glücklich; denn das Böse,
das vorbei ist, wandelt sich in Gutes.
8-i
VIERTES KAPITEL
DURCHREISE DES KÖNIGS IN BIALYSTOK IM
JAHRE 1752. — JAGD AUF AUEROCHSEN. — DAS
ABENTEUER VON CHOROSZCZA. — REICHSTAG
VON GRODNO 1 752. — BESCHREIBUNG DES LE-
BENS IN GRODNO. — BESCHREIBUNG DES HAUSES
RADZ1WILL. — HEIRAT DES GENERALWACHT-
MEISTERS PRINZEN LUBOMIRSKI. — UMRISSE
DES PORTRÄTS DER GROSSMARSCHALLIN. —
MEINE ABREISE IM JAHRE i753. — ICH NEHME
DIE PRZE.MYSlER STAROSTEI AN. — DDRCHREISE
DURCH UNGARN. — ZWEITER AUFENTHALT IN
WIEN. — FLEMM1NG, KAYSERLING, WILLIAMS. —
KRANKHEIT DES LETZTEREN. — ANKUNFT UND
PORTRÄT DES FÜRSTEN KAÜNITZ. — PORTRÄT
MARIA THERESIAS.— MEINE ANKUNFT IN SACH-
SEN. DAS LAGER VON IBICKAU. — MEIN STREIT
MIT LICHTENSTEIN. — MEINE REISE MIT WIL-
LIAMS. HANNOVER. — IM HAAG. — SIR YORKE,
GESANDTER ENGLANDS. GRAF RENTINCK. FÜRST
LUDWIG VON BBAUNSCHWEIG. DAS TRIUMVI-
RAT. — DER GERICHTSSCHREIRER FAGEL. DER
ADMIRAL SHRYVER. DIE REIDEN BÜBGERMEI-
STER HOP UND DE DIEU. — KAUDERRACH. DER
JUDE SVASSO. — CRÖNING.
lllllllllllllllIIlllMlllllllllllltlllltllMlllllinUlllllllllllllllllllliMftlllllllll
Ich war kaum zwei Wochen in Warschau, da musste
ich schon an meine Reise nach Grodno denken.
Kurze Zeit vor der Ankunft des Königs traf ich in
Bialystok ein. Man liest in der Geschichte, der Her-
zog dEpernon hätte den Hof Ludwigs XIII. durch
die Pracht des Empfanges entzückt, den er ihm in
seinem Schlosse Cadillac bereitete; der französische
Gesandte Graf de Broglie, der kurz vorher in Polen
angekommen war, staunte über den Empfang, den
der Grosshetman Branicki König August III. in Biaty-
stok bereitete.
Der König und sein ganzer Hofstaat wurden meh-
rere Tage lang vom Grosshetman logiert, beköstigt
und herumgefahren; unter anderem bereitete er dem
König auch eine Festlichkeit in Ghoroszcza ganz nach
seinem Geschmack.
Eine Menge wilder Tiere wurde in Käfigen nach
den Baumgruppen dieses reizenden Parks gebracht;
dort mussten sie auf schmalen, von Seiten wänden um-
schlossenen Bretterstegen bis zu den Wipfeln der
Bäume, die den Kanal umrahmen, hinaufsteigen;
oben war eine Falle, durch die sie von einer Höhe
von dreissig Fuss ins Wasser hinabfielen und so dem
König Gelegenheit gaben, wenn er Lust hatte im
Flug Wölfe, Wildschweine und Bären zu schiessen;
84
Jagdhunde erwarteten sie am Fasse der Bäume, um
sie auf dem Boden und auf dem Wasser zu verfolgen,
bis der König zu sehiessen geruhte. Einer von diesen
Bären traf auf ein Boot und kletterte, um sich vor
den Hunden zu retten, auf den Bug; ein junger Mann,
Bzewuski mit Namen, ein Bruder des Marschalls (er
starb später in Wien), und Saul, der erste sächsische
Beamte aus dem Bureau der auswärtigen Angelegen-
heiten, drängten nach dem anderen Ende des Bootes,
zum Bootsmann, der das Steuer führte; das Boot
wankte, überschlug sich und man sah, wie der Bär
zum zweiten Mal im grossen Bogen durch die Luft
flog und neben den Herren ins Wasser fiel, die mit
dem Schrecken davonkamen; über diesen Zwischen-
fall amüsierte sich der König ausserordentlich.
Auf dem Wege von Biaiystok nach Grodno, im
Forste von Bialowiez, der zur Grodnoer königlichen
Ökonomie gehörte, war ich im Gefolge des Königs
Zeuge einer anderen seltsamen Jagd, die an keinem
anderen Orte in Europa stattfinden kann, nämlich
einer Jagd auf wilde Stiere oder Auerochsen; in Eu-
ropa kommen sie ausser in diesem Walde nur noch
im brandenburgischen Preussen vor.
Über dreitausend Bauern umstellten den Wald,
der einen Umfang von einigen Meilen hat, und trie-
ben eine ganze Herde dieser Tiere, an die vierzig
Stück, nach einem mit Leinwand umspannten Ge-
hege von ungefähr vierhundert Fuss Durchmesser;
in der Mitte dieses Geheges war eine geschützte Er-
höhung errichtet, von dort konnte der König gefahr-
los nach ihnen schiessen. Der König, die Königin
und deren beide Söhne Xaver und Karl bedienten
sich hierzu gezogener Büchsen von so grossem Kali-
85
her, dass ich sah, wie einem der grössten Auerochsen
durch einen einzigen Schuss beide Schulterblätter
durchbohrt wurden. Die Elentiere, die auch getrie-
ben wurden und die man mit denselben Büchsen
schoss, schienen ein zäheres Leben zuhaben, obgleich
den Auerochsen eine fabelhafte Kraft zugeschrieben
wird; so wurde ein Elentier von elf Kugeln dieser,
fürchterlichen Büchsen durchbohrt und lebte doch
noch zwei Stunden; die Auerochsen indessen veren-
deten viel rascher, manchmal auf den ersten Schuss.
Ich wunderte mich über den Mangel an Wildheit bei
diesen Tieren, die meisten von ihnen Hessen sich vou
Männern, die nur mit langen Stangen bewaffnet
waren, nach dem Eingang des Geheges treiben.
Ein Elenhirsch war der Held des Tages; er betrat
das Gehege mit seinem Weibchen, begattete es in
Gegenwart des Königs und der Königin, die sich
vergeblich bemühten, ihre Blicke abzuwenden, und
kehrte heil und unversehrt in das Dickicht des Wal-
des zurück, mitten durch die Schar der tausend Zu-
schauer, in deren Nähe er sich stets hielt, so dass der
König nicht auf ihn schiessen konnte. Nach beende-
ter Jagd begab man sich nach Grodno.
Dieser Reichstag vom Jahre 1762, von dem sich
keine der hochstehenden Persönlichkeiten einen Er-
folg erhoffte noch einen solchen wünschte, interessierte
indessen alle Parteien infolge eines Umstands: nach
dem Tode des Grosskanzlers von Litauen Sapieha han-
delte es sich nicht allein darum, dessen Stelle mit
dem Vizekanzler Prinzen Czartoryski zu besetzen, es
musste auch noch die Stelle des letzteren besetzt
werden.
Die beiden hauptsächlichsten Bewerber waren
86
wiederum zwei Sapiehas: der Woiwode von Podle-
sien, ein Schwiegersohn des Fürsten Czartoryski, und
der Woiwode von Mscislaw, den der Grosshetman
Bi anicki, die Radziwills, die Potockis und alle unsere
Gegner begünstigten; Mniszech, Brühls Schwieger-
sohn, der bereits gegen uns arbeitete, und der Ge-
sandte Frankreichs agitierten für den Woiwoden
von Mscislaw. Dennoch blieb mein Onkel Sieger, in-
dem er zum Grafen Brühl ging und sagte:
„Das Gesetz verlangt, dass die Siegel erst nach der
Wahl des Reichstagsmarschalls und auf die Empfeh-
lung der Landboten hin übergeben werden; wenn
ich nicht vorher das unterzeichnete Privileg für
meinen Schwiegersohn bekomme, beteuere ich Ihnen,
dass kein Marschall gewählt wird; da es aber keinen
gültigen Reichstag ohne Marschall gibt, wird die
diesjährige Reise des Königs nach Grodno umsonst
unternommen worden sein und wird ihn zwei Jahre
später nicht von dem gleichen Frondienst entbinden,
um dem Gesetz Genüge zu tun, das ja auch verlangt,
nach zwei Reichstagen in Warschau müsse ein drit-
ter in Grodno abgehalten werden."
Das war die furchtbarste Drohung für diesen säch-
sischen Hof, der sich schon nach Warschau nur un-
willig begab, für den aber die Reise nach Litauen
der Gegenstand doppelter Ausgaben, Beschwerlich-
keiten und Verdriesslichkeiten bildete. Das brachte
dem Schwiegersohn des Fürsten Czartoryski die Sie-
gel ein; sein Vorgehen bei dieser Gelegenheit war
sicher kein patriotischer Akt und erschien doch ent-
schuldbar in den Augen eines jeden, der an dem Zu-
standekommen dieses Reichstags zweifelte; indessen
war auch die Wahl des Woiwoden von Podlesien
87
dem Allgemeinwohl nützlicher als die seines Cousins,
der, was persönliche Qualitäten anlangte, weit unter
seinem Mitbewerber stand.
Solange diese Angelegenheit im geheimen von
dem Kabinett noch nicht entschieden war, beliess
man den Mitgliedern des Reichstags, die in das Ge-
heimnis nicht eingeweiht waren, wie gewöhnlich die
Freiheit, allerlei Ansprachen zu halten, ohne Ziel und
Zweck, nur um die Höflinge zu unterhalten und die
Zeit totzuschlagen. Es geschah, dass ein gewisser
Chojecki, Landbote der Kiewer Woiwodschaft, von
der Partei der Potockis, über irgend etwas eine An-
sicht äusserte, die mir unrichtig schien; ich wagte
zum erstenmal öffentlich und unvorbereitet zu spre-
chen, um dieser Ansicht entgegenzutreten. Ich schien
das Recht auf meiner Seite zu haben und die Gunst
des Tages bei der Versammlung. Es kam zu keinem
effektiven Ergebnis, immerhin gewann ich dadurch
Mut und wurde etwas bekannt, — und das war die
einzige Frucht meiner Bücklinge in Lomza.
Am nächsten Tage wurden die Siegel überreicht
und am übernächsten sprengte ein Landbote aus
Rawa, Morski mit Namen, vom Hofe selbst bestochen,
feierlich durch ein Schriftstück den Reichstag, und
Massalski1), der allein deshalb zum Marschall dieses
Reichstags erwählt worden, damit die Siegel überreicht
werden konnten, hielt der Sitte gemäss eine schöne
Ansprache, als wäre er ganz erstaunt über die Spren-
gung dieses Reichstags, und der König reiste ab,
entzückt, dass er nur zwei Wochen hatte in Grodno
bleiben müssen.
*) Anm. des Königs: Schatzmeister des litauischen Hofes,
Sohn des Feldhetmans.
V
N
c
"3
War auch die politische Seite dieses Reichstags
traurig für jeden guten Polen, bei der Erkenntnis,
dass alle Parteien sich zusammengetan hatten, um den
Staat zu einer völligen Nichtigkeit herabzudrücken,
so war doch der Aufenthalt in Grodno während der
kurzen Zeit, die er dauerte, ebenso lustig wie selt-
sam.
Man inuss sich eine sogenannte Hauptstadt vor-
stellen, in der es ausser dem Königspalast nur noch
zwei Privathäuser aus Backsteinen gab; alle anderen
waren aus Holz; so schlecht sie sonst beschaffen wa-
ren, enthielten sie in der Mehrzahl irgend einen auf-
fallenden und um so merkwürdigeren Luxus, als er
von Armut und Ungeschliffenheit umgeben war. Un-
ter anderem meinte jede litauische Dame, sie könnte
in Grodno nicht geziemend auftreten, wenn sie nicht
ein grosses, reich mit Tressen besetztes Bett hätte, wäh-
rend die Wände ihrer Zimmer in der Mehrzahl ganz
nackt waren. Eine habe ich gesehen, die, um alle an-
deren zu übertreffen, zwei enorme Betten in zwei ver-
schiedenen Zimmern hatte, das eine mi-t Tressen, das
andere aus reich besticktem Stoff, wie ein Baldachin.
So war sie der Gegenstand des allgemeinen Neides;
besonders beneidete sie ihre Schwägerin, deren ein-
ziges aber reich mit Tressen besetztes Bett im ganzen
Hause kein Zimmer gefunden hatte, welches gross
genug gewesen wäre, um es aufzunehmen; so ragte
der vordere Teil ihres Bettes durch die Tür ins an-
dere Zimmer hinein und diente als Kanapee.
Aber in diesen Holzpalästen oder, um sie mit dem
richtigen Namen zu benennen, in diesen Hütten wohn-
ten sehr schöne Frauen, sehr gastfreundliche Männer,
und man tanzte darin jeden Tag; besonderer Gunst
0»
»9
erfreuten sich die Warschauer, die von diesen sich
als Provinzler fühlenden Leuten mit unterwürfiger
Ehrerbietung empfangen wurden.
Ich war mit dem Chevalier Williams im Hause
des Grafen Flemming untergekommen, und wir
brachten alle Abende genau so zu, wie vor einem
Jahr in Hubertusburg. Eines Tages begaben wir uns
zu dritt zu der Versammlung beim Fürsten Radziwill,
dem Woiwoden von Wilno und Grossherzog von Li-
tauen, der soeben in aller Eile sein geräumiges Palais
fertiggestellt hatte; dieses und das Palais Sapieha
waren die zwei einzigen Backsteinbauten in Grodno.
Mit Recht sagte man damals, dieses Haus sei in
jeder Beziehung ein Prachtspital: die grösste Unord-
nung, der widerlichste Unrat neben den kostbarsten
Gegenständen und grenzenlosem Überfluss. Ohne
Geschmack und Sachkenntnis, wollte er unbedingt
für einen Kenner gelten; mit der lächerlichsten Eitel-
keit erzählte er bei jeder Gelegenheit die wunder-
lichsten Dinge und die komischsten Lügen über die
Grösse seiner Ahnen und über seine eigene Grösse;
aber er war wenigstens nicht grausam und blutdürstig,
wie sein Bruder, und auch kein wilder und blöder
Säufer, wie sein Sohn; im Gegenteil, er liebte die
Konversation, die Freude und hätte es gerne gesehen,
dass die ganze Republik tagtäglich bei ihm dinierte
und soupierte, wenn man ihm nur Verehrung ent-
gegenbrächte. Er war entzückt darüber, dass jeder
bei ihm den Herrn spielen konnte, und keiner liess
es sich nehmen; es konnte jeder nach Belieben be-
fehlen und gehorchen.
Um den grossen Saal seines Palais auszuschmücken,
hatte er es sich ausgedacht, eine Reihe von Porträts
90
der polnischen Könige, die er weiss Gott von wem
geerbt hatte, in allen Ecken und Enden des Saales
aufzuhängen; wenn der bestimmte Raum jedoch
schmaler war als die Porträts, schnitt er ihnen ohne
alle Umstände Arme und Schultern ab und Hess sie
ihnen schmächtiger wieder anmalen, zum Schaden
des betreffenden Körpers, um sie wohl oder übel an
den für sie bestimmten Plätzen unterbringen zu kön-
nen. Man kann sich leicht die kläglichen Mienen die-
ser abgemagerten Könige vorstellen, welche der gute
Fürst jedoch uns als Chefs-dceuvre vorführte.
Nachdem wir uns auf seine Kosten lustig gemacht
hatten, gingen wir auf irgend einen Ball, blieben
aber auf der Treppe stehen, um uns das Souper an-
zusehen, das gerade hinaufgetragen wurde; es war
wirklich sehenswert, und ich versichere dem Leser,
dass ich ihm keine Märchen auftische. Ein riesen-
grosser Haiduck ging an uns vorbei mit einer mäch-
tigen Schüssel voll Spinat, in dessen Mitte drei ko-
lossale Stücke gespickten Kalbfleischs wie drei Inseln
schwammen; der Haiduck hatte, wie übrigens der
ganze Hofstaat Seiner Hoheit, seit langer Zeit keinen
Lohn mehr bekommen, lebte aber von seiner Schlau-
heit; das Kalbfleisch verlockte ihn, er kämpfte eine
Zeitlang, aber schliesslich ging es ihm wie jedem
Sünder seit Adam, — nach begangener Schuld über-
kamen ihn Gewissensbisse, und um sie zu verdecken
breitete er mit seiner Hand wie mit einer Kelle den
Spinat über die von dem verschlungenen Kalbfleisch
entblösste Stelle. Als wir das sahen, beglückwünsch-
ten wir uns zu unserem Entschluss, anderswo zu
soupieren; tausend ähnliche und ebenfalls wahre
Züge könnten zwar nicht den Roman, jedoch die
91
komische Geschichte dieses Hauses Radziwilt erge-
ben. Alles, was wir in Grodno sahen, erschien uns so
lustig und ungewöhnlich, dass wir noch acht Tage
länger dort blieben, dann kehrte ich nach Warschau
zurück.
So ernst der Zweck dieses Werkes ist, gestatte ich
mir nichtsdestoweniger, es hier und dort zu erhei-
tern, nicht allein um mir meine Arbeit zu erleichtern,
aber vielmehr deshalb, weil die Ausmalung einzel-
ner Details zum Verständnis der Sitten und des
Geistes jener Zeit und jener Leute, von denen ich
spreche, beitragen kann.
Nach Warschau zurückgekehrt, sah ich eine Ent-
scheidung herannahen: die Tochter des Woiwoden
von Ruthenien sollte sich mit dem Fürsten Lubomirski
vermählen, der zu jener Zeit noch Generalwacht-
meister war; heute ist er Grossmarschall der Krone.
Sein Vater hatte ihm nur ein geringes Vermögen
hinterlassen; zwei Jahre Turiner Akademie, einige
kleine Reisen, hierauf ein geringer Anteil an der
Kampagne in Röhmen, dann der Kämmererdienst
beim König und die ausgezeichnete Gesellschaft des
Lubomirskischen Hauses in Dresden, — das alles zu-
sammen machte seine Erziehung aus. Nach Polen
zurückgekehrt, liierte er sich mit der Woiwodin von
Ruthenien, seiner leiblichen Cousine, die von all ihren
Verwandten ihn am meisten zu bevorzugen schien.
Sie veranlasste ihren Gatten, diesen Lieblingscousin
in sein Haus zu nehmen; er setzte ihm sogar eine
Rente aus und bekümmerte sich um seine Rildung.
Rald hatte die Öffentlichkeit ihn zum Schwieger-
sohn des Woiwoden von Ruthenien bestimmt. Die
Woiwodin erfuhr als letzte, dass er es wirklich wer-
92
den sollte, und sie äusserte lange Zeit hindurch eine
ganz auffallende Unzufriedenheit, die hauptsächlich
auf ihre Tochter zurückfiel ; diese hatte um so mehr
Grund, sich darüber zu kränken, als sie den Fürsten
nur widerwillig heiratete und nur um dem Willen
ihres Vaters zu genügen; niemals offenbarte es sich
deutlicher als jetzt, dass es für den Woiwoden von
Ruthenien kein Hindernis gab, wenn etwas seinen
Absichten gemäss geschehen sollte, denn sogar bei
seiner geliebten Tochter, dem offenkundigen und
einzigen Gegenstand seiner Nachgiebigkeit, übte er
Zwang aus.
Als seine Tochter fünfzehn Jahre alt geworden war,
hatte der Woiwode von Ruthenien sich täglich zwei bis
drei Stunden mit ihr zu unterhalten begonnen und
ihr nicht nur die zärtlichsten Aufmerksamkeiten er-
wiesen, sondern sie auch in jeder Reziehung als ein
Wesen behandelt, das im Mittelpunkt seiner Achtung
und seiner Liebe stand, so dass dieses Wesen (wenn
man so sagen kann) aufhörte jung zu sein; zu früh
wurde sie von den Vergnügungen und der Gesell-
schaft ihres Alters losgerissen. Diese Frühreife, die
sie über die ganze Jugend ihrer Zeit hinaushob,. sollte
ihr in der Folge manchen Schmerz verursachen.
Prinzessin Isabella Czartoryska wurde von der
WTiege ab im Hause ihrer Mutter auferzogen, bei der
sich täglich alle Enkelkinder versammelten; diegrösste
gegenseitige Sympathie von allen brachten wir uns
entgegen, die Prinzessin lsabella und ich. Nach und
nach wurde daraus eine enge und sehr zärtliche
Freundschaft, die während vieler Jahre meines
Lebens zur liebsten Gewohnheit meines Herzens
wurde. Als ihr Vater sie als erwachsenes Mädchen
9*
zu behandeln begann, war ich ausser ihm der einzige,
mit dem sie den vertrauten Ton der Zuneigung auf-
rechterhielt. Als ihr Vater die Ursache ihres Wider-
willens gegen den Mann, den er ihr erwählt, zu er-
forschen trachtete, sprach er auch von mir als von
einem Menschen, mit dem sie nicht glücklich wer-
den könnte; dieselbe Ansicht äusserte er auch ihrer
Mutter gegenüber, die darüber mit meiner Mutter
sprach; infolgedessen beschlossen meine Eltern, mich
reisen zu lassen. Sie gingen dabei von der Maxime
aus, es sei besser, wenn ein junger Mann wieder-
holt auf Reisen gehe, in der Zwischenzeit aber
immer wieder zur heimatlichen Scholle zurückkehre,
als wenn er auf einmal eine einzige grosse Reise un-
ternehme. Ich hatte noch Frankreich und England
kennen zu lernen, ohne von Italien zu sprechen, und
es konnte mir von Nutzen sein, die Orte, die ich be-
reits einmal gesehen, nach einer gewissen Zeit ein
zweites Mal wiederzusehen. Ich reiste ungern ab, je-
doch ich musste gehorchen.
Zuerst schickte man mich nach PrzemysM, um dort
die Gerichtsstarostei zu übernehmen, die mein Vater
kurz vorher für mich gekauft hatte, und zwar vom
Prinzen Jerome Radzivvill, dem litauischen Gross-
fähnrich und Rruder jenes Radzivvill, dessen Palast
ich vor kurzem in Grodno gesehen hatte.
Von dort aus begab ich mich Ende März des Jahres
1753 nach den Karpathen und überschritt jenen Teil
dieser Berge, den man den Beskid nennt; dann schlug
ich über Eperies, Kaschau und die Zips jenen Weg
ein, den man später, während des Krieges vom Jahre
1756, den Weg der Kuriere genanut hat, denn er
war damals der einzige, auf dem die Verbindung
94
zwischen Wien nud Petersburg aufrechterhalten wer-
den konnte.
In diesem Teil Ungarns ist die natürliche Sprache
der Einwohner ein beinahe polnisches Slowenisch,
aber sie sprachen auch fast alle, sogar die Frauen,
irgend ein schlechtes Husaren-Latein und zwar so
gewandt wie ihre eigene Sprache; auf einer Station,
wo ich mein Mittagessen verzehrte, hörte ich, wie die
Hausfrau mit lateinischen Worten ihrem Hund be-
fahl, in das Rad des ßratspiesses zu steigen, und der
Hund gehorchte.
Ich setzte meine Reise über Pressburg nach Wien
fort, wo ich den Chevalier Williams antraf, den sein
Hof mit einer besonderen ßotschaft hierher gesandt
hatte, und den Grafen Flemming, der neuerdings
vom König August III. als Minister von Sachsen hin-
beordert worden war. Ihre Gesellschaft, ihr Verdienst
und die Freundschaft, die sie mir bezeugten, gaben
mir in Wien ein Relief, das ich bei meiner ersten An-
wesenheit dort nicht gefunden hatte. Es war mir
noch die Annehmlichkeit beschieden, den Grafen
Kayserling als russischen Gesandten anzutreffen, den-
selben, der früher bei uns gewesen war. In Wirklich-
keit lebte er nur mit den hervorragendsten Gelehr-
ten, man konnte ihn fast nur bei sich zu Hause sehen,
er ging beinahe nie zu Hof und sprach nur dann mit den
Ministern, wenn eine Angelegenheit unbedingt sein per-
sönliches Dazwischentreten erforderte. Dieses Verhal-
ten brachte ihm in Wien den Ruf ein, er sei ein Mann,
der sich ganz inseine Bücher vergrabe und die Geschäfte
weder liebe noch sich um sie bekümmere; es war aber
nur die Maske einer sehr aufmerksamen Beobachtung,
die durch unterirdische Spionage handelte.
95
Er, Flemming und Williams waren die Menschen,
die ich diesmal in Wien am häufigsten sah. Letzterer
verfiel in eine gefahrliche Krankheit, ich hatte Ge-
legenheit, ihm während derselben wiederholt Dienste
zu leisten, die ein weiteres Band seiner Freundschaft
für mich bilden sollten.
Ein bedeutsames Ereignis beschäftigte damals ganz
Wien und je nach den verschiedenen Stufen ihrer
Beziehungen zu Wien auch einige andere Hauptstädte.
Gral" Kaunitz war von seinem französischen Ge-
sandtschaftsposten abberufen und zum Hofkanzler
ernannt worden, das heisst zum Leiter des Departe-
ments der auswärtigen Angelegenheiten. All die guten
und schlechten Porträts dieses neuen Ministers, alle
Voraussagen über seine Geschäftsführung dienten
gleichzeitig meiner Belehrung und meiner Unterhal-
tung. Die meisten Österreicher vom alten Schlag,
die mit dem Hass gegen den Namen Frankreich ge-
nährt worden waren, bejammerten das Schicksal ihres
Staates, der ihrer Meinung nach nunmehr neuen
Maximen und neuen Sitten ausgeliefert werden musste
unter einem Minister, der in Wien in seiner Rede,
seinem Gebaren und seinem Geschmack ganz fran-
zösisch zu sein schien, während er absonderlicher-
weise in Paris mit Vorliebe sowohl die Fehler der
Franzosen aufgedeckt als auch ihr Entgegenkom-
men abgelehnt hatte; dieses Entgegenkommen war
einem Fremden gegenüber ganz aussergewöhnlich,
besonders einem so hochgestellten Fremden gegen-
über, von so absonderlichem Gebaren, der durch
verschiedene Schrullen viel Stoff zur Lächerlichkeit
bot. Das Ansehen, das er während seiner Gesandt-
schaft in Frankreich dort ständig genossen hatte, —
96
Stanislaw Lubomirski, Grossmarschall der Krone
(Phot. Anderle, Krakau)
und zwar unmittelbar nach einem für Österreich
unglücklich ausgegangenen Krieg gegen Frankreich
— bewies jedoch, dass diesem Manne wirkliches Ver-
dienst eignen musste; er hat es seither der ganzen
Welt bewiesen, und heute gestehen es ihm sogar
jene Leute zu, die ihn am wenigsten lieben.
Man hat es als einen der grossen Züge von Maria
Theresias Charakter und Regierung angesehen, dass
sie Herrn von Kaunitz zu schätzen und an die rich-
tige Stelle zu bringen gewusst, aus eigenem Antrieb
und trotz all der Stimmen, die gegen ihn sprachen,
dass sie ihn darauf festgehalten hat, ohne dass er
sich jemals auch nur im geringsten bemüht hätte,
durch besondere Anstrengungen sich das Wohlwollen
seiner Standesgenossen zu erringen noch durch eine
scheinheilige Handlung sich das Wohlwollen seiner
devoten Fürstin zu bewahren. Sie versuchte einige-
mal, ihn ihre Missbilligung fühlen zu lassen, weil
er Schauspielerinnen aushielt. Er erwiderte be-
ständig:
„Ich habe meiner Kaiserin und Königin Rechen-
schaft abzulegen über meine Haltung als ihr Minister,
als ihr Untertan, aber sonst in keiner Weise. Wenn
meine Fürstin mit meinen Diensten nicht zufrieden
ist, werde ich Arbeit und Geschäfte mit Freuden
aufgeben und mich auf meine Grafschaft von Riet-
berg zurückziehen."
Eine solche Antwort hätte einen Minister, über
dessen Stelle Madame de Maintenon zu bestimmen
gehabt hätte, an die Luft gesetzt. Herr von Kaunitz
hat sich sogar erlaubt, die Hofetikette ausser acht zu
lassen; den Offizieren, die ihn darauf aufmerksam
machten, weil sie glaubten, es sei aus Unachtsamkeit
7 Poniatowski gn
geschehen, sagte er: „Dorthin, wo mein Muff nicht
mitgehen kann, will ich selbst nicht mehr hinge-
hen."
Seit neunzehn Jahren steht Kaunitz nunmehr im
Amte und scheint bestimmt zu sein, es nicht bald zu
verlassen. Und sollte ich als Untertan geboren wer-
den und hätte unter allen jetzt lebenden Herrschern
zu wählen, so wäre Maria Theresia meine Königin.
Bei ihrer Thronbesteigung fand sie die Truppen und
die Finanzen ihres Staates ganz zerrüttet vor. Inmitten
dreier fast stets unglücklicher Kriege hat sie beide
wiederhergestellt und auf eine höhere Stufe gebracht,
als sie sie je unter einem ihrer Ahnen eingenommen
hatten, und doch werden ihre Untertanen nicht un-
terdrückt; sie ist freigebig; fast alle öffentlichen Ge-
bäude Wiens, fast alle Wege ihrer Provinzen sind
durch sie errichtet oder erneuert worden, und den-
noch ist sie reich, und sie beweist es durch grosse
und häufige Geschenke; sie ist fromm, sie hat sich
nie zu Schwachheiten hinreissen lassen, die gegen ihre
Prinzipien gewesen wären, und doch ist sie nicht
nur sanft und mitfühlend, sondern sie hat auch die
Anmassungen der Kirche beschnitten, sie hat die Er-
ziehung und Bildung der Jugend in all ihren Staaten
gebessert. Ihre Politik war geschickt, jedoch ohne
Falschheit, wenigstens bis jetzt; sie hat nur zur Ver-
teidigung Krieg geführt. So ist ihr auch das Glück
beschieden, von ihren Untertanen wirklich geliebt
zu sein. Während dreissig Jahren ihrer Regierung ist
keine Handlung bekannt geworden, welche die Ge-
rechtigkeit verletzt hätte.
Möchte doch ein so schönes Beispiel sich nicht
mehr widersprechen und sich zur Nacheiferung der
9»
Nachwelt rein erhalten ! Und möge mein Vaterland
sich nie über die Unstetigkeit menschlicher Tugen-
den zu beklagen haben *).
Einige Tage nach dem Amtsantritt des Fürsten
Kaunitz verliess ich Wien, um mir das Lager der
sächsischen Armee vor Dresden anzusehen.
Es ist wahrscheinlich, dass Graf Brühl schon da-
mals den Österreichern und den Engländern zeigen
wollte, dass es noch eine sächsische Armee gab und
dass sie sogar sehr schön war, — den ersteren, um
sich ein gewisses Ansehen zu sichern, das im Falle
eines Unglücks Sachsen eine Verbindung und eine
Protektion gegen den König von Preussen einbringen
sollte, — den anderen, um sich Subsidien zu ver-
schaffen, denn die Engländer glaubten damals, sie
müssten selbst in Friedenszeiten von ihnen besoldete
Truppen in Deutschland unterhalten. Da jedoch vier
Dragonerregimenter der sächsischen Armee fast immer
und auch damals sich in Polen in der Ökonomie
des Königs befanden, — trotz der pacta conventa2),
durch welche August III. sich verpflichtet hatte, in
Polen niemals mehr als 1 200 Mann sächsischer Trup-
pen zu halten, — waren alles zusammen im Lager
von Ibickau, das drei Wochen dauerte, nur unge-
fähr 14000 Mann vorhanden.
Der König schien solches Gefallen daran zu finden,
dass man bei dieser Gelegenheit den Grafen Brühl
*) Anm. des Königs: Ich habe dies im Februar 1772 nieder-
geschrieben.
2) Die Grundlage der königlichen Gewalt bildete ein Vertrag,
der mit dem Gewählten abgeschlossen wurde. Durch die
„pacta conventa" wurden dem König bestimmte Verpflichtun-
gen und Beschränkungen auferlegt. Anm. d. Herausg.
7* 99
beunruhigt zu sehen glaubte, um so mehr als dieses
Lager, wo Graf Rutowski 1), der natürliche Bruder
des Königs, als sächsischer Feldmarschall befehligte,
diesem das Recht gab, täglich zum König zu kommen,
um dessen Befehle entgegenzunehmen; aber sobald
das Lager aufgehoben war, verstand es Graf Brühl
besser denn je, seinen Herrn zu isolieren.
Ich habe ihn nur selten gesehen, denn kaum war
ich in Dresden angelangt, da befiel mich ein dreitägiges
Wechselfieber. An den guten Tagen ging ich aus, und
so war ich eines Abends in der Oper und lehnte an der
Orchesterbalustrade zwischen zwei jungen Fürsten
Lichtenstein, die mit vielen anderen Fremden als
Zuschauer ins Lager gekommen waren. Ich bemerkte,
dass sie sich fortwährend geheimnisvolle Dinge ins
Ohr zu tuscheln hatten, und hierbei bedrängten sie
mich von beiden Seiten so sehr, dass ich gezwungen
war, dem älteren zu sagen: „Sie tun mir weh!" Er
antwortete: „Sie langweilen mich!"
Wir waren zwei Schritt vom König entfernt, der
dem Schauspiel gewöhnlich von seiner kleinen Loge
aus beiwohnte; ich erwartete den Fieberrückfall am
nächsten Tage, so erwiderte ich im Augenblick nichts;
aber am nächsten Tage, als mein Anfall vorüber war,
ging ich am Abend in die Versammlung beim Grafen
Brühl, um jenem Lichtenstein zu sagen:
„Sie haben mir gestern gesagt, dass ich Sie lang-
weile; ich will Sie morgen unterhalten, um neun
Uhr früh, hinter dem Grossen Garten."
Er erwiderte:
*) Friedrich August Graf Rutowski, der natürliche Sohn
Augusts des Starken und der Türkin Fatime, geb. 170a, gest.
1764. Anm. d. Herausp.
[ 00
„Sehr wohl, ich werde zur Stelle sein."
Hierauf bat ich den Schreiber Rzewuski, der auch
nach Dresden gekommen war, mein Sekundant zu
sein; er gab mir die Versicherung, er hätte mit nie-
mandem darüber gesprochen, und doch kam am
nächsten Morgen um sieben Uhr der General Fon-
tenay1) zu mir und sagte, der Chevalier de Saxe2)
interessiere sich sowohl für mich wie für den jungen
Lichtenstein und wünsche die Folgen unseres Streites
zu verhindern. Ich antwortete:
„Er muss mich vor Zeugen um Entschuldigung
bitten, andernfalls müssen wir diese Sache austragen."
Eine halbe Stunde später kehrte er zu mir zurück
und sagte, der Chevalier de Saxe bitte mich, bei ihm
vorzusprechen, Lichtenstein werde sich dort bei mir
entschuldigen. Und in der Tat traf ich dort nicht
nur meinen Mann an, sondern auch seinen Onkel,
den Fürsten Joseph Wenzel Lichtenstein, der auch
zum Lager gekommen war und beim Chevalier de
Saxe logierte. Er sagte als erster.
„Es tut mir sehr leid, dass mein Neffe Ihnen un-
recht getan hat, und ich bitte Sie, ihm Ihre Freund-
schaft wieder zu schenken; er wird Sie darum bitten
und sich bei Ihnen entschuldigen."
Gleich darauf trat der junge Mann ein, entschul-
digte sich bei mir in Gegenwart seines Onkels, des
*) Anm. des Königs : Franzose im sächsischen Dienst, ein-
stiger Freund meiner Familie und einer der Pfeiler der da-
mals berühmten Gesellschaft des Lubomirskischen Palais in
Dresden.
2) Ein dritter natürlicher Bruder Augusts III., Johann Georg,
genannt Chevalier de Saxe, geb. 1709, Sohn Augusts II. und
der Fürstin Ursula Lubomirska. Anm. d. Herausg.
101
Chevaliers de Saxe und des Generals Fontenay; wir
mussten uns umarmen, und die Sache war beigelegt.
Die Angelegenheit war, ich weiss nicht wieso, zur
Kenntnis einer Prinzessin Lichtenstein gelangt, einer
ältlichen Dame, Schwester des Fürsten Joseph Wen-
zel, die in Sachsen lebte. Sie hatte die Königin und
ihren Bruder benachrichtigt, und da der Hof damals
an allem, was meine Familie betraf, grosses Interesse
nahm und auch nicht wollte, dass dem Fürsten
Lichtenstein, einem Manne, der in Wien solches An-
sehn genoss, etwas Unangenehmes widerfahre, hatte
diese kleine Angelegenheit eine solche Wendung
genommen.
Kaum war der Chevalier Williams von Wien nach
Dresden zurückgekehrt, da gedachte er in eigenen
Angelegenheiten eine Fahrt nach England zu unter-
nehmen, und sobald ich von meinem Fieber geheilt
war, nahm ich sein Anerbieten an, ihn nach Holland
zu begleiten. Wir hielten uns drei Tage in Hannover
auf; dort sah ich, dass Williams, der doch ein rech-
ter Engländer war, nichts von dem versäumte, was
sie „the back staws" nennen. Er erneuerte sorgfältigst
die Freundschaft mit allen Personen beiderlei Ge-
schlechts und jeden Alters, die irgendwelche Bezie-
hungen zu Mylady Yarmouth l) hatten. Während der
drei Tage dinierten wir an der Tafel, die der König
dort beständig für alle qualifizierten Fremden hielt,
die durch Hannover reisten; der Grossmarschall des
Kurfürstentums machte die Honneurs dieser Tafel.
Einige Tage später langten wir im Haag an, wo
J) Amalie Sophie Wallmoden, geb. v. Wendt, wurde mit Einver-
ständnis der Königin Karoline die Mätresse Georgs II. und führte
als solche den Titel einer Gräfin Yarmouth. Anm. d. Herausg.
I02
der Chevalier Williams sich nur eine Woche aufhielt.
Vor seiner Abreise wies er mich an Sir Yorke, den
englischen Minister, und an den Grafen Bentinck,
Herrn zu Rhön und Pendrecht. Letzterer stand da-
mals am Hofe von Oranien noch in Gunst; zur Zeit
der Revolution von 1748, als diesem Hause die Erb-
lichkeit der Statthalterschaft zugesichert wurde,
war er das Oberhaupt dieser Partei. Er war ein
guter Freund meines Vaters gewesen, und das be-
einflusste ihn zu meinen Gunsten ; er gewann mich
so lieb, dass ich zum grossen Erstaunen all jener, die
ihn fürchteten und die sich über seine Verschlossen-
heit beklagten, fast wie ein Kind des Hauses behan-
delt wurde; ohne von meiner Dankbarkeit irre ge-
leitet zu werden, kann ich sagen, dass er einer der
verdienstvollsten Männer war, die ich kennen gelernt.
Sir Yorke empfing mich und behandelte mich
genau so, als wäre ich ein junger Engländer und
Liebling der Familie gewesen. Gemeinsam mit Ben-
tinck stellte er mich dem Feldmarschall Fürsten
Ludwig von Braunschweig vor; dieser befehligte die
Armee während der Minderjährigkeit des jetzigen
Prinzen von Oranien, dessen Mutter, die Tochter
Georgs IL, Königs von England, damals als Regen-
tin eingesetzt war. Bentinck, Yorke und Fürst Lud-
wig schienen eine Art sehr enges Triumvirat zu
bilden, das jedoch einige Jahre später sich auflöste,
als Bentinck und sein Bruder Karl sich beklagten,
der Hof von Oranien beweise ihnen nicht das Ent-
gegenkommen, das sie zu verdienen glaubten, und
als Fürst Ludwig im gleichen Masse, als sich sein
Kredit bei Hofe und bei der Nation festigte, von ihnen
abzurücken begann.
I o3
Sir Yorke hatte den Krieg bis zum Frieden vom
Jahre 1748 mitgemacht; mit 23 Jahren war er be-
reits englischer Minister in Paris, und obgleich er in
jenem Lande bestens aufgenommen wurde, obgleich
er in seinem Äusseren und in seiner Sprache sich weit
mehr nach französischem Muster gebildet hatte, als
die meisten seiner Landsleute, soll er in Paris fast
dieselbe dünkelhafte Herablassung zur Schau getragen
haben wie jener berühmte Lord Stair, der während
seiner Gesandtschaft nach dem Utrechter Frieden am
Hofe Ludwigs XIV. sich auffällig zu zeigen bemühte,
dass der Glanz dieses Namens ihn durchaus nicht
blende. Ich fand, dass er seinem Geist und seiner
Rede nach so antigallikanisch war, wie es der unge-
schliffenste Engländer nur sein kann ; dennoch ist er
(abgesehen von allem, was die nationalen Vorurteile
betrifft) einer der angenehmsten und solidesten
Menschen, denen man begegnen kann.
Das oben erwähnte Triumvirat also und die
Gunst, mit der es mich ehrte, verschafften mir Zu-
tritt bei verschiedenen angesehenen Persönlichkei-
ten der Republik, was sonst nur wenigen Fremden
möglich war, so zum ersten Gerichtsschreiber Fagel,
zum Admiral Schryver und zu den Amsterdamer
Bürgermeistern Hop und de Dieu. Hop war Gesand-
ter in Frankreich gewesen und hatte sich dort die
besondere Gunst des Kardinals de Fleury erworben,
ohne dessen Absichten zu begünstigen.
De Dieu war vor kurzem von seiner russischen
Gesandtschaft zurückgekehrt. Das Wohlwollen die-
ser Männer, die fast alle hoch in Jahren standen,
schmeichelte mir so sehr, dass ich während der zwei
Monate, die ich in Holland zubrachte, fast keine an-
io4
deren Bekanntschaften anknüpfte als nur mit Leuten,
die zu ihnen hielten, oder mit solchen, die in irgend-
welchen Beziehungen zu Kauderbach standen, der
bereits damals dort sächsischer Gesandter war (auf
seine Bitten hin hatte ich bei ihm Wohnung genom-
men); zu letzteren gehörte ein alter portugiesischer
Jude namens Svasso, der mir anscheinend grosse Zu-
neigung schenkte als er sah, dass ich mich gegen die
Prinzipien der Judenverfolgung auflehnte, welche
kurz vorher infolge eines Dekrets des Kiewer Bischofs
Sottyk elf Juden in Polen zum Scheiterhaufen verur-
teilt hatten; bei dieser Gelegenheit wies er mir eine
Bulle des Papstes Martin V., die sich stark gegen jene
Vorurteile richtet, welche die Juden abergläubischer
Praktiken verdächtigen, bei denen sie das Blut von
Christenkindern gebrauchen.
Einen sehr seltsamen Mann sah ich noch im Haag:
den Baron Cröning; er stand im Rufe eines lebenden
Wörterbuchs und zwar in solchem Masse, dass fremde
Minister und die Einwohner des Landes lieber ihn be-
fragten als ihre Bücher, wenn es ihnen nur gelang,
von ihm empfangen zu werden; doch das war nicht
einfach seit jenem Augenblick, der ihn zu einem so
traurigen Beispiel eines Menschen gemacht hatte, der
trotz grosser Bildung und einem wohldisziplinierten
Gehirn dennoch von einer einzigen zu stark erfassten
Idee übermannt werden kann. Eines Tages, als er
gerade nach Hause zurückkehrte, begegnete er dem
Chirurgen, der seiner Frau soeben zur Ader gelassen
hatte; zufällig fragte er ihn, ob er am gleichen Tage
irgend einer anderen Person zur Ader gelassen hätte ;
als er erfuhr, dass er wirklich einem tollwütigen
Manne zur Ader gelassen und das gleiche Eisen bei
lo5
seiner Frau angewandt hatte, ergriff ihn eine so über-
mässige Furcht, seine Frau könnte auch tollwütig
werden, dass er, der zärtlichste Gatte seiner schönen
Frau, plötzlich jede Beziehung zu ihr abbrach; bald
keimten allerlei kollaterale Ideen über irgend eine
Art von Ansteckung in seinem Geiste und zwar so
stark, dass er nach und nach für sich und sein Haus
eine genau abgestufte Quarantäne einführte, die un-
verletzlich war; und zwar galt sie für jeden, der aus
irgend einem Lande nach dem Haag kam, das unge-
fähr in der Gegend jenes Erdstrichs lag, wo die Pest
zu Hause ist. Es war so weit mit ihm gekommen,
dass er die Berührung irgend einer menschlichen
Hand fürchtete, so dass er sich selbst rasierte und
anzog; um von ihm empfangen zu werden, bedurfte
es so vieler Vorsichtsmassregeln und Gesundheits-
atteste wie in einem Pestlazarett. Mir, als Polen, also
einem Nachbarn der Türken, war der Zutritt beson-
ders schwierig.
Ich war erstaunt, einen kleinen Mann im Schlaf-
rock vorzufinden, ohne Unterhosen, in Pantoffeln,
stets eine abscheuliche Perücke und einen noch ab-
scheulicheren Hut auf dem Kopfe; in diesem Auf-
zug ging er manchmal, aber nur selten, auf die
Strasse; während der Unterhaltung mit seinen Gä-
sten lief er im Zimmer auf und ab, öffnete fortwäh-
rend seinen Schlafrock, trat an einen der zur Hälfte
mit Sand gefüllten Eimer heran, die in regelmässigen
Abständen auf dem Parkett aufgestellt waren, und
verrichtete seine Notdurft.
i 06
FÜNFTES KAPITEL
ANKUNFT IN PARIS. MADAME DE BEZENVAL. —
MADAME DE BROGLIE. IHR BBÜDER, BARON DE
REZENVAL. GRAF FRIESE. — MYLORD ALBE-
MARLE. — HERZOGIN DE BRANCAS. — HERZOG
VON RIGHELIEU. — LUDWIG XV., DIE KÖNI-
GIN. — MADAME DE POMPADOUR. DER DAUPHIN,
VATER LUDWIGS XVI. SEINE FRAU. SEINE
SCHWESTERN. — MARSCHALL DE NOAILLES.
SEINE FRAGEN. MEIN ARENTEÜER. — MADAME
GEOFFRINS RÜGE. — REISE NACH PONTOISE. —
MADAME DE LA FEBTE-IMBAULT. — PORTRÄT
VON MADAME GEOFFRIN. — MONTESQUIEU. —
FONTENELLE. — DER HERZOG DE GEVRES.
FRANZÖSISCHE UND ITALIENISCHE MUSIK. EXIL
DES PARLAMENTS. — PRINZ CONTI. — SEIN
SOHN UND SEINE SCHWESTER, DIE HERZOGIN
VON ORLEANS. — DER HERZOG VON ORLEANS. —
SEIN HOF. — ABBE ALLAIRE. — MABSCHALL DE
BELLE-ISLE. — HEBZOG DE NIVERNAIS UND GBAF
DE GISORS. — MADEMOISELLE DE CHAROLAIS. —
MAHNUNG ZUR RESCHEIDENHEIT FÜR JENE,
DIE NACH PARIS GEHEN. — FONTAINEBLEAU. —
LA CHETARDIE UND VALORY. — JAKUBOW-
SKI. — VORSTELLUNG. — MYLORD NORTH.
MYLORD DARTMOUTH. — VERSAILLES.~DER
LOUVRE. — DIE KÜNSTE. MADAME DE POMPA-
DOUR. MONSIEUR DE MARIGNY. — ALLGEMEINE
KONVERSATION IN PARIS. NATIONALCHARAK-
TER. — SYMPATHIE DER POLEN FÜR DIE FRAN-
ZOSEN. — LA TOUR. ABRE BABTHELEMI. D'ALEM-
BEBT. PRÄSIDENT HENAULT. — DER TANZMEI-
STER MARCEL. — HERZOG DE CHOISEUL. — KA-
PITÄN STANHOPE. MEINE ABREISE. — CHANTILLY.
Zwei Monate hielt ich mich in Holland auf, dann
begab ich mich nach Paris, wo ich am letzten
August anlangte ; fünf Empfehlungsbriefe vermittel-
ten mir den Zutritt zu fünf ganz verschiedenen Ge-
sellschaftskreisen und allerlei Bekanntschaften.
Der erste Brief war von meinem Vater an Madame
de Bezenval, geborene Bielinska, eine leibliche Cousine
meiner Mutter, Witwe eines Schweizers, der früher
französischer Gesandter in Polen gewesen und als er-
ster Offizier der Schweizer Garden in Frankreich ge-
storben war. Das Haus dieser Tante gewährte mir vor
allem die Annehmlichkeit, in Paris eine Art Heim zu
haben; ich konnte dort jederzeit ein und aus gehen;
dieser Vorteil wurde für mich um so bedeutungsvoller,
als meine Tante zwei Kinder hatte; ihr Sohn, Baron
de Bezenval, bekleidete bereits einen hohen Rang in
demselben Korps, das sein Vater kommandiert hatte,
und galt in der schönen Welt als erstklassiger Elegant;
er empfahl mich dem Herzog von Richelieu, dem er-
sten diensttuenden Kammerherrn, der mich dem König
vorstellen sollte. Die Schwester des Barons de Bezen-
val, die Witwe eines Marquis de Broglie, begann jetzt,
nachdem sie früher in der grossen Welt gelebt, den
Ton der Reform und beinahe der Frömmelei anzu-
108
schlagen und sich auf den Verkehr mit den respek-
tabelsten Personen (so wurden sie genannt) zu be-
schränken; die Allüren dieser beiden Menschen be-
einflussten die Art der Bekanntschaften, die sie mir
vermittelten.
Der zweite Brief, auch von meinem Vater, empfahl
mich an Madame Geoffrin.
Den dritten Brief hatte General Fontenay aus
Dresden an den Grafen Friesen geschrieben, den
Neffen des Marschalls von Sachsen, damals intimen
Freund des Barons Bezenval, der mit ihm die Gunst
der allerbesten Gesellschaft teilte und den die Öffent-
lichkeit als einen jener Feldmarschälle der französi-
schen Armee bezeichnete, die sich im nächsten Kriege
am meisten auszeichnen würden. Acht Tage nach mei-
ner Ankunft reiste er nach Dresden ab ; während dieser
kurzen Zeit Hess er es sich ganz besonders angelegen
sein, mich in dem Hause des Herzogs von Orleans und
der Herzogin von Luxemburg, geborenen Villeroi, vor-
zustellen und noch in einigen anderen führenden Häu-
sern und zwar solcherart, dass mir ein Empfang zu-
teil wurde, wie er sonst den in jenem Lande debü-
tierenden Fremden gewöhnlich nicht bereitet wird.
Ich kann sagen, dass ich den grössten Teil der dort
genossenen Annehmlichkeiten dem Grafen Friesen
verdanke.
Der Chevalier Williams hatte mir einen Brief an
den Grafen d'Albemarle mitgegeben, damals eng-
lischen Gesandten in Paris, aber erst einen Monat
nach meiner Ankunft gelang es mir ihn zu sehen,
als der Chevalier Williams ihm durch seinen Hof an-
empfahl, für mich nicht unerreichbar zu sein; er
war dann sehr honett zu mir, und ich lernte in
109
ihm nicht nur einen schätzenswerten Menschen ken-
nen, wie viele Engländer es sind, sondern auch einen
Menschen von so besonderer Liebenswürdigkeit, dass
die Franzosen wetteiferten, um ihm ihre Zuvorkom-
menheit zu beweisen, und sich nur beklagten, dass er
sie nicht genügend erwiderte; er genoss auch den für
einen fremden Minister seltenen Vorzug, dass Lud-
wig XV. sich in seiner Gesellschaft wohl fühlte und
sich oft und gerne mit ihm unterhielt; sein Haus be-
deutete für mich in Paris jedoch nur eine englische
Gesellschaft, die ich als solche ziemlich oft und mit
viel Vergnügen aufsuchte, die mir aber keine franzö-
sischen Verbindungen einbrachte.
Die Gräfin Brühl hatte mir einen Brief für Madame
de Brancas mitgegeben, die erste Hofdame der da-
maligen Dauphine (Tochter König Augusts III. von
Polen). Diese bejahrte Dame schien mir ein leben-
diges Abbild der Damen des Hofes Ludwigs XIV. zu
sein. Ihr Stil, ihr Gebaren, ihre Art der Höflich-
keit erinnerten mich in jedem Augenblick an alle
Anekdoten, die ich über jenen Hof gelesen, mit Aus-
nahme einer einzigen Frage, die sie bei unserem zwei-
ten Zusammentreffen in Gegenwart von zwanzig Per-
sonen an mich richtete: sie fragte mich, ob ich wisse,
wer den Herzog von Aquitanien gemacht habe (den
älteren Bruder des jetzt regierenden Königs Lud-
wig XVI., der vor ihm gestorben ist). Man kann sich
meine Verlegenheit leicht vorstellen; es freute sie,
diese Verlegenheit noch zu vergrössern, indem sie die
Frage wiederholte und mich zu einer Antwort drängte.
Errötend sagte ich endlich, es könne doch offenbar
nur der Herr Dauphin gewesen sein. „Nun," sagte sie,
„er ist es nicht gewesen, raten Sie besser."
I 10
„Ach! Madame! Ich kann nicht; erlasset es mir
gnädigst."
„So muss ich es Ihnen sagen; der heilige Franzis-
kus-Xaver ist es gewesen. Die Königin von Polen
hatte ihrer Tochter geschrieben, sie solle ihm gewisse
Höflichkeiten erweisen; Madame la Dauphine er-
mangelte nicht, und das trug uns den Herzog von
Aquitanien ein."
Fast jedesmal,, so oft ich in Versailles war, dinierte
ich bei Madame de Brancas und hörte stets mit gröss-
tem Interesse ihren Erzählungen von der Vergangen-
heit und von der Gegenwart zu. Ohne sich selbst zu-
gunsten des alten Hofes zu erklären, verstand sie es
doch, den Geist ihrer Zuhörer zu dieser Ansicht zu
führen. Hätte ich nicht gewusst, dass sie Madame de
Maintenon gekannt, so hätte ich es aus ihrem Stil und
ihrem ganzen Gebaren erraten.
Ich könnte den Stil ihrer Konversation nicht besser
schildern als durch die Antwort, welche sie der Grä-
fin Brühl in bezug auf meine Person erteilte. Ich
darf wohl vom Leser erwarten, dass er in Anbetracht
meines Alters, da ich dies niederschreibe, neunzehn
Jahre nach dem Datum des Briefes, die hier folgende
Kopie nicht meiner Eitelkeit zur Last legen sondern
lediglich meinem Wunsche zuschreiben wird, er möge
durch diese Probe die Sprache einer Persönlichkeit
kennen lernen, die Madame de Maintenon gekannt
hatte. Hier folgt der Brief.
Kopie des Briefes, den die Herzogin de Brancas an
die Gräfin Brühl unter dem Datum vom 7. Dezem-
ber 1753 in Versailles schrieb, nach der Rückkehr
von Fontainebleau :
1 I 1
„Man muss Ihnen wohl Rechenschaft ablegen, Ma-
dame, über das Kind, das Sie mir anvertraut haben;
ich habe es hier vorgefunden, aber so glänzend, so
befähigt mit eigenen Flügeln zu fliegen, dass meine
Hilfe ihm ganz unnötig war. Alle, die seinen Herrn
Vater gekannt haben, waren entzückt, den Sohn je-
nes Mannes wiederzufinden, den man mit dem Vers
bezeichnet : ,cetait lui qui etait Vami, le compagnon et
le rivale d \Alcide. .' Ich habe der Verehrung, die man
ihm in Frankreich bewahrt, nichts hinzuzufügen ge-
habt; die Tugenden der Frauen jedoch sind verbor-
gener, und so habe ich alles, was mir über Ihre aus-
gezeichnete Freundin in den Sinn gekommen ist, er-
zählt und habe Sie als Bürgen der höheren Vorzüge
genannt, deren Spuren in dem Grafen Poniatowski
leicht wiederzufinden sind. Und in der Tat, Madame,
man kann von ihm nicht genug Gutes sagen; ich bin
nie einem Ausländer begegnet, der mit so vielen Vor-
zügen hier angekommen und befähigter wäre, so viel
Nutzen aus seinen Reisen zu ziehen. Er scheint nicht
allein die Gesetze, Sitten und Gebräuche Polens zu
kennen sondern auch aller Länder, die zu ihm in
Beziehung stehen. Er kennt unsere Geschichte und
die Anekdoten einer jeden Regierung; seine Konver-
sation ist angenehm und steht hoch über jener der
Mehrzahl unserer Franzosen. Er versucht es, sich über
alles zu instruieren, und ist in gleicher Weise um die
Wissenschaften, um die Regierun gsmaximen, um mi-
litärische und kriegerische Dinge beflissen. Es gibt
nichts, womit er sich nicht beschäftigen würde, wor-
über er nicht sprechen könnte und zwar sehr gut,
ohne Überhebung, bescheiden; er ist ein guter Ge-
sellschafter sowohl für einen Minister als auch für
I l 2
Marie Leszczynska, Königin von Frankreich
einen Armeegeneral, für einen Akademiker oder für
eine alte Hofdame, und ich höre, unsere jungen und
schönen Damen glauben, er verstehe es wohl zu ge-
fallen und habe überall Erfolg. Er gibt all diese Vor-
züge seiner Person nicht zu, sagt aber, dass die un-
endliche Sorge seiner Frau Mutter um die Erziehung
ihrer Kinder ihn so gestaltet haben müsste, als man
ihm einreden wolle, dass er es sei. Er spricht von ihr
mit einer Verehrung und Achtung, die darauf hin-
deuten, dass die Eigenschaften seines Herzens denen
seines Geistes und seines Charakters nicht nachstehen.
Ich sehe voraus, dass aus ihm sicher ein nützliches
Mitglied seines Landes werden wird. Er hat es über-
nommen, Ihnen ein Porträt meiner Fürstin zu ent-
werfen, um Sie vor dem Schrecken und dem Schmerz
zu bewahren, den Ihnen das Porträt verursachen
würde, welches sie der Gräfin von Loss gegeben hat
und das scheusslich ist und nicht die geringste Ähn-
lichkeit mit dem so jungen, dem reizendsten und lieb-
lichsten Gesichtchen aufweist; wahrlich, man könnte
sie noch für die Prinzessin Marie Josephe halten, trotz
ihrer dreifachen Mutterschaft. Ich weiss nicht, Mada-
me, ob Sie der Meinung sind, ich würde den Maugel
einer Antwort von Ihnen geduldig hiunebmen und
den Glauben, Sie hätten mich ganz vergessen; Sie
würden sich im grössten Irrtum befinden, Sie, die doch
die Wahrheit lieben, denn ich kann versichern, nie-
mand verlangt mehr danach, sich von Ihrer Güte
umschmeichelt zu sehen, niemand ist Ihnen mehr er-
geben und hat die Ehre es zu sein als ich, Madame,
Ihre niedrigste und gehorsamste Dienerin,
Herzogin de Biancas."
Ich habe bei dieser Dame des öfteren den Herzog
8 Poniatowski I I 3
von Richelieu1) gesehen. Die ungewöhnliche Neu-
gierde, die seine sonderbare Berühmtheit in mir ge-
weckt, wurde zum Teil durch verschiedene Reden
befriedigt, die er in meiner Anwesenheit gehalten
hat; was mich am meisten frappierte, war sein Nach-
weis der Ungültigkeit einer Art Zwischentribunals
(tribunal intermediairej, das die Regierung damals an
Stelle des für einige Monate nach Pontoise verbannten
Parlaments eingesetzt hatte, weil es einigen ihrer
Wünsche nicht willfahren wollte. Ich fand den Her-
zog von Richelieu ebenso beredt wie kühn; es schien
mir, dass Voltaire mit Recht sich über ihn so wohl-
wollend und lobend geäussert hat und dass Mazulhim
nicht immer nur ein galanter Held war; damals hatte
er schon ein Denkmal in Genua; seither hat er Mi-
norka im Sturm genommen, zur Placierung Madame
du Barrys beigetragen und die Parlamente aufgeho-
ben; Voltaire hat aufgehört ihn zu loben und er gilt
nur noch als die Mumie eines veralteten Hofmanns.
Er war es, der mich dem König von Frankreich vor-
gestellt hat, welcher der Sitte gemäss nichts zu mir
sagte, sondern den Herzog von Richelieu fragte, ob
ich mehrere Brüder habe. Man liess mich diese Worte
als einen Beweis unter tausend anderen dafür bewer-
ten, wie genau dieser Fürst die Daten der Genealo-
gie im Gedächtnis behält sowie das Alter und das
*) Louis Francois Armand Duplessis, Herzog von Richelieu,
Marschall von Frankreich (1696 — 1788), in seinen jungen
Jahren berühmt durch seine Liebesabenteuer, nahm später
am Kriege gegen Österreich teil, übernahm 1748 das Kom-
mando zu Genua und war so tapfer, dass die Genuesen bei
dem König seine Erhebung zum Marschall erwirkten. Anm.
d. Herausg.
n4
Gesicht der ihm einmal gezeigten oder vorgestellten
Personen.
Die Königin Marie Leszczynska empfing mich wie
jeden Polen mit jener Höflichkeit, die bei ihr einer
besonderen Zärtlichkeit für das Land entsprang, wo
sie zwar geboren war, das sie aber in der Wiege ver-
lassen, um es nie wieder zu sehen; sie sprach ausge-
zeichnet die Sprache ihrer Heimat und unterhielt
sich nie französisch mit solchen, die Polnisch kannten.
Obwohl diese Begebenheit sehr schmeichelhaft
war und trotzdem die Königin ihren Landsleuten
einen ausgesprochenen Vorzug gewährte, hatte ihre
Gunst kein grosses Relief, besonders seitdem sie aus
schlecht verstandener Devotion ihren Gemahl ge-
zwungen hatte, ihr Bett zu verlassen, das sie aus die-
sem Grunde mit für ihn unerträglichen Gerüchen an-
füllte; er hatte sie innig und ausschliesslich geliebt
und zwar so sehr, dass er, sobald man in seiner Ge-
genwart eine Frau lobte, gewöhnlich fragte: „Ist sie
schöner als die Königin?" Und erst seit die Königin
nach asketischer Reinheit verlangte, hat sich der Kö-
nig Mätressen angeschafft.
Madame de Pompadour, die es seit mehreren Jah-
ren war, strahlte damals noch im Glänze ihrer Schön-
heit; das ist alles, was ich von ihr sagen kann, denn
mein Missgeschick verursachte immer einen Zwischen-
fall, der mich hinderte, sie sprechen zu hören und sie
ausser dem einen Augenblick, wo ich ihr vorgestellt
wurde, auch nur zu sehen.
Damals ahnte man in Frankreich noch nicht all
die Qualitäten des Dauphins, des Sohnes Ludwigs XV.,
die man dann kurz vor seinem Tode entdeckte; seine
Gemahlin galt als geistvoll, war aber nicht beliebt;
8' I l 5
von den Töchtern des Königs von Frankreich sprach
man nur, um die grosse Zärtlichkeit des Vaters zu
ihnen hervorzuheben.
Noch ein Mann figurierte damals am Hofe von
Frankreich, dessen Name, seine Art sich zu kleiden
und seine Redeweise an die Zeiten Ludwigs XIV. er-
innerten und dessen Charakter notwendigerweise Re-
spekt und Anhänglichkeit heischte. Dieser Mann war
der alte Marschall de Noailles l) ; er hatte meinen Va-
ter sehr geliebt; mich empfing er mit dem grössten
Wohlwollen, nannte mich sein Kind und gefiel sich
so sehr darin, mich über allerlei zu befragen, dass er
eines Tages auch folgende Frage an mich richtete :
„Was spricht man in den Ländern, aus denen Sie
kommen, über uns Minister von Frankreich?"
„Befehlen Sie mir aufrichtig zu sein?" antwor-
tete ich.
„Ja," sagte er, „ich will und verlange es."
„Nun, Herr Marschall, so gestatten Sie mir zu sa-
gen, dass Deutsche, Holländer und Engländer darin
übereinstimmen, würde die französische Politik im-
mer im Geiste des Marschalls de Noailles geleitet,
so könnte man Vertrauen zu ihr fassen, denn man
würde glauben, sie Hesse sich von den Prinzipien der
Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit leiten, die Frank-
reich dienlich sein und die anderen beruhigen könn-
*) Adrien Maurice Herzog de Noailles, Marschall von Frank-
reich (1678 — 1766), befehligte im spanischen Erhfolgekrieg
ein französisches Armeekorps; wahrend der Regentschaft des
Herzogs von Orleans wurde er an die Spitze des Finanzwesens
gestellt. Später brachte er die Leitung aller auswärtigen Ver-
hältnisse in seine Hand und söhnte 1746 den spanischen Hof
mit Frankreich aus. Anm. d. Herausg.
Il6
ten; der Marschall de iSoailles ist, wie die Engländer
sagen, ein gentleman, man kann auf seine Worte
bauen. Und ich habe dieselben Leute ungefähr das-
selbe vom Marquis de Puisieux1) sagen hören."
Der Marschall erwiderte nichts, wechselte das
Thema und verliess das Zimmer, wo ich mit der Grä-
fin de la Marck, seiner Tochter, und Madame de
Brancas zurückblieb, die man ihrer Gestalt wegen die
Grosse nannte. Ich sah, wie diese Frauen eine Zeit-
lang ganz leise, scheinbar aber sehr animiert, mitein-
ander sprachen; endlich erhob die Gräfin de la Marck
die Stimme und sagte zu mir :
„Monsieur de Poniatowski, ich kann mich nicht
beherrschen, ich muss Ihnen sagen, dass wir erstaunt
und bis zum Aussersten chokiert waren als wir hör-
ten, wie Sie den Herrn mit dein Lakaien verglichen ;
wissen Sie denn nicht, dass Herr de Puisieux alles was
er ist dem Herrn Marschall de iNoailles verdankt und
dass er nicht der Mann ist, um je an dessen Seite ge-
stellt zu werden?"
„Ich schwöre es Ihnen, Madame," antwortete ich,
„dass ich das alles nicht wusste und dass ich weit da-
von entfernt war, irgend etwas sagen zu wollen, was
Ihnen hätte missfallen können."
Je mehr ich mich entschuldigte, um so mehr
schimpfte sie, und nur mit Mühe gelang es dem Mar-
schall, der hinzukam, sie endlich mit den Worten
zum Schweigen zu bringen: „Er hat es nicht boshaft
gemeint. "
Diese Worte liessen mich trotz des wohlwollenden
x) Marquis de Puisieux (Puvzieulx) war in den Jahren 1748
bis 1751 Sekretär im Amt der auswärtigen Angelegenheiten.
Anm. d. Herausg.
I 17
Tones, den der Greis mir gegenüber bewahrte, doch
fühlen, dass er mich nicht frei von Schuld fand, und
ich konnte mich nicht von meiner Bestürzung erho-
len, einen Puisieux Lakai schimpfen zu hören, der
doch im Amte eines französischen Ministers so vielen
seiner Ahnen, deren Namen bereits der Geschichte an-
gehörten, gefolgt war.
Drei Tage später ging ich zu Madame Geoffrin ; seit
meiner Ankunft hatte sie mich mit Höflichkeiten,
Zärtlichkeiten und sogar übermässigen Schmeicheleien
überhäuft. Ich war nicht wenig erstaunt, als ich sie
hei meinem Eintritt mit in die Hüften gestemmten
Fäusten auf mich zukommen sah und sie mich mit
einem zornigen Ausdruck im Gesicht fragte:
„Was haben Sie denn, Sie Jüngling, dem Marschall
de Noailles über Monsieur de Puisieux gesagt?"
Ich erzählte ihr die Geschichte ganz genau. Nach-
dem sie mich angehört hatte, sagte sie:
„Merken Sie sich, grosse bete, dass wenn ein Mann
Sie fragt: ,was spricht man von mir?', er haben will,
dass man ihn lobt und nur ihn allein lobt."
Ich unterwarf mich gelassen der Belehrung und
versuchte mich an die verschiedenen Ausdrücke zu
gewöhnen, die Madame Geoffrin je nach den Umstän-
den anwandte, und ich überzeugte mich bei dieser
Gelegenheit wie noch bei tausend anderen, dass ein
zu glänzendes Debüt das Vorzeichen einer unabwend-
baren Niederlage ist. Die Gunst, die ich während der
ersten zwei Wochen bei Madame Geoffrin genossen,
grenzte an Enthusiasmus, — sie hat sich später dafür
ordentlich schadlos gehalten! Aber der Augenblick
meiner grössten Drangsal war noch nicht gekommen.
Sie liess mich mit ihrer Tochter, der Marquise de la
118
Ferte-lmbault, eine Reise nachPontoise unternehmen,
um dort die Revue des Regiments de la Mestre-de-
Camp anzusehen, eines Dragonerregiments, das da-
mals als Vorbild der Taktik und der Kavallerieaus-
bildung in Frankreich galt, seitdem ein gewisser la
Porterie, Major in jenem Regiment, dort sein Talent
entfaltete.
Mein Rruder, der Grosskämmerer, hatte sich mir
gegenüber oft lobend über den Wert dieses Korps ge-
äussert, mit dein er die Österreicher im Jahre 1 74 1
in Sahaj (Böhmen) bekriegt hatte, unter Führung die-
ses selben Herzogs von Chevreuse, den kennen zu
lernen es mich brennend verlangte und dem ich bei
dieser Gelegenheit vorgestellt wurde; es ist derselbe,
der im Jahre 1772 als Gouverneur von Paris gestor-
ben ist. Er war ein Urenkel von Jean d1 Albert, dem
Bruder des Konnetabel von Luynes, und durch seine
Frau mit dem Grafen dEgmont-Pignatelli verschwä-
gert, dem heutigen Schwiegersohn des Herzogs Ton
Richelieu.
Ich hätte gewünscht, auf dieser Reise die bedeu-
tendsten Persönlichkeiten des Pariser Parlaments
kennen zu lernen, die damals nach Pontoise verbannt
waren; ich werde es immer beklagen, dass ich diese
Klasse der französischen Würdenträger nicht kennen
lernte; es heisst, sie besässen in hervorragendem Grade
gewisse Vorzüge, die anderen Franzosen wenig eigen-
tümlich sind: Besonnenheit, Gelehrsamkeit, tief ein-
gewurzelte Prinzipien über die Rechte des Menschen
und des Bürgers, welche Vorzüge dennoch stets von
der französischen Grazie umrahmt werden.
Nach drei Tagen musste ich mit Madame de la
Ferte-lmbault nach Paris zurückkehren ; sie war etwas
"9
schwerhörig, sehr gesprächig (sie inachte sich jedoch
seihst über die Weitschweifigkeit ihrer Konversation
lustig), gütig und äusserst liebenswürdig ; sie wohnt
im selben Hause wie ihre Mutter, deren einziges Kind
sie ist; ihre Mutter erweist ihr zwar viel Gutes und
schätzt sie sehr, findet jedoch an dem Zusammenleben
durchaus kein Gefallen. Madame Geoffrin sagte mir
wiederholt: „ Meine Tochter hat einen guten Charak-
ter und ist geistreich, aber wir passen zu einander wie
eine Ziege zu einem Karpfen." Und ich muss geste-
hen, dass, obgleich ich beide sehr gerne hatte, ich
doch froh war, sie nicht zusammen zu sehen; denn
ob Madame Geoffrin gut aufgelegt oder von einer ge-
wissen Abneigung erfasst ist, das ist ein Unterschied
wie zwischen dem schönen, heiteren Himmel im Lande
des mildesten Klimas und dem Sturm im unwirtlich-
sten Erdstrich.
Diese sonderbare Frau erfreut sich seit vierzig Jah-
ren einer hervorragenden Achtung bei fast allen Per-
sonen Frankreichs, denen Verdienst, Talent oder
Schönheit ein grosses Ansehen verleiht, und sie ver-
dankt diese Achtung der Anmut ihres Geistes, den
Gefälligkeiten, die sie mit Eifer und grosser Geschick-
lichkeit willig leistet, und zahlreichen wirklich gene-
rösen Handlungen. Ihr Leben wird gewiss beschrieben
werden und könnte, obgleich in ganz verschiedener
Art, ein Gegenstück zum Leben der Ninon de Lenclos
bilden.
Noch mit siebzig Jahren geht sie rüstig zu Fuss,
schreibt, bemüht sich für ihre Freunde, zankt mit
ihnen und tyrannisiert sie sogar mit derselben Leb-
haftigkeit wie vor dreissig Jahren. Am stolzesten ist
sie auf ihre tiefe Menschenkenntnis, es geschieht je-
120
doch, dass sie sich auch hierin täuscht, ebenso wie im
Ressort der schönen Künste; aber wehe jenem, der es
sich anmerken lässt, er hätte sie auf einem Irrtum er-
tappt! Ihre überaus grosse Lebhaftigkeit gibt sowohl
ihrem Lob wie ihrem Tadel einen besonders energi-
schen Ausdruck; oft wird sie von ihr fortgerissen,
was jedoch nicht hindert, dass Madame Geoffrin
gewöhnlich sehr viel Haltung, grosse Ordnung in
ihren Angelegenheiten und sogar eine grosse Geschick-
lichkeit besitzt, die Mächtigen und Einflussreichen
auf jedem Gebiet für sich einzunehmen. Sie ist zu
auffallend und zu lebhaft, um keine Feinde zu haben;
verschiedene von ihren Feinden gefallen sich darin,
Anekdoten über ihre Jugend zu verbreiten, und unter
anderem sagen sie, sie sei barmherzige Schwester bei
den Nonnen gewesen; doch das wäre in Wirklichkeit
der beste Beweis ihres Könnens und der überaus gros-
sen Anmut ihres Geistes — sobald sie bei guter
Laune ist — , wenn sie aus solcher Tiefe zu so hoher
Stufe der allgemeinen Achtung emporklimmen und
dort festen Fuss fassen konnte.
Ich habe bei ihr den Präsidenten Montesquieu ken-
nen gelernt; er hat ihr grosse Freundschaft bezeugt,
sie vergötterte ihn jedoch durchaus nicht, wie man
es aus einigen Briefen an einen gewissen Abbe Guasco
herausgelesen hat, die dieser aus Rache gegen Ma-
dame Geoffrin veröffentlichte. Ich werde es nie ver-
gessen, dass ich diesen bedeutenden Mann bei ihr ein
Lied singen hörte, das er selbst auf die berühmte
Herzogin de la Valliere komponiert hatte, die sehr
schön und noch mit siebenundfünfzig Jahren jung zu
sein schien und die ich gleichfalls bei Madame Geoffrin
kennen lernte, deren Freundin sie seit dreissig Jahren
121
ist. Nur der langjährige Verkehr mit Madame Geoffrin
konnte den Präsidenten Montesquieu aus seiner über-
aus grossen Schlichtheit, Bescheidenheit und Zurück-
haltung heraustreten lassen, die ihn für gewöhnlich
wie mit einem Schleier umhüllen, in den er sich an-
scheinend oft verwickelt und verwirrt; er schien durch-
aus nicht zu wissen, welchen Respekt der Ruf seiner
Bücher allen einflösste.
Madame Geoffrin erlaubte mir, etlichemal an jenen
Tagen bei ihr zu dinieren, an denen sie einige Ge-
lehrte bei sich zu Gast hatte; ich war so glücklich,
bei ihr Fontenelle noch lebend zu sehen. Madame
Geoffrin liess einen kleinen eisernen Ofen neben ihn
hinstellen, um ihn mit jener Temperatur zu umgeben,
die sein Alter von sechsundneunzig oder siebenund-
neunzig Jahren erheischte. Bei meiner Grossmutter
hatte ich es mir angewöhnt, zu tauben Leuten zu
sprechen, — es ist nicht nötig zu schreien, man muss
nur die Silben deutlich und langsam aussprechen, —
das brachte mir die Gunst einiger sehr schmeichel-
hafter Unterhaltungen mit Fontenelle ein; am Schlüsse
seiner Laufbahn bewahrte er noch die Koketterie des
Geistes und die gezierte Ausdrucksweise seiner besten
Zeit; einmal fragte er mich mit ganz ernster Miene,
ob ich genau so gut Polnisch spräche wie Französisch.
Ich weiss nicht, welcher Laune zufolge Madame
Geoffrin mich niemals zu einem ihrer Künstlerdiners
zuziehen wollte; aus einigen Anekdoten, die ich später
erfuhr, schliesse ich, sie wollte nicht, dass ich mit
anhörte, wie jene Herren sich die Freiheit nahmen,
ihr gar oft zu widersprechen und sogar ihre Ansich-
ten lebhaft zu tadeln. Mein Vater hatte mich ihr wie
einer zweiten Mutter empfohlen; sie hatte sich diese
i 22
Rolle zugelegt und wachte eifersüchtig über alles, was
dazu dienen konnte, ihr ihre Rechte über mich zu
wahren ; gewiss ist, dass sie mir auch die aufrichtige
Zärtlichkeit einer Mutter bezeugte.
Ich kann es mir uicht versagen, hier einer Persön-
lichkeit zu gedenken, die mir zu sonderbar erschien,
als dass man sie vergessen dürfte. Ich spreche vom
Herzog von Gevres, damals Gouverneur von Paris.
Ich wurde ihm um die Mittagsstunde vorgestellt; er
lag zu Rett, die Vorhänge waren zurückgeschlagen
und zu beiden Seiten an der Wand festgehalten, wie
es sonst bei Damen gegen Ende ihres Wochenbetts
üblich ist, wenn sie bereits Resuche empfangen. Er
war sechzig Jahre alt, trug eine Frauenhaube, die
unter dem Kinn mit Rändern schloss, und war mit
einer Knüpfarbeit beschäftigt, ganz wie eine Frau.
Und dieser Mann hatte Kriege geführt! Seine wei-
bischen Gewohnheiten verwunderten bereits nieman-
den und das Publikum schien ganz mit ihm zu-
frieden. Ich sagte mir: „Man unternimmt Reisen, um
anderswo Dinge zu sehen, die man zu Hause nicht
sehen kann; und die Ausserlichkeiten zeigen nicht
immer das, was auf dem Grunde vorhanden ist, und
man muss lernen über nichts mehr zu staunen."
Es spielte sich damals in Paris eine Revolution ab,
die man in Anbetracht des Interesses, das ein grosser
Teil der Franzosen ihr entgegenbrachte, wichtig nen-
nen konnte ; es war gerade die Epoche der Einführung
der italienischen Musik in den Theatern von Paris;
dem Eifer der Neuerer wohnte jener Enthusiasmus
inne, der neue Sekten keanzeichnet, und die Schriften
Jean-Jacques Rousseaus über diese Sache lieferten
Argumente dafür und verliehen ihnen die grösste Au-
I 23
torität; die Anhänger der alten Musik Lullys dagegen
hielten sich für die kühlsten Köpfe der Nation und
für so überlegene Menschen, dass sie so weit gingen
zu behaupten, man wäre kein Patriot, wenn man die
Bouffons begünstigte. So nannte man die wandernde
Truppe der komischen Oper, die aus Italienern be-
stand und der es durch irgendwelche glücklichen Zu-
fälle gelungen war, zwei Monate lang das Theater
der grossen französischen Oper ausschliesslich zu be-
haupten. Man holte die stoischen Geister darüber
stöhnen, dass elende Histrionen den Platz einzunehmen
wagten, wo so lange die falschen Töne der Mademoi-
selle Fei und das Meckern des grossen Chasse ver-
nommen wurden, zum grossen Erbauen der franzö-
sischen Ohren.
Da inmitten oder vielmehr an der Spitze der Gönner
der italienischen Musik mehrere der hervorragend-
sten Enzyklopädisten standen, die man damals für ge-
wöhnlich noch nicht mit dem Namen der Philosophen
bezeichnete, die aber schon von vielen der Irreligio-
sität und der Huldigung republikanischen Maximen
angeklagt wurden, so geschah es ganz unmerklich,
dass die theologischen Leidenschaften und der Geist
verschiedener mehr oder weniger monarchisch ge-
sinnter Parteien ihren Einfluss in der Diskussion die-
ses Musikstreites geltend machten. Er trug während
meines Aufenthalts in Paris nicht wenig dazu bei, die
Aufmerksamkeit der Interessierten von dem verbann-
ten Parlament abzulenken.
Jene Verbannung war eines von den Beispielen der
absoluten Macht, die sich seit Ludwig XIV. die Könige
von Frankreich von Zeit zu Zeit anmassten. Die Par-
lamentarier behaupteten indessen, ihr Exil wäre nur
i 24
ein vorüberziehendes Gewitter und ihre Ausdauer
würde sie endlich doch dazu führen, eine von der Na-
tion geachtete und vom Hof selbst anerkannte Reprä-
sentation des Volkes zu werden. Ludwig XV. wagte es,
das Parlament aufzulösen, Ludwig XVI. richtete es
aber wieder auf, und obwohl er in einen Artikel die
ausdrückliche Klausel hineinbrachte, er behalte sich das
Recht vor, das Parlament nach Bedarf wieder aufzu-
lösen, ist die allgemeine Stimmung in Frankreich von
dem Glauben erfüllt, die Hoffnungen der Parlamen-
tarier könnten sich schliesslich doch realisieren lassen.
In jener Zeit ahnte man noch gar nicht, dass die
Auflösung des Parlaments überhaupt ein Ding der
Möglichkeit wäre. Der Prinz de Conti *), damals der
einzige Bourbon, der die Aussöhnung des Parlaments
mit dem König zu betreiben schien als eine für beide
Teile gleich notwendige Sache, erfreute sich deshalb
der Achtung und der Dankbarkeit der Öffentlichkeit,
trotz der Abnahme seines Ansehens beim König, der
ihm gegenüber sehr kühl geworden war, seitdem der
Prinz offensichtlich seine Unlust bezeugt hatte, sich
vor der Favoritin zu beugen.
Eine Zeitlang arbeitete der Prinz de Conti regel-
mässig alle acht Tage mit dem König zusammen, un-
ter Ausschluss der Minister, die jedoch, wie man sagt,
deswegen wenig Eifersucht verspürten, da sie voraus-
sahen, die Umstände würden es so fügen, dass der
*) Louis Francois Prinz de Conti (171 7— 1776), von der jün-
geren Linie des bourbonischen Hauses Conde, leitete die ge-
heime Diplomatie Ludwigs XV., die den Ministem völlig ver-
borgen blieb. Mit der Favoritin Marquise de Pompadour ver-
feindet, wurde er schliesslich vom König in Stich gelassen.
Anm. d. Herausg.
125
Prinz die Krone Polens schliesslich doch nicht erlan-
gen würde. Er war jedoch von dieser Idee dermassen
erfüllt, dass ein Witzbold sagte, noch drei Tage nach
dem jüngsten Gericht würde der Prinz de Conti daran
denken, König von Polen zu werden. Er hatte es sich
zur Regel gemacht, jeden Polen, der nach Frankreich
kam, bestens aufzunehmen; so auch mich, und das
gab mir die Gelegenheit, ihn oft und ziemlich genau
zu sehen. Trotz der Popularitäts- Maximen, die er an-
fänglich sorgfaltig zur Schau trug, entschlüpften ihm
einzelne Züge, die andeuteten, Polen würde in seiner
Person einen König erhalten, der unumschränkt Herr
sein wollte. Im übrigen war er in Gesellschaft liebens-
würdig, liebte es, Heiterkeit, Behaglichkeit und viele
Leute bei sich zu sehen; im allgemeinen dünkte mich
seine Rede die eines gebildeten und sogar fleissigen
Mannes; obgleich viele Leute in Frankreich ihn nicht
zu lieben schienen und nicht an seinen guten Cha-
rakter glaubten, sprachen ihm dennoch die meisten
ein gewisses Genie und verschiedene Talente zu. Sehr
sonderbar fand ich, dass, trotzdem man zugab, nie-
mand machte im Kriege kühnere Projekte als er, den-
noch mehrere Personen an seiner persönlichen Tapfer-
keit zu zweifeln vorgaben.
Damals hegte man in Frankreich ziemlich allge-
mein grosse Hoffnungen bezüglich seines Sohnes, des
Grafen de la Marche1); in der Zwischenzeit ist man
davon ganz abgekommen, man meint jedoch, der
häusliche Verdruss, den der Prinz de Conti seinem
*) Louis Francois Josephe Prinz de Conti, bis zum Tode seines
Vaters Graf de la Marche (1734 — 181 4)-> unterstützte 1791
die Parlamente gegen die Regierung. Er war der letzte Spross
des Hauses Conti. Anm. d. Herausg.
I 26
Sohne verursachte, indem er ihn gegen dessen Willen
verheiratete, hätte ihn seinem Vater entfremdet, ihn
so niedergeschlagen und ihn gänzlich aus seiner Bahn
geschleudert. In unseren Tagen hat man gesehen, dass
er allein von allen Prinzen von Gehlüt bei Ludwig XV.
blieb, indes sein Vater mit den anderen Prinzen nach
der Auflösung des alten Parlaments den Hof verliess.
Die Schwester des Prinzen de Conti, die mit dem
Herzog von Orleans verheiratet ist, verschönte oft
durch ihre Anwesenheit den Aufenthalt in Isle-Adam,
dem Landhaus des Prinzen. Das Antlitz dieser Prin-
zessin, ihre ganze Person in Ruhe oder in Bewegung,
zu Fuss, zu Pferd, tanzend oder sitzend, erinnerte be-
ständig an die schönsten Gemälde Watteaus, und alles
was sie tat hätte für diesen berühmten Künstler ein
ganz natürliches Vorbild abgegeben. Ihr Gatte '), der
sehr in sie verliebt gewesen war, begnügte sich jetzt
damit, ihr die grössten Gefälligkeiten zu erweisen.
Schon damals hatte dieser Prinz den Ruf eines ausge-
zeichneten Menschen ; anfänglich neuen Bekannt-
schaften gegenüber etwas schüchtern, wurde er bald
der beste Gesellschafter, lief, trotzdem er sehr dick
war, gerne viel herum und eignete sich dadurch aus-
gezeichnet für die Rolle des Financiers. Es gereichte
mir in Anbetracht meiner herben Erziehung zu nicht
geringem Erstaunen, den ersten Prinzen aus könig-
lichem Geschlecht vor fünfhundert Personen die när-
rischen Rollen spielen zu sehen; seither habe ich es
bedacht und bin zu der Überzeugung gekommen, dass,
l) Louis Philippe, Herzog von Orleans, gest. 1785, der Vater
von Philippe „Egalite". Nach dem Tode seiner Gemahlin zog
er sich auf sein Landgut zu Bagnolet zurück, wo er seine Zeit
Theateraufführungen widmete. Anm. d. Herausg.
127
solange sein Ansehen nicht darunter litt, es ihm ei-
gentlich erlaubt sein durfte, sich einem Amüsement
hinzugeben, durch das er wirklich ebensosehr sich
selbst wie den anderen eine Freude bereitete; andere
Zeiten und andere Länder ändern auch die Ansichten
und mit ihnen den wirklichen Wert aller Dinge, die
ihrem Wesen nach weder gut noch schlecht sind.
Es war für mich eine grosse Freude, inmitten der
Personen, die bereits in der dritten und vierten Ge-
neration den Hof des Herzogs von Orleans bildeten,
fast alle Namen wiederzufinden, die mir aus den Be-
schreibungen bekannt waren, welche die berühmte
Mademoiselle1) aus der Zeit Ludwigs XIV. und der
Kardinal Retz in ihren zeitgenössischen Memoiren über
das Haus Orleans uns hinterlassen haben. Die alte Ma-
dame de Polignac, eine Hofdame der Herzogin von
Orleans, spendete diesem Hofe mit ihrem Geist fast
ebensoviel Unterhaltung und Vergnügen als ihre
Nichte, die Marquise de Blot, durch die Anmut ihrer
Gestalt. Graf de Friesen, der in sie verliebt war ohne
Gegenliebe zu finden, erfreute sich ebenso wie Baron
de Bezenval an diesem Hofe eines besonderen Vorzuges,
verkehrte hier ganz intim und verschaffte mir Zutritt.
Ich fand dort den Abbe A Ilaire, den damaligen Lehrer
des Herzogs von Chartres. Früher war er einige Mo-
nate lang mein Lehrer, nachdem er meinen ältesten
Bruder, der Abbe gewesen war (er lebt nicht mehr),
nach Polen zurückgebracht hatte. Mein Vater hatte
ihn bei seiner letzten Reise in Frankreich aus dem
*) Anne Marie Louise d'Orleans, Herzogin von Montpensier,
bekannt unter dem Namen La Grande Mademoiselle, schrieb
sehr interessante Memoiren, reich an Material für die Sitten-
geschichte des französischen Hofes. Anm.d.Herausg.
128
Hause der Bezenvals mitgenommen. Sie waren es, die
mich jetzt beim Marschall de Belle-Isle1) einführten.
Ich war begierig, jenen Mann kennen zu lernen,
der sich so sehr um die Berühmtheit bemüht hatte;
die Öffentlichkeit billigte ihm einige wirkliche Qua-
litäten zu; aber es war auch bekannt, dass ausser den
gewöhnlichen Mitteln, welche das Kommando der
Armeen, die Gesandtschaften und das Ministerium
jenen verleihen, die mit geeigneten Ämtern bekleidet
sind, um sich Kreaturen und Anhänger zu verschaf-
fen, der Marschall de Belle-Isle auch Renten für aller-
lei Leute jeden Alters und jeden Berufs aussetzte,
darunter auch für Ärzte und Beichtväter, nur damit
sie unter ihrer Kundschaft die Ansicht von seiner Über-
legenheit und seinem Verdienst verbreiteten.
Er liebte es, stets mit den wichtigsten Dingen be-
schäftigt zu scheinen, und bemühte sich auch stets
diesen Schein zu wahren. Mit Vorliebe sprach er in
Sentenzen und konferierte; so oft ich ihn in seinem
Hause sah, hatte er immer eine ernste, geschäftige
Miene aufgesetzt, obwohl er damals noch nicht Mi-
nister war; unter anderen trieb er oft einen verdienst-
vollen, angenehmen Menschen ganz in die Enge, der
seinem Charakter nach von jeder Wichtigtuerei frei
war: es war dies der Herzog de Nivernais, den man
später auf verschiedenen Gesandtschaften wichtige Po-
sten ehrenvoll versehen sah und dessen Tochter so-
eben den Grafen de Gisors geheiratet hatte, den Sohn
des Marschalls de Belle-Isle. Schon wegen der eigen-
tümlichen Erziehung, die ihm durch seinen Vater
*) Charles Louis Auguste Fouquet, Herzog von Belle-Isle, Mar-
schall von Frankreich (1684 — 1761), erwarb sich Verdienste
um das französische Heerwesen. Anm. d. Herausg.
9 Poniatowski 1 29
zuteil wurde, war dieser junge Mann beachtenswert:
bis zu seiner Verheiratung hatte er nie einen Wagen
besessen, er ging in Paris zu Fuss und reiste stets nur
zu Pferd; seit seiner frühesten Kindheit hatte sein
Vater ihn an alle Härten des militärischen Dienstes
gewöhnt und ihn angehalten, der Reihe nach alle
Grade durchzumachen. Auch hatte er ihn ernsthaft
zu allen möglichen Arten der Wissenschaften an-
halten lassen und ihm gleichzeitig den Ton der
Bescheidenheit, der Zurückhaltung und der notwen-
digen Zuvorkommenheit eingeschärft, was im Verein
mit dem ehrenhaftesten Naturell und den glücklich-
sten Eigenschaften ihm sowohl in dem Lande, das er
bereiste, als auch in Frankreich den Ruf eintrug, er
wäre nicht allein das beste Werk seines Vaters, son-
dern auch der höflichste und achtbarste unter allen
Franzosen seiner Zeit.
Durch die Marquise de Broglie, die Schwester des
Barons de Bezenval, wurde ich auch Mademoiselle de
Charolais1) vorgestellt, einer Prinzessin aus könig-
lichem Geschlecht, die man damals kurz Mademoi-
selle nannte; sie war unter vielen anderen ein Beispiel
für die Richtigkeit des Bonmots einer Frau, die, von
einer alten Tante wegen ihres Benehmens zurechtge-
wiesen, durch das sie sich selbst einen (wie die Tante
meinte) nicht wieder gutzumachenden Schaden zuge-
fügt, erwiderte: „Beunruhige dich nicht, liebe Tante,
ich werde mich rechtzeitig bessern, und in Paris wächst
der gute Ruf nach wie die Fingernägel."
Mademoiselle de Charolais hatte in ihrer Jugend ihre
*) Mademoiselle de Charolais, der Tochter des Herzogs von
Bourbon, wurde durch ein besonderes Diplom Ludwigs XV.
der Titel „Mademoiselle" zuerkannt. Anm. d. Herausg.
i3o
Schönheit in der weitesten Bedeutung des Wortes ge-
nossen; ich habe die wunderlichsten Geschichten über
sie gehört von denselben Leuten, die zu meiner Zeit
sie bereits als eine der achtbarsten Prinzessinnen und
Frauen Frankreichs bezeichneten, als eine Frau der
besten Gesellschaft, in deren Hause die schlimmsten
und klatschsüchtigsten Devotinen verkehrten, obgleich
sie gerade damals einen offiziellen Amant hatte, der bei
ihr wohnte. Am gleichen Tage, an dem ich ihr vorge-
stellt wurde, sagte sie zu mir, als ich ihr mit ihrer
ganzen Gesellschaft in den Garten folgte: „Mon-
sieur, bringen Sie mir bitte meinen Popo. " Sie wie-
derholte ihre Bitte, und als sie mich dann noch immer
regungslos und bestürzt dastehen sah, fragte sie mich
mit einer gewissen Ungeduld, ob ich denn nicht ge-
hört hätte, dass sie mich gebeten, ihr ihren Popo zu
bringen ? Ich erwiderte, dass ich der Meinung wäre, sie
hätte ihn stets bei sich ; sie erbarmte sich meiner Un-
wissenheit und man belehrte mich unter grossem Ge-
lächter, das Gewünschte sei ein Kissen, das sie sich
bei ihren Spaziergängen um den Körper schnalle, um
es stets bei sich zu haben, wenn sie sich setzen wolle.
Doch gerade diese Unwissenheit diente dazu, mir
die Gunst in diesem Hause zu gewinnen, wo ich so-
gar vor Madame de Puisieux (der Gattin des Mini-
sters, von dem oben die Rede war) Gnade fand, die
gerne boshaft war. Alles fügte sich gut, bis ich eines
Tages, als Mademoiselle eine Kollekte für irgend ein
Nonnenkloster veranstaltete, hörte, wie einige Fran-
zosen scherzend Schwierigkeiten machten und vor
der Prinzessin die Geizigen spielten. Es ergriff mich
zu unrechter Stunde das Verlangen, sie nachzuahmen,
was Mademoiselle de Charolais so reizte, dass sie
9* 1 3 i
ihrem grössten Zorn an mir freien Lauf Hess; ich
trug eine so beträchtliche Verminderung der Gunst
davon, dass die Kunde bis zu Madame Geoffrin drang,
die, um mein Missgeschick zu vollenden, mich aus
diesem Anlass drei Wochen lang schalt. In ihrem
Unwillen ging sie sogar so weit, mir etwas vorzuwer-
fen, das anfangs den Gegenstand ihrer Belobungen
gebildet hatte; sie warf mir vor, ich hätte eine Miene,
als wüsste ich zu früh tausend kleine Dinge, welche
die Ausländer in Frankreich gewöhnlich nur sehr
langsam erfahren.
So ungerecht mir damals ihr Vorwurf erschien,
habe ich doch seither begriffen, dass in einer Welt
wie Paris, wo so viele Leute ihr ganzes Leben mit
nichts verbringen, der ausschliesslichen Kenntnis tau-
send kleiner Dinge grosser Wert beigelegt wird, neuen
Worten, gewissen Geschichtchen, verschiedenen Ge-
schicklichkeiten im Umgang mit Menschen, wodurch
sie sich von den profanen Ausländern unterscheiden
und die französische Eleganz hoch über jene stellen;
diese Geheimnisse muss man respektieren, man muss
es sich verdienen, allmählich in sie eingeweiht zu
werden; es ist sehr von Nutzen, sie zu kennen, um
Tölpeleien zu vermeiden; ebenso notwendig ist es
aber, den Schein zu erwecken, als kenne man sie nicht,
um mit gebührender Demut jenen zu nahen, von de-
nen man dem Anschein nach sie zu erlernen wünscht.
Ein Ausländer, der zum erstenmal in Paris auftritt,
wird immer gut tun, dort noch mehr als in jeder an-
deren Hauptstadt den Schein zu erwecken, als hielte
er sich für ein untergeordnetes Wesen im Vergleich
zu den hohen Intelligenzen, die die Stadt bewohnen,
weil sie die Rolle der Protektoren lieben.
l32
Als der König von Frankreich nach Fontainebleau
übersiedelte, sah ich mit Staunen, dass der franzö-
sische Hot in jenem Schlosse, das im Grunde ge-
nommen nur eine formlose Anhäufung meist gotischer
Baiiten ist, denen, wie man sagt, jeder König seit dem
heiligen Ludwig noch einen hinzugefügt hat, sich
prächtiger ausnahm als in Versailles; alle Prinzen
von Geblüt und alle Minister verweilen in Fontaine-
bleau für gewöhnlich mit ihren Gemahlinnen, schei-
nen hier zu Hause zu sein, und fast alle geben Diners;
ohne das Schloss zu verlassen, findet man hier ge-
wissermassen eine Reihe von benachbarten Höfen und
Häusern, während mir in Versailles die Menge, so
zahlreich sie sich auch manchmal versammelt haben
mochte, in der Mehrzahl immer aus Menschen zu be-
stehen schien, die nur auf den Augenblick der Rück-
kehr nach Paris warteten.
Fontainebleau erschien mir imposanter als das, was
ich in Hubertusburg gesehen, mit dem Hauptunter-
schied, dass mir hier weder die Gräfin Brühl noch
der Chevalier Williams zur Seite standen; ich ver-
weilte hier nur zwei Wochen; vor meiner Abreise
war ich Zeuge einer für mich neuen und frappieren-
den Begebenheit, obwohl sie naturgemäss an den Hö-
fen absolutistischer Monarchen sehr oft vorkommen
muss, solange es solche geben wird.
Seit meiner frühesten Kindheit war meine Ein-
bildungskraft mit den Beweisen der Wichtigkeit der
Rollen genährt worden, die eine Reihe von Jahren
hindurch die Herren de la Chetardie und de Valorie
in Petersburg und in Berlin gespielt hatten. Eines
Tages sah ich in einem Winkel des Vorzimmers zwei
bejahrte Männer, die von niemandem beachtet wurden
i33
und die nur deshalb miteinander zu sprechen schienen,
weil alle anderen sie mieden; ich erkundigte mich,
wer sie seien, und man nannte mir ihre Namen: die
Herren de la Chetardie und de Valorie. Eine Art Ent-
rüstung mischte sich in mein Erstaunen; dies wurde
von einem geistreichen und sehr belesenen Manne
bemerkt, einem gebürtigen Polen, der jedoch lange
Zeit in Frankreich gelebt hatte, einem gewissen Jaku-
bowski; er erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an
eine Stelle im Tacitus: Corbulon hat seinem Yater-
lande in fremden Ländern die grössten Dienste ge-
leistet, als er jedoch nach Rom zurückkehrt, be-
grüsst ihn sein Herr nur mit einigen Worten des
Lobes, dann wird er servientium turbae inmissvs, und
dabei blieb es.
Selten verwandte Frankreich (bis dahin) Männer
aus den ersten Familien zu auswärtigen Missionen;
fast stets waren es Proteges der Günstlinge; so grosse
Dienste sie Frankreich im Ausland auch leisten moch-
ten, blieben sie den Höflingen dennoch fremd und
wurden von ihnen wenig geschätzt, denn die un-
ermüdliche Tätigkeit der Höflinge kennt nur ein
Ziel: ihre eigene Persönlichkeit, und jener Franzose,
der seinen Fürsten zehn Jahre hindurch nicht nur
ehrenvoll, sondern oft geradezu pomphaft und manch-
mal mit Insolenz vertreten hat, ist am Hofe seines
eigenen Fürsten ein Fremder, kennt weder den Ton
noch die Parole des Tages und spielt ungefähr die
Rolle eines Gespenstes, dem ein um so schlechterer
Empfang zuteil wird, je mehr Menschen auf seine
Erbschaft gerechnet haben.
Ein Umstand Hess mich am öftesten die Verschie-
denheit der französischen Sitten und jener unseres
1.34
Landes erkennen: die Schwierigkeit des Vorgestellt-
werdeus. Hundert Ausländer hatte ich in Warschau
ankommen sehen, die an den Hof oder in irgend ein
Haus geführt und von dem Einführenden allen im
Augenblick dort Anwesenden auf einmal vorgestellt
wurden; das genügte, um bekannt zu sein; man ge-
wann dadurch die Möglichkeit, zu allen, von denen
man also einmal gesehen wurde, hinzugehen, und
man konnte sicher sein, überall gut und sogar zuvor-
kommend aufgenommen zu werden. In Frankreich
bat ich, so oft ich eine angesehene Persönlichkeit
nennen hörte, um die Gunst, ihr sofort vorgestellt zu
werden; manchmal konnte ich noch so oft wiederho-
len, jene Person hätte bei verschiedenen Gelegenhei-
ten mich bereits angesprochen, ich hätte mit ihr di-
niert oder soupiert und man wisse sicher, wer ich
sei, stets erhielt ich zur Antwort: „Ich muss erst je-
nen Herrn oder jene Dame in Ihrer Abwesenheit um
die Erlaubnis bitten, Sie in ihrem Hause einzufüh-
ren," was oft Monate hindurch unmöglich war; es
kam mir vor als belinde ich mich in einer Vorhölle
diesen Leuten gegenüber, denen ich angeblich fremd
war, obgleich sie sehr gut wussten, wer ich war.
Nach Paris zurückgekehrt (keine Katze ist jetzt
dort, so sagten die Höflinge, obgleich sieben- oder
achthunderttausend Einwohner in Paris waren, aber
freilich keine Höflinge) traf ich dort einige Engländer,
die ich in Leipzig kennen gelernt, darunter auch My-
lord North, den heutigen Premierminister, und seinen
Bruder Mylord Dartmouth. Wir fuhren zusammen
nach Versailles, um uns während der Abwesenheit
des Hofes das Schloss mit Müsse ansehen zu können.
Ich will hier nicht wiederholen, was so oft bereits
f35
gedruckt und graviert worden ist, aber es bleibt mir
unvergesslich, wie betrübt ich war, als ich das be-
rühmte Gemälde von Le Brun, die Familie des Da-
rius, das ich den Engländern im voraus schon so sehr
gerühmt hatte, den schönsten Schmuck der könig-
lichen Gemächer nicht mehr vorfand. Ich erkundigte
mich und erfuhr endlich, dass die Gemälde in diesen
Gemächern alle drei Monate gewechselt werden. Ich
verlangte sie zu sehen, und nur mit Mühe gelang es
mir, in die Mobilienkammer eingelassen zu werden,
wo jenes Meisterwerk der französischen Malerei ver-
wahrt wurde. Aber wie gross war mein Erstannen,
als man mir einen Stoss von Gemälden wies, höher
als ich, deren unterstes gerade jener Le Brun war ;
es lag mit der bemalten Seite auf dem Boden. Zu
jener Zeit sah ich auch mitten im Hof des Louvre
ein dreistöckiges Haus aus Quadersteinen, das einem
Privatmann gehörte; es bedurfte ausser den Intrigen
des Hofes, ausser den Vorstellungen aller Liebhaber
der Architektur noch der Schriften Voltaires, bis
dieses Haus erst viele Jahre später niedergelegt wurde.
Die Künstler und die Kunstliebhaber beklagten da-
mals ziemlich allgemein, dass der französische Hof
den Talenten so wenig Unterstützung und Gunst er-
weise; kurz daraufschien jedoch Madame de Pompa-
dour mit Erfolg ihre Protektion walten zu lassen;
sie selbst sang, zeichnete und gravierte; ich besitze
fünfzig Stiche, die meisten von ihrer Hand, einige da-
gegen sind Reproduktionen von ihr selbst gemeisselter
Skulpturen; man ist sich ziemlich einig, dass der Po-
sten eines Oberintendanten der Bauten Frankreichs,
den der Marquis de Marigny, Madame de Pompa-
dours Bruder, bis 1773 bekleidet hat, ihm vor zwan-
i36
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zig Jahren nicht nur seiner Verdienste wegen, son-
dern im gleichen Masse durch Begünstigung zuteil
wurde.
Nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Frank-
reich inusste ich mir gestchen — wenn ich mir Re-
chenschaft anlegte üher den Eindruck, den alles, was
ich dort sah, auf mich machte — , dass ich mich einer
Reihe von angeblichen Verpflichtungen unterordnete,
aus Furcht, „die ganz besonders gute Gesellschaft"
könnte mich verurteilen; dass es mich empfindlich
störte, bestrebt sein zu müssen alles zu vermeiden,
was mir den Anschein gegeben hätte, dass ich in der
sogenannten schlechten Gesellschaft verkehrte; dass
das Kartenspiel für mich überall eine gar traurige
Notwendigkeit war, ausgenommen bei Madame de
Bezenval und bei Madame Geoffrin, wo ich wie ein
Kind des Hauses behandelt wurde; dass jedoch, wenn
man nicht spielte, der Konversationston für einen
Ausländer sehr anstrengend Avar, denn nur selten
wartete man die Antwort auf eine Frage ab, ehe man
die nächste Frage stellte, die wieder von einer dritten
Frage über ein ganz anderes Thema durchkreuzt
wurde, und nie sah ich jemanden, der sich bemüht
hätte, seine ersten Fragen wieder aufs Tapet zu brin-
gen; je mehr ich wünschte, der Unterhaltung zu fol-
gen und meine Bemerkungen einzuflechten, um so
mehr versagte meine Aufmerksamkeit, denn sie
wurde nie befriedigt und es ging ihr sozusagen der
Atem aus, um so mehr auch staunte ich, wie diese
Menschen, die einander nie anhörten und sich nicht
zu bemühen schienen, über irgend etwas folgerecht
nachzudenken oder irgend eine Tatsache, irgend
einen Vorfall genau kennen zu lernen, sich amüsieren
i3i
konnten. Beim kleinsten Spiel, beim geringfügigsten
Vorfall brachen sie in laute Ausrufe und Schreie aus,
gebrauchten Superlative, die mich veranlassen muss-
ten zu glauben, diese Sache gehe ihnen sehr nahe,
von der bereits eine Viertelstunde später nicht mehr
die Rede war; ich habe nicht ein Beispiel gesehen,
dass jemand sich nach vierundzwanzig Stunden er-
innert hätte, was am Tage vorher gesagt oder getan
worden war; oft dachte ich daran, wie doch in den
Ländern, die ich vor Frankreich kennen gelernt, eine
ganze Koterie und oft eine ganze Stadt wochen- und
monatelang an einem Bonmot, einem Schwank, ir-
gend einem Ereignis zehrte; hiermit vergleichend
konnte ich den unerschöpflichen Reichtum an immer
neuen Gegenständen, die ohne Unterlass die leicht er-
regbare Aufmerksamkeit der Franzosen nähren, gar
nicht genug bewundern. Mit einem Wort, jeden Abend
kehrte ich erschöpft heim und fühlte, dass ich mich
alles in allem genommen doch langweilte.
Doch das änderte sich, und als ich nach Verlauf
von fünf Monaten den Auftrag erhielt, nach England
abzureisen, schmerzte es mich, Paris zu verlassen,
und wieder fragte ich mich, weshalb? Denn es hatte
sich doch weder die Art der Unterhaltung bei meinen
Besuchen noch die Menschen des Landes verändert,
welches zu verlassen mich schmerzte. Aber je mehr
ich in gewissen Häusern festen Fuss fasste, um so we-
niger wurde ich gezwungen dort zu spielen; dank
meiner Ausdauer, nach den Soupers zu verweilen, war
ich endlich bei den Stunden angelangt, wo die Ruhe
der Nacht sich auch auf den Geist der Konversation
zu übertragen schien; manchmal sprach man sogar
vernünftig; da man an mich bereits gewöhnt war,
1 38
wurde-in meiner Gegenwart offener medisiert, und je
mehr Diskietion von mir erwartet wurde, um so enger
schloss ich mich an; und wenn ein Ausländer erst
einmal die Schwierigkeiten des Anfangs überwunden
und seinen Teil der Langeweile bezahlt hat, die die
Franzosen anscheinend nach Übereinkommen den
Ausländern auferlegen (offenbar um nicht von ihnen
überschwemmt zu werden), so kommt er oft noch
mehr en vogue als ein Franzose. Sobald die Franzosen
sich daran gewöhnen, von einem Ausländer etwas Gu-
tes zu sagen, so sind sie jederzeit bereit alles, selbst die
gewöhnlichsten Dinge, bei ihm zu loben, und sie schei-
nen ganz erstaunt zu sein, wenn er gewisse Kenntnisse
von Dingen besitzt, die im Augenblick — wie sie
meinen oder zumindest es sagen — über ihr Wis-
sen gehen, während sie kurz vorher diesen selben
Ausländer über die Achsel ansahen und auch bereit
sind, beim ersten Rückschlag ihrer eigenen Gunst in
das gleiche Gefühl zurückzufallen.
Im allgemeinen schienen mir die Frauen, trotzdem
ersten Anschein extremer Seichtheit, in ihrem Cha-
rakter mehr Tiefe zu haben als die Männer; und da
sie überdies eine gefälligere Bildung besitzen als die
Frauen eines jeden anderen Landes, da der Schmuck,
die Mode und fast alle Erfindungen der Üppigkeit
und des Geschmacks zusammenarbeiten, um sozusagen
ihre neue Existenz zu verdoppeln, ist es schwer mög-
lich sich dem magischen Zauber zu entziehen, der
nach und nach selbst das herbste Gemüt ummodelt
und den Wunsch erweckt, das Leben inmitten dieser
Nation zu verbringen, die manchmal herzlich, immer
aber leichtlebig und heiter ist; das Volk ist hier wirk-
lich gut, die Bourgeoisie im allgemeinen sehr arbeit-
i39
sam, und obgleich man von dieser Nation annimmt,
dass sie leichtfertig und oberflächlich ist, bringt sie
doch tausende von durchaus beherzigenswerten Bei-
spielen jeder Art hervor. Übrigens, je länger man in
Paris lebt, desto mehr hat man Gelegenheit dort auf
Männer zu stossen, die tiefgründige Kenntnisse in je-
der Wissenschaft besitzen und eine Überlegenheit in
allen Künsten; seit mehr als einem Jahrhundert haben
sie in ununterbrochener Folge ihr Vaterland mit Denk-
mälern jeglicher Art angefüllt, die allein genügen, um
den Geist eines jeden wissbegierigen Fremden zu be-
schäftigen, zu belehren und zu bereichern. Schon al-
lein die französische Sprache, die heutzutage jeder
junge Mann in Europa zum Beweis einer sorgfältigen
Erziehung lernen muss, flösst, ohne dass man es merkt,
die Meinung von einer gewissen Überlegenheit der
französischen Nation ein. Ausserdem hat eine gewisse
Analogie der guten und schlechten Eigenschaften
zwischen der französischen und der polnischen Nation
eine Sympathie geknüpft, die schon seit langem be-
merkt wurde und die wirklich vorhanden ist, genau
so wie die Antipathie, die letztere für ihre Nachbarn
hat; dies war für mich ein weiterer Grund.
Das Ballett und die Vorstellungen in der Oper, das
französische und italienische Theater brachten mir
oft angenehme Zerstreuung. Einige Franzosen rech-
neten es mir als Verdienst an, dass mehrere Lieder
der alten französischen Oper vor meinem Ohr Gefal-
len fanden. Der Pastellmaler La Tour hatte mir, so
schwer zugänglich er sonst auch ist, den Zutritt zu
seinem Atelier gestattet; dem Abbe Barthelemy hatte
es gefallen, dass ich die antiken und modernen Denk-
münzen des Königs von Prankreich, die seiner Obhut
i 4o
unterstehen, so eitrig studierte; der berühmte dAlem-
bert, der strenge Geometer, liess sich herab, in meiner
Gegenwart die italienischen Buffos sehr amüsant und
erheiternd zu kopieren. Man hatte mich zu einigen je-
ner üppigen und köstlichen Gelage zugezogen, die der
Präsident Henault veranstaltete und von denen er mehr
Aufhebens zu machen schien als von seinem Buche; die
bösen Zungen behaupteten, dies geschähe mit Recht,
weil doch nicht er sein Buch geschrieben hätte; und
in Anbetracht seiner leichtsinnigen und zu seinem
Stand und Alter nicht passenden Redeweise bekam
man Lust dies zu glauben. Ich muss mich jetzt durch
die Niederschrift meiner Meinung über ihn schadlos
halten, denn Madame Geoffrin schalt mich ernsthaft,
als ich damals, zwanzigjährig, jenen berühmten Mann
so beurteilte.
Monsieur Marcel, der berühmte Tanzmeister, der
damals achtzig Jahre alt war und die Gicht hatte,
lebte von seinem einstigen Ruhme; das Haupt mit
einer Zipfelperücke bedeckt erteilte er Unterricht von
seinem Fauteuil aus, auf dem er sich taktmässig hin
und her wiegte und sich zierte; versammelt waren bei
ihm abwechselnd alle jungen Ausländer und alle jun-
gen Französinnen, denn alle glaubten, sie könnten
auf keinem Ball, auf keinem Fest Erfolg haben (selbst
wenn sie dort nur zu gehen brauchten), würde ihre
Grazie nicht von diesem einzigen Manne geformt, den
sechzig Jahre unausgesetzter Arbeit mit einer aufrich-
tigen und tiefempfundenen Ehrfurcht für seine Kunst
erfüllt hatten : eines Tages, als man ihn behutsam aus
einer tiefen Träumerei weckte, der er sich mit auf-
gestützten Ellenbogen und verdeckten Augen hinge-
geben hatte, entfielen ihm im Orakelton folgende er-
141
habene Worte: „Oh, meine Herren, was Hegt nicht
alles in einem Menuett!" Von jedem, der in seinem
Hause und vor seinen Augen Unterricht bei seinem
Vortänzer nahm, durfte er für die Stunde sechs Fran-
ken verlangen, ausserdem stand ihm das Recht zu,
die schönsten Frauen manches Mal mit den streng-
sten Worten zu schelten, wenn er geruhte, sie zurecht-
zuweisen. Die Absonderlichkeit seines Wesens und
die Menschen, die man bei ihtn sah, gestalteten sein
Haus zu einem der merkwürdigsten von Paris; ich
sah dort manchen englischen Dünkel sich der fran-
zösischen Zurechtweisung unterwerfen, nicht ohne
gar oft in den Versuch einer Rebellion zu verfallen ;
drei solcher Engländer umarmten mich eines Ta-
ges, weil ich eine formelle Argumentation gegen
Monsieur Marcel gewagt hatte; er hatte bestritten,
dass ich in der Lage sein könnte, sitzend und mit
gekreuzten Beinen mich in einer Ehrensache genau
so gut wie ein anderer zu behaupten. Dort hörte ich
auch wie eine Französin, der man gesagt hatte, ich
sei ein Ausländer und, was noch schlimmer war, ein
Pole, ausrief:
„Das ist nicht möglich ! Der ist ja angezogen wie
ein anständiger Mensch, der hat ja einen Anzug aus
geschorenem Samt, uud ich habe doch schon zwan-
zig Deutsche gesehen (und wer nicht Franzose ist, der
ist für diese Art Damen ipso facto Deutscher, ehe sie
wissen, aus welchem Lande er stammt) mit Anzügen
aus schwarzem Trauertuch."
Es wurde mir berichtet, dass eine Freundin dieser
selben Dame, als sie sah, wie der König von Däne-
mark in Paris federt wurde, ganz mitleidig sagte:
„Was wird der nur anfangen, wenn er in sein Land
zurückkehrt! Der wird vor Langeweile und Sehn-
sucht sterben!"
Ich kann Paris nicht verlassen ohne einige Worte
über den Herzog von Choiseul1) zu sagen, einen da-
mals in Frankreich sehr beachtenswerten Mann; von
sehr hässlichem Angesicht, von ziemlich kümmer-
licher Gestalt und bekanntermassen auf die Frauen
äusserst schlecht zu sprechen, fühlte er sich doch in
ihrer Gegenwart sehr glücklich. Eine der schönsten
und der distinguiertesten Frauen war damals mit ihm
liiert und blieb es bis ans Ende ihres Lebens; die Er-
folge, die er damals in seiner politischen Karriere er-
langte, schrieb man grösstenteils seinen Liaisons
zu. Man hatte ihn kurz vorher zum Gesandten in
Rom ernannt und man prophezeite ihm bereits einen
noch höheren Posten, indem man sagte: „Er ist bos-
haft, aber er hat Talent und ist unternehmungslustig."
Die öffentliche Meinung nannte ihn als Nachfolger
Ludwigs XV. bei Madame de Pompadour, sobald sie
nur noch die Freundin des Königs war. Die Anhäng-
lichkeit und die Achtung, die eine grosse Zahl seiner
Freunde ihm bewahrten, als er beim König in Un-
gnade fiel, sprechen zu seinen Gunsten; vielleicht
aber spielte da nur die Mode mit und seine Ungnade
wurde nur durch die Gunst der ersten Damen des
Landes verschönt, so wie sie auch die Ursache dieser
*) Etienne Francois Herzog von Choiseul (i 7 19 — 1 785) unter-
stützte das Bündnis mit Österreich gegen Friedrich den Gros-
sen und übernahm 1758 das Ministerium des Auswärtigen.
Er bewog den König zur Aufhebung des Jesuitenordens in
Frankreich, wodurch er sehr populär wurde. Später brachte
er die Vermählung Marie Antoinettes mit dem Dauphin zu-
stande. Anm. d. Herausg.
l43
Ungnade waren, indem sie ihn veranlassten in zu of-
fene Opposition gegen Madame du Barry zu treten.
Ich werde in der Folge dieser Memoiren wieder auf
ihn zu sprechen kommen ; jetzt muss ich nach Eng-
land aufbrechen.
Ein Kapitän aus dem angesehenen Geschlecht der
Stunhopes bot sich mir als Reisebegleiter an. Ich
willigte freudig ein, und wir verliessen Paris an einem
der letzten Februartage des Jahres 1 7 54-
Auf der fünften Post brach die Achse meines Wa-
gens; dieser Unfall zwang mich zu einem unerwar-
teten Aufenthalt, und ich unternahm eine ganz eigen-
artige Sache: ich schrieb einen Brief an eine Frau, die
ich in Paris oft gesehen hatte und die ich nie mehr
wiederzusehen glaubte, und erklärte ihr meine Liebe,
was ich, solange ich sie sprechen konnte, niemals ge-
wagt hatte, obgleich sie, wie ich vermute, die Absicht
in mir erraten haben musste; ich dachte nicht, jemals
eine Antwort zu erhalten; das Gegenteil trat ein; ob-
gleich ich ihr meine Londoner Adresse nicht angege-
ben hatte, spürte sie mich dort auf und ihre Antwort
gab den Anstoss zu einer Korrespondenz, die ein Jahr
lang währte; ich habe die Briefe aufbewahrt und we-
nige gibt es, die angenehmer zu lesen wären.
Auf dem Wege nach Calais sah ich Chantilly mit
der begierigen Erwartung, welche dieser Ort, wo der
grosse Conde ') gelebt hat, natürlicherweise erweckt;
r) Ludwig II. von Rourbon, Prinz von Conde, der grosse Conde
genannt (162 1 — 1686), einer der grössten Feldherren seiner
Zeit, trat als Generalissimus in spanische Dienste und kämpfte
gegen Frankreich. In dem 1659 mit Spanien geschlossenen
Frieden erlangte er völlige Verzeihung und Wiedereinset-
zung in die früheren Würden. Anm. d. Herausg.
144
reges Interesse hatte ich dort für eine Wachsbüste
Heinrichs IV., die, so heisst es, auf dem Antlitz des
Königs selbst modelliert wurde; ich gestehe jedoch,
dass ich nicht wenig erstaunt war, gleich daneben
ein Denkmal zu sehen, das dem aufgeklärten Ge-
schmack, der unter Ludwig XIV. herrschte und dessen
eine Quelle der grosse Conde selbst war, wenig Ehre
machte. In einer der Galerien von Chantilly ist dieser
Prinz in ganzer Gestalt zu sehen, an seiner Seite eine
Ruhmesgöttin, die in jeder Hand eine Trompete hält;
auf der Fahne der einen Trompete sind in Form einer
geographischen Karte all jene Orte verzeichnet, wo
der grosse Conde Kriegstaten im Dienste Frankreichs
verrichtete; auf der Fahne an der anderen Trom-
pete sind in gleicher Weise jene Orte verzeichnet,
wo er gegen Frankreich kämpfte. Aus dem Munde
des Helden entrollt sich eine Schrift, die nach der
zweiten Fahne hinweist und also lautet: „oh, quantum
poenituit .' " Im übrigen will ich hier nicht wieder-
holen, was schon so oft über die prachtvollen Stal-
lungen von Chantilly gesagt wurde, die der Enkel des
grossen Conde erbauen liess, jener, der nachdem Tode
des Herzogs von Orleans, des Regenten, Premiermi-
nister war, der Vater des jetzt lebenden Conde1).
x) Ludwig Joseph von Bourbon, Prinz von Conde(i y36 — i 8 i 8),
bildete 1792 in Koblenz eine Emigrantenarmee, trat später
in russischen und österreichischen Dienst und kehrte erst
1814 nach Paris zurück. Anm. d. Herausg.
10 Poniatowski 1^5
SECHSTES KAPITEL
ÜBERFAHRT NACH DOVER. CANTERBURY. — AN-
KUNFT IN LONDON. CHEVALIER SCHAÜB. — DAS
OBERHAUS. — DER KANZLER YORKE,LORD HARD-
WICK. — SEINE KINDER UND SEIN SCHWIEGER-
SOHN MYLORD ANSON. — TRAGISCHES ENDE
VON CHARLES YORKE. — LORD STANLEY. —
SEINE KOTERIE. DODINGTON. — MYLORD STRAN-
GE. — HAHNENKAMPF. — ICH WERDE GEORG IL
VORGESTELLT. SEIN PORTRÄT. — POPE IST IHM
ÜBEL GESINNT. DIE DARAUS FOLGENDE POLI-
TISCHE WIRKUNG. — DER HERZOG VON CUM-
BERLAND. DER HERZOG VON NEWCASTLE. —
SIR WALPOLE. — WAHL ZU WESTMINSTER. —
PITT. — MEINE TOURNEE NACH BATH, WILTON,
OXFORD, STONE-HINGE. — SIR ALLEN, DESSEN
HAUS POPE BEWOHNT HATTE. MYLORD LITTLE-
TON. — STOW. MYLORD TEMPLE. SIR GREN-
VILLE. — ENGLISCHE ERZIEHUNG. — PITTS EGOIS-
MUS. — VERÄNDERUNG DER ENGLISCHEN SIT-
TEN. — ERZIEHUNG DER MATROSEN. — MY-
LORD CHESTERFIELD. — MYLORD GRANVILLE.
illlllllttllllliiuill
Unsere Überfahrt von Calais nach Dover dauerte
neun Stunden und war folglich sehr schlecht;
je enger die See und je kürzer die Wellen bei ungün-
stigem Winde, um so mehr leiden jene, die wie ich
aufs heftigste von der Seekrankheit befallen werden.
Ich litt noch, als ich bereits in Dover auf festem Bo-
den stand, bald jedoch war ich wieder hergestellt,
aus Freude, in England zu sein und gutes Wasser
trinken zu können, denn während meines ganzen
Aufenthalts in Paris hatte ich kein gutes Wasser ge-
trunken.
Wir brachen nach Canterbury auf. Die erste Be-
kanntschaft, die ich dort beim Verlassen der Postchaise
machte, war die eines Domherrn der dortigen Kathe-
drale; bevor er vom heiligen Thomas zu erzählen be-
gann, erbot er sich, mir eine Büste von Cromwell zu
zeigen und ein durch Kanonenpulver verursachtes
Erdbeben.
Diese beiden Sehenswürdigkeiten schienen mir recht
unkanonisch zu sein; ich verfehlte die letztere, weil
es mir an Zeit gebrach; ich hörte nur noch, wie
die Herbergsmagd sich mit meinem Postillon herum-
stritt, aus welchem Lande ich stammen möge, und be-
hauptete, ich könnte kein Franzose sein und wäre
sicher etwas Besseres als ein Franzose, denn ich hielte
i48
die Gabel mit der linken Hand; ich war gewarnt, wäh-
rend meines Aufenthalts in England die Gabel nie-
mals mit der Rechten zu halten.
Der erste Mensch, der sich meiner in London an-
nahm, war Chevalier Schaub, ein geborener Schweizer
und naturalisierter Engländer. Man hatte ihn zu ver-
schiedenen Missionen gebraucht, hauptsächlich unter
Georg I. Unter Georg II. war er ziemlich lange eine
Art Bureauchef für die französische Sprache, wenn
auch ohne speziellen Titel. Sein hohes Alter und die
gewöhnliche Wandelbarkeit der höfischen Gunst wa-
ren der Grund, dass er seit einiger Zeit keine Beschäf-
tigung hatte. Unter der Regierung Augusts II. Ge-
sandter in Polen, hatte er sich dort aufs innigste mit
meiner Familie befreundet und diese Freundschaft so
bewahrt, dass er sobald er mich sah sich als mein
Vormund betrachtete; diese Bevormundung wäre mir
noch vorteilhafter gewesen, hätte ich ihn jünger vor-
gefunden. Er ging selten aus, und bei unserer Kon-
versation sah ich in ihm nur einen wohlwollenden
Greis, dessen Geist jedoch bereits in hohem Masse dem
leider nur zu gewöhnlichen Tribut des Alters verfiel.
Bei dieser Meinung wäre ich verblieben, hätte ich
nicht zufällig eines Abends länger bei ihm verweilt
als gewöhnlich. Mitternacht war vorüber, und ich
war ganz erstaunt zu hören, dass er sich plötzlich mit
einer Genauigkeit, Knappheit und Richtigkeit aus-
drückte und mit einem genialen Feuer, wie ich es
noch nie an ihm bemerkt hatte; das verlockte mich,
während mehr als zwei Stunden über allerlei Gegen-
stände höchst ergötzlich mit ihm zu konvenieren. Je
mehr ich staunte, desto mehr war ich bestrebt zu erra-
ten, weshalb er diesmal sich selbst so unähnlich schien.
i49
Am nächsten Morgen war ich ganz betrübt, ihn in sei-
nen Reden und in den Äusserungen seines Geistes noch
greisenhafter als gewöhnlich zu finden. Wenige Tage
später, um Mitternacht, war er wieder so geistreich
wie das erste Mal. Mein dritter Versuch und alle
späteren bekräftigten meinen Schluss, dass der Lärm
und die Bewegung einer so ungeheuren Stadt wie
London tagsüber die physischen Organe des Greises
zu stark beeinflussten, was seinen Geist beeinträchtigte,
und dass folglich erst die Ruhe und Stille der Nacht
seine Seele befreite.
Gleich anfangs hatte er mir gesagt: „Das jetzige
Parlament tagt nur noch morgen, Sie müssen noch
zum mindesten den ganzen Apparat sehen." Und er
empfahl mich dem. Grafen Sussex, der mich im Ober-
haus einführte. Ich gestehe, dass ich nicht wenig über-
rascht war, als ich diesen Saal betrat; ich hatte mir
von ihm eine so erhabene Vorstellung gemacht und
fand ihn, was Material, Grösse und Pracht anlangt,
weit unter unserem polnischen Senatssaal; hingegen
gab mir nichts einen solchen Ansporn, die englische
Sprache zu erlernen, wie das Bedauern, fast kein ein-
ziges Wort von dem zu verstehen, was in diesem Ober-
haus gesprochen wurde, obgleich ich meinen Shake-
speare beim Lesen zur Hälfte begriff.
Ich darf hier eine Begebenheit nicht unerwähnt
lassen, die ich, obgleich sie für mich sehr schmeichel-
haft war, mit Schweigen übergehen würde, könnte
ich nicht dadurch einen ziemlich allgemein erhobenen
Vorwurf widerlegen, den man den Engländern macht
(oder wenigstens damals machte), sie gäben sich keine
Mühe, Ausländern einen guten Empfang zu bereiten.
Lord Hardwick, der Grosskanzler Englands und
i 5o
damals Sprecher des Oberhauses, bemerkte meine An-
wesenheit mitten in der Ausübung seines Amtes und
erkundigte sich nach meinem Namen; hierauf grüsste
er mich und liess mir durch einen Dolmetsch sagen,
er freue sich über meine Ankunft in England und
würde mich mit Vergnügen bei sich empfangen. Ich
verstand sehr wohl, dass ich diese Auszeichnung dem
Bericht verdankte, den seine Söhne, die jungen Yor-
kes, die ich in Holland kennen gelernt, ihm über
mich gegeben hatten. Dennoch, ich konnte die her-
vorragendsten Persönlichkeiten aller Länder, die ich
bis dahin gesehen, in meinem Geiste an seine Stelle
setzen und fand doch keine einzige, die — so weit
ich sie kannte — während der Ausübung eines so ho-
hen Amtes in gleicher Weise gehandelt hätte.
Ich beeilte mich, von einer so liebenswürdigen Ein-
ladung Gebrauch zu machen; ich wurde mit der gröss-
ten Höflichkeit, ja sogar Herzlichkeit empfangen und
während meines ganzen Aufenthalts in England dort
immer gleich freundlich aufgenommen. Ausser dem
wohlverdienten Ruhm dieses Grosskanzlers, dem das
Oberhaus während seines achtzehnjährigen Dienstes
keinen einzigen Spruch aufhob, hatte sein Haus für
mich noch einen besonderen Anreiz, denn es war fast
das einzige von allen, die ich kennen lernen durfte,
wo zwischen Vater und Kindern eine patriarchalische
Hierarchie herrschte; bei allen anderen Engländern,
welche ich während der kurzen Zeit, die ich unter
ihnen verbringen durfte, kennen lernte, schienen die
gegenwärtigen Sitten dieses Verhältnis abgestreift zu
haben.
Ich sah diesen ehrwürdigen Mann gewöhnlich von
seinen fünf Söhnen umringt, deren ältester, damals
i5i
Lord Roystori genannt, den Huf eines der befähigte-
sten Männer Englands geniesst, den allein die Be-
scheidenheit stets von jedem Amt fernhält. Charles
Yorke, der Zweitälteste Sohn des Kanzlers, damals
Generaladvokat des Königs, wurde von der öffentli-
chen Meinung bereits als Nachfolger im Amte seines
Vaters bezeichnet. Den dritten habe ich schon früher
vorgeführt, er ist bis jetzt Gesandter Englands in
Holland. Von den beiden jüngsten bereitete sich der
eine für den Dienst der Kirche vor, der andere war
sich über seine Berufung noch nicht im klaren.
Ihre Schwester war mit dem berühmten Admiral
Anson verheiratet, dem sanftmütigsten und gesellig-
sten aller Menschen; der einzige Vorwurf, den man
ihm machen konnte, war, dass der Gegenstand, über
den zu sprechen man ihn am schwersten bewegen
konnte, gerade sein Beruf und seine berühmten Aben-
teuer waren. Man konnte es fast wörtlich meinen,
wenn man von dieser Familie sagte, bei ihren einzel-
nen Mitgliedern könne man jede Wissenschaft lernen :
Kriegskunst, Politik, Schiffahrt, Jurisprudenz, Natio-
nalökonomie, Literatur jeden Genres, all dies war
teils aus Beruf, teils aus Neigung unter ihnen vertre-
ten. Ihre Einigkeit und das mir bezeugte Wohlwollen
liessen mich dieses Haus als eine Quelle des Wissens
und der guten Beispiele ansehen.
Am innigsten jedoch befreundete ich mich mit
Charles Yorke; mir schien, dass ihm ausser all den
Tugenden seiner Eltern noch eine ganz besondere
Liebenswürdigkeit des Charakters eignete, die mich
sein tragisches Ende niemals hätte voraussehen lassen,
und doch war gerade sie dessen wirkliche Ursache.
Er hat sich nur deshalb die Gurgel durchschnitten,
i52
weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, von
Mylord Royston, seinem Bruder, so heftig mis^billigt
worden zu sein; dieser war ganz aus seiner gewöhn-
lichen Beherrschung herausgetreten, um dem jünge-
ren Bruder zu sagen, er werde den Verkehr mit
ihm abbrechen, weil er die Grosskanzlerwürde von
Georg III. in einem Augenblick und in einer Weise
entgegengenommen hatte, die der ältere mit den Über-
zeugungen der Partei, welcher sie angehörten, un-
vereinbar fand. Obgleich dies sich neunzehn Jahre,
nachdem ich England verlassen, ereignete, ergriff es
mich doch schmerzlich. Charles Yorke hatte man-
cherlei Beziehungen zu mir aufrechterhalten; je äl-
ter man wird, um so schmerzlicher empfindet man
den Verlust eines Herzensfreundes, wohl aus egoisti-
schen Gründen, denn je älter man wird, desto schwe-
rer erwirbt man sich neue Freunde. Aber selbst wenn
Charles Yorke nicht mein Freund gewesen wäre, ist
es nicht entsetzlich zu denken, dass einer der treff-
lichsten Menschen aus übertriebener Empfindlichkeit
mit eigener Hand seinen Lebensfaden durchschneidet?
Ich fühle, dass es mir bei meinem Bericht ebenso
schwer fällt, dieses Haus zu verlassen, wie es mir da-
mals in Wirklichkeit schwer fiel, in andere Häuser
zu gehen, obgleich mein Glück mir den Zutritt zu
einigen anderen auch auf ganz besondere Art ermög-
lichte.
Am übernächsten Tage nach meiner Ankunft führte
Mylady Schaub mich an einem Empfangstag bei My-
lady Petersham ein; ein Herr der Gesellschaft, dem
ich nicht vorgestellt worden war, kam auf mich zu
und sagte zu mir:
„Sie sind hier fremd, Sie haben gewiss eine Menge
i53
Fragen auf dem Herzen; ich bitte Sie, mich nur zu
fragen; ich heisse Stanley, ich bin Madame Geoffrin
Dank schuldig für den Empfang, den sie mir in Pa-
ris bereitet hat; sie hat mir über Sie geschrieben,
ich will den Dank, den ich ihr schulde, bei Ihnen ab-
tragen; ich bitte Sie, morgen zum Diner zu mir zu
kommen, ich werde Sie vier oder fünf Freunden vor-
stellen, mit denen ich gewöhnlich zusammen bin."
Es war derselbe Stanley, der im Jahre 1761 als
erster den Frieden zwischen Frankreich und England
vermittelte, dessen Erfolg später dem Herzog von
Bedford zugeschrieben wurde. Ich ging zu ihm und
traf dort unter anderen Mylord Bairington, heute
Staatssekretär im Kriegsdepartement, Mylord Strange,
einen gewissen Dodington und einige andere.
Zu allererst baten sie mich, ihre schlechte Ange-
wohnheit (so nannten sie es) zu entschuldigen, in
Gegenwart eines Ausländers Englisch zu sprechen,
denn sie wüssten, trotz der besten Vorsätze würden
sie oft in diesen Fehler verfallen. Ich beschwor sie
bei dem Wohlwollen, das sie mir bezeugten, ja nicht
Französisch zu sprechen, und auf diese Weise lernte
ich viel rascher Englisch als durch Hastin gs, meinen
Lehrer.
Dodington, den ich oben erwähnte, war einer der
seltsamsten Einwohner Englands; obgleich er das
sechzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, war
er im Park, im Theater, im Parlament gewöhnlich
in reich gestickter Kleidung anzutreffen, sogar seine
Jagdausrüstung war reich verziert, im Gegensatz zu
der Tracht der meisten Engländer; seine Equipagen,
seine Livreen, kurz alles strotzte vor Üppigkeit, und
um so bemerkenswerter ist dies, als es nur die Folge
1 54
seiner Sparsamkeit war. Dieser Mann hatte einige
Missionen im Ausland übernommen, bei denen er
mit Pomp auftreten inusste, er fand es unvernünftig,
nicht alles bis auf den letzten Rest aufzubrauchen,
was er einst hatte anschaffen müssen; er war der An-
sicht, dass, vom Spott der Einfältigen abgesehen, ein
gestickter Rock genau so dienlich wäre, die Blosse zu
bedecken, wie irgend ein Frack oder ein Überrock;
und er war so dagegen abgeblüht, dass alle Makler
und die Aufseher bei den Hahnenkämpfen und der
ganze Hof seit fünfzehn Jahren seine alte, reiche
Garderobe genau kannten. Im übrigen liebte er es,
den jungen Leuten gegenüber, die seine Gesellschaft
bildeten, einen väterlichen Ton anzuschlagen, und
man brauchte bloss seine antike Marmorsibylle zu
loben (sie war abscheulich und bildete die Zierde einer
Marmorgalerie oben an seinem Hause), dann konnte
man sicher sein, Papa Dodington in die beste Laune zu
versetzen und in ihm den angenehmsten alten Schwere-
nöter zu finden, den man sich vorstellen könnte.
Mvlord Strange bildete in dieser Gesellschaft den
vollendetsten Konstrast zu Dodington. Erbe des sehr
reichen Grafen Derby und selbst bereits sehr begütert,
trieb er die Schlichtheit in der Kleidung nicht nur
so weit wie ein Quäker, sondern sogar bis zur Un-
sauberkeit. Er führte mich zu einem Hahnenkampf;
dieses Schauspiel war mir völlig neu und um so merk-
würdiger, als ein geringfügiger umstand hierbei mich
über den Nationalcharakter der Engländer sonderbar
aufklärte. Man stelle sich drei- bis vierhundert Per-
sonen jeden Standes vor (ich sah dort gleichzeitig den
Herzog von Cumberland und einige Sänftenträger),
in einem kleinen Zimmer zusammengedrängt, all ihre
i 5 5
Leidenschaften aufs heftigste durch das Wettspiel
aufgestachelt, das dem Fremden völlig unverständlich
ist: man wähnt sich inmitten eines Hexensabbats,
solch ein entsetzlicher Lärm herrscht dort, denn
gleichzeitig stossen alle vierhundert Münder grauen-
hafte Rufe aus, entweder um auf tausend verschiedene
Arten durch ebensoviel verschiedene Wetten ihr Hab
und Gut zu riskieren, oder um ihren Eifer für die Partei
des einen oder des anderen Hahnenchampions zu be-
kunden. Der Sturm dauert so lange, als in einem der
kämpfenden Hähne noch ein Lebensfunke glimmt;
man meint, das Haus müsse einfallen. Im Moment,
wo einer der Hähne verendet (über diesen Augen-
blick täuschen die Fremden sich leicht, denn es kommt
vor, dass diese stolzen Tiere bis zu dreimal wieder
auferstehen), im Moment also, wo er wirklich den
letzten Lebenshauch ausatmet, stirbt sozusagen die
ganze Versammlung mit ihm eines plötzlichen Todes;
auf den heftigsten Lärm und die schrecklichste Er-
regung folgt mit einem Schlag die vollkommenste
Ruhe; und dieser plötzliche Übergang widerspricht
— ich glaube nur in England — jener alten Me-
tapher, die sich bisher sonst überall bewahrheitet hat:
dass eine erregte Menge dem stürmischen Meere
gleicht, dessen Wogen noch lange, nachdem die Ur-
sache des Sturmes sich gelegt, unruhig sind. In Eng-
land wird ein Aufstand von fünfzigtausend Londoner
Einwohnern, der Staat und Thron zu bedrohen
scheint, fast augenblicklich auseinandergesprengt, so-
bald nur das Gesetz vorgelesen wird, das die Strassen-
ansammlungen verbietet. Die Aufständischen kennen
dieses Gesetz auswendig, aber sie scheinen ihren Ruhm
darein zu setzen, es sich von einem einzigen Friedens-
i56
richter oder von einem einzigen Konstabier vorlesen
zu lassen; gewöhnlich scheineu sie nur auf diese For-
malität gewartet zu haben, um sich dann ohne Lärm
und ohne Zwang zu zerstreuen und hierdurch zu be-
zeugen, dass sie das Gesetz lieben und achten. Da es
nun ein Gewohnheitsgesetz ist, bei den Hahnenkämp-
fen keinen Laut von sich zu geben, sobald auf der
Arena keine zwei lebenden Champions vorhanden sind,
so geben die Engländer keinen Laut von sich, sobald
dieser Fall eintritt; ich habe während einer Sitzung
diesen Wechsel von Sturm und Schweigen einigemal
erlebt; sie scheinen stets Herr ihrer Leidenschaften zu
sein, oder aber es hängt deren Dauer von einer me-
chanischen Triebfeder ab.
Der Leser erwartet vielleicht, dass Chevalier Wil-
liams mich bei Hofe einführen wird, aber ich traf
ihn nicht in London. Ich wurde von meinen Bekann-
ten nur an den Kammerherrn vom Dienst gewiesen,
der mich dem damals regierenden König Georg II.
vorstellen sollte. Als Williams sechs Monate vorher
nach England zurückgekommen war, hatte der König
ihn gefragt, weshalb er mich nicht mitgebracht, und
Williams hatte geantwortet, ich sei nach Paris ge-
gangen um Englisch zu lernen, ehe ich nach London
käme. Dieses sonderbare Motiv versetzte den König
in gute Laune und beeinflusste, so glaube ich, die un-
gemein liebenswürdige Aufnahme, die mir zuteil
wurde. Ich erinnere mich, dass er unter anderem sich
bei mir detailliert über die Ostrog-Affäre erkundigte,
die damals ganz Polen beschäftigte. Ich wusste ihm
Dank dafür, um so mehr als ich von den anderen Sou-
veränen, die ich gesehen, in dieser Hinsicht nicht ver-
wöhnt worden war.
I 57
Wenn ich alles, was ich über diesen Fürsten gele-
sen und gehört habe, zusammenstelle, glaube ich dar-
aus schliessen zu können, dass er ein durchaus recht-
lich denkender Mensch war, der die Angelegenheiten
mit der nötigen Beflissenheit betrieb, ohne sich jedoch
hervortun zu wollen wie jene, die alles selbst getan
und selbst erdacht haben wollen. Er war tapfer wie
alle Braunschweiger und liebte es, über den Krieg
zu sprechen ; er hatte mehreren Schlachten persönlich
beigewohnt, dennoch galt er nicht als geschickter
General; die Minister und Diener, die lange in seinem
Dienst standen, haben ihn geliebt, obgleich er im all-
gemeinen nicht freigebig war; es wurde sogar erzählt,
er habe versucht bei den Subsidien, die die Nation
den Ausländern aussetzte, Ersparnisse zu machen und
schicke jährlich ungefähr hundert Millionen Duka-
ten nach Hannover, um dort seinen persönlichen
Schatz zu mehren. Über letzteres sind die Ansichten
sehr geteilt, aber gerade das hat seinen Widersachern
den meisten Stoff geliefert, ebenso wie seine konstante
Vorliebe für alles, was zu Hannover Bezug hatte, wo-
durch seine politischen Entschlüsse manchmal in einer
Weise beeinflusst wurden, über die die Engländer sich
mit Recht zu beklagen glaubten; dennoch meineich,
hier eine Ansicht wagen zu können: wäre nicht der
Dichter Pope gewesen, so hätte Georg II. sich fünfzehn
Jahre früher der Achtung, der Verehrung und sogar
des grenzenlosen Vertrauens erfreut, mit dem sein
Volk ihn während seiner letzten Lebensjahre ehrte.
Die Natur hatte es diesem Fürsten versagt, an der
Poesie Gefallen zu finden; es waren ihm einige Be-
merkungen entschlüpft, die den Dichtern im allge-
meinen und Pope im besonderen Gleichgültigkeit und
i58
beinahe Verachtung bezeugten; in Pope sah er über-
dies einen Mann, der seiner Regierung wenig gewo-
gen sein konnte, weil er katholisch und ein intimer
Freund von Mylord Bolingbroke1) und Doktor Swift
war und als solcher im Verdacht stand, gegen die
hannoversche Erbfolge mit dem Geistdes Widerspruchs
erfüllt zu sein. Es ist lange her, seit Horaz gesagt hat:
genus irritabile vatum, und Pope dementierte nicht
diese Maxime des alten Meisters; seine Berühmtheit
war so gross, dass jeder Schöngeist en titre, jeder Mann
aus altem Geschlecht, der nach literarischem Ruhme
strebte, und sogar jene, die sich nur durch ihre Bon-
mots auszeichnen wollten, sich zu kompromittieren
fürchteten, wenn sie einer Meinung huldigten, der
Pope2) entgegentrat; er hatte in seinem Lande fast
ebensoviele Anbeter wie Voltaire heute in Frankreich.
Addison, der einzige hervorragende Schöngeist seines
Jahrhunderts, der es wagte, nicht immer Popes Freund
und ein entschiedener Whig zu sein, war bereits lange
tot, und die Regierung Georgs II. erfreute sich noch
nicht jener glänzenden militärischen und kommerzi-
ellen Erfolge, die geeignet sind jede Nation zu begei-
stern und die englische Nation mehr als jede andere.
*) Henry Saint John Bolingbroke (1678 — iySi) gehörte zur
Torypai tei, musste 1 7 1 5 nach Frankreich fliehen, da er wegen
hochverräterischer Verbindungen mit den Stuarts angeklagt
war, durfte zwar 1723 nach England zurückkehren, blieb
aber vom Oberhaus ausgeschlossen und bekämpfte deshalb
das Ministerium Walpole. Anm. d. Herausg.
*) Alexander Pope (1688 — 1744) gründete mit Swift und Ar-
buthnot eine satirische Zeitschrift „Miscellanies", in der die
zeitgenössischen Schriftsteller schonungslos gegeisselt wurden.
Anm. d. Herausg.
159
Noch ein anderer Umstand trug dazu bei, dass
Georg II. die Huldigung und die Liebe der Nation
erst so spät gewann; als Prinz von Wales war er ein
Gegner der Minister seines Vaters gewesen; als eine
Art Vergeltung war sein ältester Sohn der Feind seiner
Minister. Mylord Carteret, der spätere Lord Granville,
Mylord Chesterfield, Sir Pulteney und zahlreiche
andere der gewandtesten und begabtesten, die Sir
Robert Walpoles1) steigendes Glück mit scheelen Au-
gen ansahen, hatten es für richtig befunden, den Prin-
zen von Wales zum Haupt ihrer Partei zu ernennen,
und sowohl dieser Prinz als auch sein ganzer Anhang
glaubten sich selbst zu ehren, indem sie Pope ehrten,
welcher es so gut verstanden hatte, gegen Georg II.
den Ton der Kritik und, was noch schlimmer ist, den
Ton der Ironie anzuschlagen, dass es eines besonderen
Mutes bedurfte oder einer ungewöhnlichen Beflissen-
heit, durch Minister Walpole Karriere zu machen
und — wenn man so sagen kann — es zu wagen, sich
in schlechte Gesellschaft zu begeben, indem man sich
für den König erklärte. Doch schliesslich, wie alles
ein Ende hat, starb auch Pope, der Prinz von Wales
folgte ihm, und noch zu dessen Lebzeiten waren fast
alle seine Anhänger Royalisten geworden, indem sie
sich in Walpoles Erbe teilten.
Der Herzog von Cumberland, Georgs II. zweiter
Sohn, war nach der Schlacht von Culloden einige
l) Robert Walpole, Graf von Oxford (1676 — 1 74s), war
18 Jahre hindurch erster Lord des Schatzes und Kanzler der
Schatzkammer, unterstützte Industrie und Handel und för-
derte die amerikanischen Kolonien. Unpopulär war er durch
seine Begünstigung der hannoverschen Politik des Königs.
Anm. d. Herausg.
IÖO
Jahre hindurch der Abgott der Engländer. Als ich
nach England kam, wurde er noch von den vernünftig-
sten Leuten sehr geschätzt; er war seinem Vater stets
ein sehr zärtlicher und überaus respektvoller Sohn
und stützte in bedeutendem Masse dessen Ansehen
in der Öffentlichkeit. Als ich in England war, verlor
Georg II. den Oberschatzmeister Pelham. Der Her-
zog von Newcastle1), sein älterer Bruder, übernahm
sein Amt, das in England gewöhnlich mit dem Titel
des Premierministers verbunden ist.
Dieser wirklich merkwürdige Mensch, eine bizarre
und oft sogar komische Zusammensetzung mehrerer
einander widersprechender Eigenschaften, verwaltete
sein Amt genau so unumschränkt wie einst Walpole;
aber er wurde weniger gehasst als sein Vorgänger,
denn jener hatte sich erlaubt zu sagen, „er besitze den
Tarif jeder englischen Redlichkeit", eine geistreiche
Bemerkung, die Walpole um so teurer zustehen kam,
als er bei verschiedenen Gelegenheiten es nur zu deut-
lich zeigte, wie sehr er seine Zeitgenossen missachtete,
und ohne Hehl die Korruption zur hauptsächlichsten
und beinahe einzigen Triebfeder seiner Verwaltung
erhob.
Walpole, der von niedriger Herkunft war, gelangte
ans Ruder und hinterliess seinen Kindern eine Pair-
schaft und ein grösseres Vermögen, als er von seinem
Vater geerbt hatte.
Der Herzog von Newcastle hatte bei seinem Amts-
antritt eine Rente von fünfundzwanzigtausend Pfund
*) Thomas Pelham Holles, Herzog von Newcastle (i 694 — 1 768),
gehörte zu den eifrigsten Anhängern des hannoverschen Hau-
ses. 1754 wurde er zum Oberschatzmeister ernannt, 1765
iura Geheimsiegelbewahrer. Anm. d. Herausg.
1 1 Poniatowski 1 ß I
Sterling, bei seinem Abgang hatte er nur noch eine
Rente von neunzehntausend Pfund.
Walpole erschien immer gelassen und heiter, erha-
ben über alle Geschehnisse und über die Sarkasmen,
die ihm ins Gesicht geschleudert wurden und über die
er gewöhnlich hinwegging, ohne darauf zu erwidern.
Die Bewegungen, die Allüren, die Sprache, das
ganze Gebaren des Herzogs von Newcastle war ein
Bild der Sorge und Geschäftigkeit; man sagte von
ihm, er laufe gewöhnlich den ganzen Tag einer
Sache nach, die er am Morgen vergessen habe; bei
seinen Levers oder Audienzen kam es oft vor, dass er
sich auf einen Mann stürzte, von dem er glaubte, dass
er mit ihm etwas zu tun habe; diesen schleppte er
dann eine Stunde lang mit sich herum, während er
durch die Menge eilte und zu fünfzig anderen Per-
sonen sprach; plötzlich packte er aus dem gleichen
Grunde einen zweiten Mann und beide stiess er dann
ganz plötzlich mit erstaunter Miene zurück, als er
merkte, dass er sie mit sich herumführte, ohne im
geringsten zu wissen, was er ihnen eigentlich zu sagen
hatte. Zerstreutheiten und Missgriffe folgten einander,
er stammelte Entschuldigungen, verschwendete die
Beteuerungen seiner Dienstfertigkeit und die banalen
Popularitätsphrasen, an die er sich in seiner Jugend
gewöhnt hatte, denn damals hatte er — wie er selbst
gestand — sich mit Vorliebe an die Spitze des Wahl-
mobs gestellt. Er war durchaus kein guter Redner
und schien niemals irgend eine Sache auch nur mit
der geringsten Exaktheit anpacken zu können, so
rasch und verworren war seine Rede ; seine geschäft-
lichen Briefe dagegen (und er schrieb viele eigenhän-
dig) waren beispiellos genau und lakonisch, ohne dass
I 62
der Stoff durch die Kürze gelitten hätte; ich habe
mehrere gelesen. Er liebte nicht die geistreich-witzi-
gen Gespräche, denn er war nicht schlagfertig und
litt sehr unter der strengen und oft ungerechten Kri-
tik, der jeder englische Minister von Amts wegen aus-
gesetzt zu sein scheint ; er schien in beständiger Sorge
um sein Amt und um sein Ansehen sowohl bei der Na-
tion als auch beim König, der ihm Mylord Carteret
vorgezogen hätte, aus Neigung oder weil er ihn für
befähigter hielt, sich jedoch genötigt sah, den Herzog
von Newcastle zu behalten, weil die eifrigen Whigs
übereinstimmten, in ihm ihren berufenen Führer zu
erblicken.
Im übrigen bot die Zeit meines Aufenthalts in Eng-
land keine stürmischen Szenen dar, wie sie eine Regie-
rung in Verlegenheit bringen und für die Ausländer
ein merkwürdiges Schauspiel abgeben. Es gab damals
fast keine Opposition, so dass ich mir ohne Fährlich-
keit die Westminsterwahlen ansah, ohne Geleit irgend
eines Engländers. Ich hatte sogar den Vorzug von
einer Austernhändlerin herzlich umarmt zu werden,
die mir die beiden Kandidaten des Tages nannte,
Cross und Cornwallis, denen ich den gleichen Erfolg
wünschte wie diese Dame. Ich nenne die Händlerin
mit Absicht so, weil ich hörte, wie ein Mann in ihrer
Gesellschaft einen Kameraden, der sich vor ihr auf-
gestellt hatte, mit folgenden heftigen Worten zurecht-
wies: „It is a scoundrels behaviour to stand before the
ladies.ai)
England erfreute sich damals der tiefsten Ruhe;
kaum dass man über einen Hader in Amerika
*) Ein Schurke, wer sich vor die Damen hinstellt.
i63
zwischen französischen und englischen Kolonisten
sprach, die man nur als einen jener unvermeidlichen
Zwischenfälle an den fernsten Grenzen der Metro-
polen betrachtete. Man dachte so wenig an den Krieg,
dass ich, ganz im Gegenteil, aufgeklärte Menschen oft
prophezeien hörte, was sich erst drei Jahre später
offenbarte: so sehr habe der Krämergeist den grössten
Teil der Navigatoren und der Kriegsmarine erfasst,
so sehr scheine die Regierung alles zu vernachlässigen,
was die Wehrfähigkeit des Landes betreffe, dass das
Debüt des ersten kommenden Krieges für England
unbedingt schlecht sein und auch schlecht bleiben
werde, bis die Schmach verschiedener Misserfolge den
Nationalstolz erwecken und der englischen Regierung
einen neuen Impuls verleihen würde. Diesen Impuls
gewann sie sich erst wieder, als Georg II. den drän-
genden Bitten des Herzogs von Newcastle nachgab
und seinen persönlichen Widerwillen gegen Herrn
Pitt beiseite Hess, den letzten seiner berühmten Geg-
ner, die seine ersten Regierungsjahre bedrängt hatten,
von dessen Begabung und dessen Ansehen es jedoch
in der Öffentlichkeit hiess, sie seien zur Stütze des
Staates unumgänglich nötig.
Ich habe Pitt gesehen ; aber ich will von ihm sagen
wie Pope von Dryden: Virgilium vidi tantum. Ich
hatte nicht den Vorzug, mich mit ihm zu unterhalten.
Jedoch allein schon sein Anblick wird mir eine in-
teressante Erinnerung bleiben : von grosser Gestalt,
hager, die Physiognomie eines Adlers; mehrere Rei-
sende, die verschiedene Cäsarbüsten gesehen hatten,
sagten mir, er sei diesen ähnlich.
Ich bemerkte schon damals manches heimliche Ent-
gegenkommen des Hofes oder zumindest der Minister,
i64
die Herrn Pitt durch jenen oben erwähnten Charles
Yorke zu gewinnen versuchten, mit dem ich eine
Reise ins Innere des Landes unternahm, wo wir mit
Pitt zusammentrafen.
Diese Reise brachte mir ausser dem Vergnügen,
Bath, Wilton, Oxford, Stone-Hinge und einige andere
benachbarte Orte kennen zu lernen, noch die Be-
kanntschaft einiger hervorragender Persönlichkei-
ten ein. In der Nähe von Bath (dessen Schönheit
damals erst im Aufblühen begriffen war) kam ich in
das Haus eines gewissen Sir Allen, den Pope in sei-
nen Werken erwähnt und dessen Tochter mit Dok-
tor Warburton verheiratet war. Er hatte mit Pope
intim verkehrt und sprach mit solchem Enthusias-
mus über ihn, dass ich gewissermassen die Nähe jenes
berühmten Mannes zu fühlen begann, so lebhaft war
auch der Eindruck all dessen, was mir in diesem
Hause, wo Pope so lange gelebt und wo jedes Möbel-
stück an ihn erinnerte, über ihn berichtet wurde, und
ich verstand, wie die Geschichte der ersten Zeitalter
durch mündliche Tradition überliefert werden konnte.
Der Chevalier, nachmals Lord Lyttleton *), nahm mich
mit ganz besonderem Wohlwollen auf und bezeugte
es mir bis an sein Lebensende von Zeit zu Zeit immer
wieder. Er ist der Autor der Briefe über die Tro-
glodyten und hat auch noch andere Werke verfasst.
In Stow traf ich Mylord Temple an. den gegen-
wärtigen Besitzer, und seine Brüder, die Herren
Grenville; einer von ihnen ist inzwischen zum ersten
Schatzmeister ernannt worden. Mylord Temple zeigte
mir inmitten seiner riesigen Gärten einen Tempel der
*) George, Lord Lyttleton (1709 — 1773), englischer Staats-
mann, Historiker und Dichter. Anm. d. Herausg.
l65
Freundschaft, worin Mylord Cobham, weiland sein
Schwiegervater, von dem alle Dekorationen dieses
Ortes, sowohl die Gartenkünste wie die Bauten,
stammen, die Büste des Prinzen von Wales, Georgs II.
Sohn, aufstellen liess, sowie die Büsten aller berühm-
ten Männer, die unter des Prin/en Auspizien Wal-
pole angegriffen und schliesslich gestürzt hatten. Und
er erzählte noch folgende Anekdote: Ein Spassvogel,
der es mit erlebt hatte, wie die meisten jener illustren
Männer und schliesslich Mylord Cobham selbst aus
der Partei des Prinzen von Wales desertierten, um
sich der Hofpartei anzuschliessen, fragte diesen My-
lord Cobham, als er ihm seinen Tempel zeigte, wem
er die Schlüssel übergeben werde und wer diesen
armen, verlassenen Prinzen weiter bewachen solle?
Das Haus und die Gärten von Stow, dazumal der .
grösste Privatbesitz in England, fesselten um so mehr
meine Aufmerksamkeit, als an diesem Orte der Ge-
schmack der chinesischen Gartenkunst zum ersten-
mal zur Schau gestellt worden war. Zu meiner Zeit
hatte sich dieser Geschmack auf anderen Landsitzen
bereits verfeinert und vervollkommnet. Auf Stow
blickte man jedoch mit einer Art Verehrung, weil es
die Wiege dieses neuen Geschmacks war, der die
symmetrischen Gärten in Verruf brachte, die trau-
rigen Taxusbäume und all jene holländischen Spie-
lereien, die Wilhelm III. in England eingeführt hatte.
Diese neue Geschmacksrichtung, die hauptsächlich
darin bestand, künstliche Landschaften zu erzeugen,
hatte sich zu einer Art neuer Sekte ausgebaut und
trat mit dem Eifer und der unduldsamen Antipathie
einer solchen gegen die alte Lehre auf. Ich wagte nur
ein- oder zweimal, ein gewisses Bedauern zu äussern
166
aber die völlige Verbannung der Geradlinigkeit bei
Alleen und künstlichen Teichen. Ich sah, dass ich
Gefahr lief, die Gunst zu verlieren, die mir ziemlich
allgemein zuteil wurde, da Charles Yorke mich als
seinen Freund einführte; meine aufrichtige Geneigt-
heit, die Engländer und fast jede ihrer Geschmacks-
richtungen und ihr ganzes Gebaren zu verehren und
zu lieben, verhinderte doch nicht, dass sich verschie-
denes in ihrer Art zu sehen und zu fühlen mit meinen
Anschauungen nicht deckte.
Am meisten erstaunte mich ihre Erziehung; im
Gegensatz zu allem, was ich sonst überall gesehen,
dass man sich nämlich beeifert, die Kinder gut zu er-
ziehen, schien mir in den englischen Schulen das
Ehrgefühl völlig vernachlässigt zu werden. Die
Peitsche und nur die sehr freigebig angewandte
Peitsche scheint dort den Ausschlag zu geben, und
die Erfahrung spricht bei den Engländern für den
Erfolg. Es gibt heutzutage keine Nation, wo so viele
Individuen die lateinischen und sogar mehrere grie-
chische Klassiker verstehen und auswendig kennen;
jedoch scheinen die Lehrer an diesen Schulen sich
nur zu dieser Unterweisung verpflichtet zu fühlen;
sobald die Schulstunden vorüber sind, werden die
Kinder völlig sich selbst überlassen, als wären sie
Handwerker, die ihr Tagewerk vollbracht; sie machen
absolut nur das, was ihnen beliebt, und man ist so weit
davon entfernt, ihnen wie anderwärts gute Manieren
beibringen zu wollen, dass man nichts auszusetzen
findet, wenn ein Kind aus einem englischen College
niemanden grüsst, sich vor niemandem erhebt und
niemandem, wem es auch sei, irgend eine Zuvorkom-
menheit erweist. Im Hause ihrer Eltern sieht man
167
die zehn- und zwölfjährigen Knaben sich auf Sofas
und Tischen herumwälzen, den Fremden ihre Füsse
auf die Knie legen, wenn man sie fragt, geruhen sie
keine Antwort zu geben, — und die nachsichtigen
Eltern sagen hierzu: „fis a tnte rough school boy" 1).
Ich habe die Engländer behaupten gehört, dass,
wenn die Jugend nach den in anderen Ländern üb-
lichen Höflichkeitsmaximen erzogen wird, man ihr
die frische Originalität des eigenen Charakters raubt
und der Verlust dieser Originalität nicht wiedergut-
zumachen ist; tatsächlich trifft man sie — wenigstens
dem Anschein nach — in England häufiger an als
anderswo; ich glaube es in der Folge verständlich zu
machen, weshalb ich sage „dem Anschein nach".
Nach vollendetem fünfzehnten Lebensjahr schickt
man gewöhnlich die jungen Engländer von den nie-
deren Schulen an die Universitäten von Cambridge
oder Oxford, und es wird von ihnen erwartet, dass
sie dort Geschichte, Jurisprudenz, Mathematik, Philo-
sophie und sogar Theologie lernen. Ich glaube jedoch,
die Engländer werden mich nicht desavouieren, wenn
ich behaupte, dass trotz der wirklich sehr tüchtigen
Lehrer kaum zehn von hundert Schülern dort etwas
lernen, so gross ist die Freiheit der Studenten.
Wenn sie endlich das achtzehnte Jahr vollendet
haben, manchmal auch früher, sollen sie nach allge-
meinem Übereinkommen auf Reisen gehen ; ich war
nicht wenig erstaunt zu sehen, dass diese Nation, die
im allgemeinen den Ruf der grössten Besonnenheit
geniesst, in der Wahl eines Mentors als Reisebegleiter
genau so wenig oder noch weniger wählerisch ist als
andere Nationen (und nicht immer gibt man den>
2) Er ist ein richtiger ungestümer Schulknabe.
168
- I H£_ brave /jarfj'/ana
Josef Potocki, Woiwode von Kiew, Grosshetman der
Krone und Kastellan von Krakau, -j- 1761
Jünglingen überhaupt einen Mentor mit). So ziehen
sie denn aus, das Gehirn gespickt mit gutem Latein
und einigen englischen Klassikern und von der Über-
zeugung erfüllt, dass die Regierung, das Erdreich, die
Sitten, der Geschmack, überhaupt alles in England
besser ist als irgendwo anders. Solchermassen ausge-
rüstet und voller Missachtung für die Nationen, die
sie aufsuchen gehen, sind sie sehr erstaunt, dass sie
überall, wo sie hinkommen, von vornherein wie
Wilde angestaunt werden, weil sie nicht einmal zu
grüssen verstehen, nicht einmal wissen, wie man ein
Zimmer betritt und verlässt; da sie die „nichtssagen-
den französischen Übungen" stets verachtet haben
und gewöhnlich ausser ihrer Sprache keine andere
beherrschen, fallen sie notwendigerweise allen zur
Last und infolgedessen auch sich selbst.
Da jedoch die meisten Engländer klug und stolz
sind, empfinden sie diese Demütigung aufs lebhaf-
teste, die zwei Rückwirkungen auf sie ausübt, eine
gute und eine schlechte: die Langeweile treibt sie
fast alle dem Spiel zu und den niedrigsten Aus-
schweifungen, der Überdruss nach diesen Ausschwei-
fungen führt sie jedoch zur Lektüre, und so lernen
sie notdürftig eine andere Sprache. Da jedoch diese
Lektüre wieder ganz ungeregelt ist, erlangen sie oft
eine, wenn man so sagen kann, bizarre Gelehrsamkeit
in gewissen Dingen, mit denen sie sich zufolge der
völligen Freiheit ihrer Gedanken und Handlungen
vorzugsweise beschäftigen, während sie meist auf an-
deren Gebieten nicht über die krasseste Unwissenheit
hinauskommen. Einige wieder (ihre Anzahl ist sehr
beschränkt) geben sich den Bemühungen um die
„guten Manieren" hin oder, um es besser auszu-
169
drücken, geraten auf die Irrwege der Geckenhaftig-
keit. Wenn sie sich aber einmal dieser Neigung hin-
geben, dann übertreffen sie die berüchtigtsten Vor-
bilder aller anderen Nationen, denn auch darin fordert
der englische Stolz für sich den Vorrang.
Von der ersten ausländischen Stadt, wo sie die
äusserste rauhe Schale bereits etwas abgestreift haben,
begeben sie sich gewöhnlich nach Italien oder nach
Wien. Ihre Ausgaben bewirken, dass man sie in
ersterem Lande gut aufnimmt. Die langjährigen Ver-
pflichtungen Österreichs gegenüber England, die Anti-
pathie, welche die Deutschen Jahrhunderte hindurch
gegen Frankreich genährt haben, gestalteten auch
Wien zu einem den Engländern günstig gesinnten
Orte. Erfolge ermutigen und entfalten, ehe sie ver-
derben, — und so kommt es, dass diese jungen Eng-
länder, die vor einem Jahre beim Antritt ihrer Reise
wie Menschen von der anderen Halbkugel angestaunt
wurden, uns jetzt durch ihre Sicherheit und Anmut
in Erstaunen setzen; man darf jedoch nicht vergessen,
dass sie bei Antritt ihrer Reise eine gewisse Grund-
lage guter literarischer Rildung besassen, dass sie im
allgemeinen klug sind und dass die Demütigung bei
ihrem ersten Debüt sie gezwungen hat, ihr notdürf-
tiges Wissen zu erweitern. Der Wahrheit gemäss muss
man hinzusetzen, dass die politische Bedeutung ihrer
Nation, die Berühmtheit ihrer wirklich überlegenen
Männer und schliesslich sogar die Absonderlichkeit
ihrer Individuen in vielen Ländern ein ihnen günsti-
ges Interesse erweckt; all das zusammengenommen
bringt es zuwege, dass diese jungen Engländer nach
beendigter Reise zu sich sagen: „So, wie wir nun ein-
mal sind und indem wir nur das taten, was uns passte,
I 70
ist unsere Reise dennoch ganz gut verlaufen." Und
das bestärkt sie in der bequemen Angewohnheit, nicht
so zu sein wie alle Welt, sondern jeder nach seinem
Belieben.
Mit den Ideen und den Gewohnheiten der grössten
Freiheit erfüllt gebrauchen sie sie gar oft gegen den
eigenen Hof, und je vermögender sie von Haus aus
sind, um so länger beharren sie in dieser Opposition,
die stets von einer gewissen dem Selbstbewusstsein
schmeichelnden Volksgunst begleitet wird. Im Par-
lament und in allen Bureaus treffen sie Männer von
grösster Versiertheit in den Wissenschaften der Be-
rechnung, der Politik, des Rechts, der Geschichte
usw., neben denen sie nicht bestehen können, wenn
sie nicht so viel dazulernen, um wenigstens annähernd
ihnen zu gleichen; dadurch werden sie gezwungen,
ihre Dosis an Wissen noch zu vergrössern. Ich will
hier nicht von der Art ihrer Beredsamkeit sprechen,
denn dies würde eine besondere Abhandlung er-
fordern.
Solange also diese jungen Republikaner die patrio-
tische Rolle (oder was dafür gehalten wird) durch-
führen, beglückwünschen sich jene, die einst die true
rough school boys lobten, zu ihrer Erziehung, aber sie
sind um die Antwort verlegen, wenn man sie fragt,
warum so viele dieser Engländer, die anscheinend
doch so originell und einander so unähnlich sind, in
einem Punkte einander gleichen, nämlich im Eintre-
ten für folgende Ansicht:
„Die Republik, — sehr schön, dennoch muss vor
allem mein Individuum dort den Platz finden, der
mir passt; meine Originalität, die ich nicht abstreifen
will, hat mir bizarre und kostspielige Liebhabereien
171
angewöhnt; ich bedarf grosser Mittel, um ihnen zu
genügen, also ergreifen wir, was sich bietet; die Volks-
gunst wird mich beim Hofe in Ansehen bringen, er
wird mich brauchen; wenn ich ihn nur recht in Ver-
ruf bringe, wird er mich schliesslich kaufen, und dann
kann ich mich über den Götzen der Popularität lustig
machen, dem ich zuerst scheinbar geopfert habe; ich
bin nicht so einfältig, habe selbständig denken gelernt
und die Vorurteile zu gut abgeschüttelt, um mich in
eine lächerliche Abhängigkeit von jenen Gemein-
plätzen zu begeben, die in den alten Büchern Pflich-
ten genannt werden: Primo mihi, das ist unser Wahl-
spruch."
Ich frage jene, die fünfzehn oder zwanzig Jahre
später in England waren, ob sie nicht unendlich viele
Engländer jeden Standes diese Moral ganz öffentlich
vertreten gehört? Und woraus resultiert dieser allge-
meine Egoismus? Was hat ihn so üppig ins Kraut
schiessen lassen, wenn nicht jene Erziehung, die, an-
statt die Schüler zu lenken und zu zügeln, ihnen zu-
zurufen schien: „Jeder für sich, Gott für alle, sehet
zu, wie ihr vorwärts kommt!"
Vielleicht wird man mir einwenden, es sei wohl
leichtfertig und ungerecht, so schwerwiegende Folgen
einer so geringfügigen Ursache entspringen zu lassen,
wie es die Ausserachtlassung der „Manieren" ist; man
wird einwenden, wenn es daran in England gebricht,
so gibt es dagegen kein Land, wo man mehr von der
Gutmütigkeit (good nature) spricht und wo man sie
häufiger antrifft. Darauf entgegne ich, genau so wie
jedes Übel schrittweise fortschreitet, so wird auch das
Kind, das man daran gewöhnt, sich keinerlei Zwang
aufzuerlegen, niemandem gefällig zu sein, dessen ein-
172
ziges, all seine Handlungen bestimmendes Motiv die
Willkür ist oder die zwingende Macht der Peitsche,
die sich ihm mit dem Begriff des Schicksals verbin-
det, — so wird ein solches Kind sich notwendiger-
weise einer Geistesrichtung nähern, deren einzige
Richtschnur der Eigennutz bildet.
Man wird mir entgegnen, da müsste ja aber Eng-
land seit langem verraten und verkauft sein . . .
Worauf zu erwidern ist: „Das Leben der Staaten
währt etwas länger als das Leben der Menschen;
prüfen wir jedoch, ob auf die Apotheose des Ruhmes
und der Bedeutung, in der sich England vor kaum
zwölf Jahren l) befand, nicht ein zu rascher und sieht
barer Absturz erfolgt ist, der vielleicht ein tiefwur
zelndes Übel verkündet."
Und wieder wird man mir entgegnen: Wäre Herr
Pitt bis jetzt an der Spitze des Ministeriums seines Lan-
des geblieben, so wäre England noch jetzt die erste
Macht in Europa. Und ich würde die Antwort wagen:
Wäre Herr Pitt etwas weniger egoistisch, so wäre er
noch Minister, hätte (nach seiner Verabschiedung) nicht
die Kabalen geschürt, hätte die amerikanischen Kolo-
nisten nicht so aufgehetzt, und die Regierung befände
sich nicht in der unangenehmen Zwangslage, ent-
weder eine Nachsicht zu üben, die bereits an Schwäche
grenzt und ihren Rechten Abbruch tut, oder eine
Strenge zu zeigen, die stets grausam erscheint und
die leicht verhängnisvoll werden kann, wenn man
gezwungen wird, das Blut der Bürger zu vergiessen.
Aber weiter, ist Herr Pitt denn der Inbegriff der
ganzen Nation? Nein, gewiss nicht, und eben weil er
es nicht ist, weil die alten nationalen Tugenden und
*) Anra. des Königs: Dies habe ich 1775 niedergeschrieben.
i73
die Wirkungen der früheren Ereignisse der englischen
Geschichte auf diese Nation den Rest eines Einflusses
ausüben — ungefähr so wie die religiösen Grund-
sätze, die uns in der Jugend eingeprägt wurden,
manchmal noch einen bejahrten Libertin zurück-
halten können — , läuft die politische Maschine durch
diesen ursprünglichen Impuls weiter. Ich bin weit
entfernt zu behaupten, dass sie sich nicht wieder her-
stellen Hesse, und vielleicht wird gerade ein Umstand,
den die Engländer als ein Symptom des Verfalls an-
sehen, ihr zur Läuterung dienen.
Vor zwanzig Jahren geruhte kaum eine von vierzig
englischen Frauen französisch zu sprechen ; alle Frauen
ohne Ausnahme, sogar die rothaarigen, legten weder
Puder noch Schminke auf; sie vernachlässigten ihre
Zähne; in ihrer Kleidung und in ihrem Benehmen
bildeten sie den vollständigen Gegensatz zu den Fran-
zösinnen. Heutzutage hat nicht nur in all diesen
Punkten eine grosse Annäherung an ihre Nach-
barinnen stattgefunden, sondern sie haben auch be-
reits einen bemerkenswerten Umschwung in dem
Gebaren der Engländer bewirkt. Die Rigoristen wol-
len darin nur eine Annäherung an den monarchischen
Geist erblicken; ich im Gegenteil würde zu glauben
wagen, dass wenn diese beiden Nationen mehr mit-
einander verkehrten, als in der Vergangenheit, sie sich
gegenseitig nützen könnten: die Franzosen sind be-
sonnener geworden und weniger leichtlebig, und die
Engländer glauben zwar, dass sie nur aus Entgegen-
kommen für die Frauen ihres Landes einen Teil der
französischen Lebensart annehmen, doch sie werden
vielleicht unmerklich den Fehler ihrer nationalen
Erziehung ausmerzen, die ihnen zuerst eine über-
174
massige Freiheit verleiht, sie jedoch in der Folge
durch das Zusammenwirken verschiedener Umstände
in eine zu grosse Abhängigkeit von ihren Leiden-
schaften geraten lässt.
Da ich von ihrer Erziehung spreche, kann ich es
mir nicht versagen, ein Wort über die Erziehung
einer Klasse von Männern verlauten zu lassen, die in
jenem Lande eine wichtige Rolle spielen, nämlich die
Matrosen. Wenn man sie kennen lernt ist man ge-
neigt zu sagen, hier sei der Versuch gemacht worden,
mit welchem Mindestmass an Ideen und Kenntnissen
es möglich ist, menschliche Wesen existieren und
agieren zu lassen. Gewöhnlich treten sie bereits im
zartesten Kindesalter in den Dienst; sie hören so we-
nig von Gott und dem Teufel, dass man allen Grund
hat zu glauben, jene Geschichte habe sich tatsächlich
ereignet, die da berichtet: ein Schiffskaplan hielt sei-
nen Schäflein eine Predigt und wusste sie nicht bes-
ser vor der Übertretung der Gebote zu warnen als
durch die Versicherung, sie würden in die Hölle
kommen, so wahr er die Fliege in seiner Hand halte,
die er soeben gefangen; als er jedoch die Hand öff-
nete und die Fliege nicht fand, erlaubte er ihnen über
diesen Umstand zu glauben, was ihnen beliebte.
Ich meine, dass diese selbe Gedankenarmut am
meisten dazu beiträgt, den englischen Matrosen jene
Bravour einzuflössen, die sie so auszeichnet. Sie den-
ken nicht an das, was im anderen Leben ihrer wartet,
und bemühen sich in diesem Leben nur dem drückend-
sten Ungemach aus dem Wege zu gehen ; ein solches
sind die sehr strengen körperlichen Strafen, die ihnen
für die geringste Übertretung oder Nachlässigkeit im
Dienst zuteil werden; Gewohnheit und Erziehung
befreunden sie so gut mit dem, was man gemeinhin
Gefahr nennt, dasssiedas physische Gefühl der Furcht
verlieren oder vielmehr niemals erwerben. Sie sind
stets guter Laune, denn sobald der Dienst beendet ist,
lastet keine Sorge auf ihnen. Ihre Nahrung und die
Befriedigung all ihrer Bedürfnisse ist ihnen gesichert ;
das einzige Verlangen, das sie in Ermanglung der
Frauen an Bord nicht stillen können, wird dann in
den Häusern, die von der Regierung ad hoc begün-
stigt werden, vollauf befriedigt. Sobald sie den
festen Boden betreten, vergeuden sie ihre ganze Löh-
nung; sie erhalten die Löhnung erst an Land und
zwar für die ganze Dauer der vollbrachten Reise oder
Kampagne; sobald sie alles verausgabt haben, sehen
sie sich wieder genötigt und sind geneigt, neuen
Dienst zu nehmen und sich sofort einzuschiffen.
Wenn es einmal vorkommt, dass sie nicht ihr gan-
zes Geld bei den Weibern lassen, so geben sie das,
was ihnen noch bleibt, dem ersten besten, der sie dar-
um angeht. Es beunruhigt sie keine Sorge um die Zu-
kunft, aber auch kein Gedanke an die Schicklichkeit.
Eine ganz besondere Art Menschen, deren Leben von
einer einzigen Triebfeder gelenkt wird, der Furcht
vor körperlicher Züchtigung, doch sind sie deshalb
weder feig noch traurig. Jeder Matrose will, sobald
er seinen vierstündigen Dienst beendigt hat, von sei-
nem Recht Gebrauch machen und sich ruhig nieder-
legen, obgleich ein Gewitter heraufzieht oder das Was-
ser steigt, denn er meintjetztistan einem andern die
Reihe, das Schiff zu retten; es sei denn, dass der Kapi-
tän von seiner Macht Gebrauch macht; dann fürchtet
der Matrose nur die Strafe, nicht den Tod, denn so
wurde er auferzogen. Man könnte sagen, die Land-
I 76
iruppen gewisser Mächte seien ihnen darin gewisser-
massen ähnlich, dennoch erreichen sie nicht diese
Macht der Matrosenschule, die tatsächlich den Vorteil
hat, die Schüler in noch jüngeren Jahren abzurichten.
Die Engländer erfreuen sich auf ihrer Insel der Frei-
heit — das ist richtig, dagegen gibt es nirgends ein
despotischeres Kommando noch eine gehorsamere Un-
terwürfigkeit als jene, der man auf ihren Kriegsschif-
fen begegnet.
Ich kann England nicht verlassen, ohne noch zweier
hervorragender Persönlichkeiten dieses Landes Er-
wähnung zu tun, deren man voraussichtlich einige
Zeit gedenken wird.
Nach dem, was Doktor Mathy, Sekretär der Royal
Society, vor kurzem über Mylord Chesterfield gesagt
hat, bliebe seiner Beschreibung des Lebens und Charak-
ters des Lords fast nichts hinzuzufügen, hätte er nicht
gewisse Eigentümlichkeiten dieses berühmten Mannes
ausser acht gelassen, die mich gerade in dem Gedan-
ken bestärkten, dass, wenn ein Engländer sich irgend
einer Manie hingibt, er auch darin viel weiter geht als
irgend ein Mann einer anderen Nation. Mylord Che-
sterfield sprach ein viel korrekteres und sogar ein viel
besseres und eleganteres Französisch als alle anderen
Engländer, die ich damals gehört, zu einer Zeit, wo
der antigallikanische Geist und Ton noch viel weiter
getrieben wurde als heute; er liebte es jedoch sosehr,
mit dieser Gabe zu prahlen, dass er sich einen be-
sonderen Korrespondenten in Paris hielt, der ihm alle
neuen Ausdrücke und Redensarten mitteilen musste,
die die Mode aufkommen liess.
Noch eine andere sonderbare Gewohnheit hatte er :
er behauptete, sein Sehorgan sei ganz anders wie das
12 Poniatowski 177
aller anderen Menschen, und er lobte die Eleganz
meines grünen Fracks, während dieser doch von kaf-
feebrauner Farbe war. Auch merkte man ihm bald
eine leichte Manieriertheit der Ausdrucksweise an,
die auch aus einigen seiner Schriften spricht.
Trotz alledem und trotz seiner wirklich empfindli-
chen Taubheit fand man doch grossen Gefallen au
seiner Konversation, da er sehr geistreich und gebildet
war und auf seinen Reisen und den hervorragenden
Ämtern, die er im eigenen Lande bekleidet, viele
Leute kennen gelernt hatte. Er war einer der Schön-
redner von Walpoles Gegenpartei, sprach jedoch nie-
mals ex tempore. Stets bereitete er sich auf seine Re-
den vor; man sagte von ihm: his oratory is not in
ready money, but in hüls (sein Rednertalent ist keine
Münze, sondern ein Wechsel).
Sein Zeitgenosse, Mylord Granville (früher Carte-
ret), war damals Präsident des Kabinettsrats; er sprach
nicht so gerne Französisch wie Ghesterfield, dagegen
hatte er eine unglaubliche Leidenschaft für die spa-
nische Sprache und ganz besonders für den Don
Quijote, den er. auf seine Kosten gar prächtig
drucken Hess. Auch er war einer der heftigsten Geg-
ner Walpoles, dennoch gelang es ihm, Georgs II.
Gunst völlig wiederzugewinnen, so dass dieser Fürst
wiederholt den Wunsch äusserte, ihn an die Spitze
des Ministeriums zu stellen, doch konnte er sich dort
nicht lange halten.
Er war ein Whig, das Gros der Whigs hatte jedoch
kein Vertrauen zu ihm, obgleich alle sich über seine
hohe Begabung einig waren. Als im Jahre 1 74^ der
König darauf bestand, ihm die Stelle des Herzogs von
Newcastle zu übertragen, den er seines Amtes enthob.
178
ie;;ten einige hundertvierzig Personen in den höchsten
Stellungen ihre Amter nieder. Mylord Carteret sah
sich genötigt dem König zu sagen: „Geruhen Ew.
Majestät mich meines Amtes zu entheben, denn ich
kann die Geschäfte nicht führen; ich sehe, dass ich
die Mehrzahl des Parlaments gegen mich haben
werde." Der König sah sich gezwungen, zwei Tage
nach Mylord Granvilles Erhebung dieser Bitte zu
willfahren; die Witzbolde Hessen ein kleines Buch in
Folio-Format jedoch in Daumengrösse drucken, das
betitelt war: „Geschichte des Ministeriums Gran vi lle" ;
die zweihundert Seiten dieses Buches bestanden je-
doch nur aus zwei Zeitungsartikeln: der eine kündigte
Granvilles Berufung, der andere seine Demission an.
^9
SIEBENTES KAPITEL
MEINE ABREISE. ANKUNFT IN HOLLAND. BANGIG-
KEIT. — DER JUDE TOBIAS BOAS KOMMT MIR
ZU HILFE. — WOHLWOLLENDER EMPFANG MEI-
NER MUTTER. — DER OSTROG-REICHSTAG. —
FRANKREICHS ABSICHTEN. — DIE WOIWODIN
VON SMOLENSK. — DIE FÜRSTIN-GENERAL-
WACHTMEISTERIN. — MORALISCHER UND POLI-
TISCHER STAND MEINER FAMILIE. — DAS TRI-
BUNAL VON WILNO UNTER FLEMMING. — WILNO
UND EINE REASSUMPTION IN WILNO. — PARTEI-
GEIST IN LITAUEN. — FLEMMINGS UND SA-
PIEHAS EIFERSUCHT. — FRAUSTADT. — ICH
WERDE TRUCHSESS. — MEIN BRUDER HÄLT
MIR EINE PREDIGT. — RENDEZVOUS. ABEN-
TEUER. — ABREISE NACH RUSSLAND.
Im Juni 1754 erhielt ich von meinem Vater die Or-
der, nach Polen zurückzukehren. Ich machte eine
sehr glückliche Überfahrt von Harwich nach Helwet-
Sluyss in vierzehn Stunden. Aber noch nie hatte ich
solch eine Bangigkeit und Herzbeklemmung verspürt
als wie bei meiner Ankunft im Haag. Ich hatte we-
der getrunken, noch gespielt, noch mich mit Frauen-
zimmern abgegeben, hatte nichts von jenen Dingen
getan, die man gemeinhin Jugendtorheiten nennt, und
hatte doch das ganze Geld, das meine Familie mir
für die Reise mitgegeben l), restlos verbraucht, so dass
ich zusammen mit Cienski, einem jungen Gardeoffi-
zier, der mich begleitete, und meiner ganzen Diener-
schaft nach Bezahlung der letzten Postpferde keinen
roten Heller übrig behielt. Ich zitterte, dass irgend
ein Unfall mich in die Verlegenheit bringen könnte,
meine Mittellosigkeit gestehen zu müssen, eine Ver-
legenheit, die überall peinlich, in Holland aber viel
schrecklicher als anderswo ist, da die angeborene Ge-
*) Anm. d. Königs: Mein Vater hatte mir für diese Reise 35oo
polnische Gulden gegeben, meine Grossmutter 1000, der Woi-
wode von Ruthenien schickte mir 5oo Dukaten; damit reiste
ich fünfzehn Monate in Österreich, Sachsen, Holland, Frank-
reich und England und liess mir in Paris eine Garderobe an-
fertigen.
l8"2
^chicklichkeit der unteren Klassen dieser Nation in
Gaunerstückchen und ihre Keckheit die Ausländer
tausend Missgeschicken ausliefern.
Kaum war ich ausgestiegen, so liess ich Kauder-
bach bitten, bei mir vorzusprechen; ich hatte ihm bei
einer früheren Zusammenkunft einen Gefallen erwie-
sen, jetzt bat ich ihn um Hilfe, und eine Stunde spä-
ter brachte er mir dreihundert Dukaten, die mir auf
'-eine Gutsage hin ein Jude namens Tobias Boas vor-
streckte; an diesen Dienst erinnernd schrieb er mir
später nach meiner Erwählung einen Glückwunsch-
brief, den ich aufs freundlichste beantwortete.
Am nächsten Tage reiste ich weiter und kehrte ei-
ligst über Hannover und Dresden nach Warschau zu-
rück in der sicheren Annahme, Landbote zu werden.
Bei meiner Ankunft liess meine Mutter mir nur die
Zeit, meinen Vater zu begrüssen, dann nahm sie mich
<ofort beiseite um mich zu fragen, wie viel Schulden
ich gemacht. Als ich ihr antwortete, ich wäre nur drei-
hundert Dukaten im Haag schuldig, glaubte sie einen
Augenblick, dass ich ihr nicht alles gestehen wollte;
meine Wahrhaftigkeit kennend, schenkte sie jedoch
meinen Beteuerungen bald Glauben und sagte: „Das
wird bezahlt." Gleich darauf führte sie mich an ein
Fenster, um mir eine (für jene Zeiten) prächtige Equi-
page zu zeigen, die für mich bestimmt war, und alles
an diesem Tage schien mir eine weitere Reihe ange-
nehmer Tage zu verkünden. Aber das war nur ein
trügerischer Traum von kurzer Dauer, der bald den
drei traurigsten Monaten meines Lebens weichen
musste.
So zärtlich und wohlwollend meine Eltern beim
«ersten Empfang waren, ebenso missmutig und mit
i83
tausend kleinen Dingen unzufrieden waren sie her-
nach, und die geringfügigen Ursachen ihrer Unzu-
friedenheit Hessen mich diese um so schmerzlicher
empfinden, als ich fand, dass sie ungerecht waren,
und ich sie doch herzlich liebte. Später glaubte ich
zu verstehen, dass diese Übellaune seitens meiner
Mutter mehr gewollt als aufrichtig war und sie mich
dadurch zu grösserer Sorge um meine häuslichen An-
gelegenheiten anzuhalten gedachte, die ich ihrer An-
sicht nach zu leicht nahm.
Doch jetzt versetzte es mich in eine tiefe Melan-
cholie, die sich noch bedeutend durch die Idee ver-
stärkte, dass man mich nicht lange genug in Frank-
reich und England gelassen, wo ich tatsächlich nui
ein Viertel von allem gesehen hatte, was ich zu sehen
und zu studieren gewünscht. Noch viel schmerzlicher
wurde dieses Bedauern, als meine Eltern mir erklär-
ten, sie wünschten nicht, dass ich mich zum diesjäh-
rigen Reichstag als Landbote wählen Hesse, und zwar
aus dem Grunde, weil mein Schwager wegen der be-
rühmten Ostrogaffäre in offenem und sehr lebhaftem
Gegensatz zu meinen Oheimen Czartoryski stand umi
meine Eltern nicht wollten, dass ich auf dem Reichs-
tag in die Lage geriete, entweder gegen meinen
Schwager oder gegen meine Oheime aufzutreten.
Diese aufgezwungene Untätigkeit kränkte mich
tief, sie erschien mir demütigend; ich beneidete jene,
die Gelegenheit hatten, sich auf diesem Reichstag
auszuzeichnen.
Vier Landboten lenkten die meiste Aufmerksam-
keit auf sich. Von diesen sind Skrzetuski und Da.-
browski tot, Sosnowski (heute litauischer Feldhet-
man) und Czaplic (jetzt Oberjägermeister der Krone)
184
Franziskus Salesius Potocki, Woiwode von Ki
ew, ]• 1772
erlangten damals den Ruf mutiger und beredter Pa-
trioten. Sie gehörten zur Partei meiner Oheime, waren
also Gegner des Grosshetmans und des Hofes. Man
kann sich leicht vorstellen, wie verlockend es für
einen jungen, aus England heimgekehrten Menschen
sein musste, eine Rolle zu übernehmen, die nicht nur
Mut erforderte, sondern auch gerecht war.
Folgende Umstände hatten in mir diesen Glauben
erweckt: Der Rezess des Reichstags vom Jahre 1677
hatte diese Angelegenheit in Schwebe gelassen. Kein
einziger späterer Reichstag hatte sie entschieden, und
offensichtlich konnte nur ein Reichstag sie gesetzlich
regeln. Die Zulassung der Malteser zur Nutzniessung
der Ostrogskischen Resitzungen wurde allgemein als
dem Staate schädlich erachtet und unvereinbar mit
dem Wortlaut des Gesetzes vom Jahre 1609, welches
als Erben der Ostrogskischen Besitzungen nur Bluts-
verwandte näheren oder entfernteren Grades zuzu-
lassen schien.
Und doch sah ich, dass der Grosshetman durch mi-
litärische Übermacht eine Sache entscheiden wollte,
die zum mindesten zweifelhaft war, und zwar auf
solche Weise, dass ein begüterter Edelmann, Fürst
Janusz Sanguszko, Marschall des litauischen Hofes,
ohne richterliches Dekret von seinem sehr ansehnli-
chen Gute vertrieben wurde und dieser sehr reiche
Magnat sich plötzlich sogar dergrössten Armut gegen-
übersah, aus der er sich nur dadurch retten konnte,
dass jene, zu deren eventuellen Gunsten er seinen Be-
sitz verschrieben, zu seinem Unterhalt beisteuerten.
Der verstorbene König hatte sich verleiten lassen,
die Schritte des Grosshetmans durch königliche Akte
zu unterstützen und zu ermutigen; diese Akte wurden
1^
damals ziemlich allgemein als ungesetzlich angesehen
und verletzten mich um so mehr, als man Grund zu
der Annahme hatte, sie wären niemals zustande ge-
kommen ohne den neuerlichen Einfluss Mniszechs,
des Marschalls der Krone und eines Schwiegersohnes
des Grafen Brühl, der durch diese Sache eine Gelegen-
heit suchte, meinen Oheimen entgegenzuarbeiten und
sie zu demütigen.
Auch Frankreich hatte seine besonderen Absichten
und Gründe (sie sind fast aller Welt verborgen ge-
blieben), den Grosshetman zu unterstützen. Diese
Absichten Frankreichs waren (wie ich es erst viel
spater erfuhr): durch die Unruhen, die diese Ange-
legenheit in Polen verursachte, der Partei des Gross-
hetmans und der ihm günstig gesinnten Krone ein
solches Übergewicht über die von Russland unter-
stützte Partei der Czartoryskis zu verschaffen, dass
schliesslich der Vorwand zu einer Konföderation ge-
geben wäre; diese nun gedachte Frankreich durch
Geld und Waffenlieferungen (einige tausend Stück
gelangten tatsächlich heimlich nach Danzig) und
durch die Truppen des Königs von Preussen zu ver-
stärken, und das alles sollte gemeinsam gegen Russ-
land auftreten, denn es hatte Frankreich schmerzlich
berührt, dass Russland bereits zweimal durch die
Anwesenheit seiner Truppen in Deutschland die Ent-
scheidung der Kriege der Bourbons gegen das Haus
Österreich beeinflusst hatte. Frankreich gedachte so-
gar, zur Ausführung dieses Projektes nach und nach
Schweden mit der Pforte zusammenbringen zu kön-
nen, und dieses Projekt hätte vielleicht dahin geführt,
dem sächsischen Hause die Sukzession des polnischen
Thrones zu sichern.
»86
Die wirklichen Motive Frankreichs waren mir da-
mals unbekannt; da jedoch der König von Preussen,
sein damaliger Bundesgenosse, in dieser Affäre mit
ihm gemeinsam handelte, erschien mir diese preussi-
sche Unterstützung noch als ein weiterer Makel der
Partei des Grosshetmans.
Da andererseits mein Herz und mein Verstand
einen grossen Unterschied zwischen dem Grosshet-
man und meinen Oheimen machte, und zwar zugun-
sten der letzteren, erfüllte es mich in Anbetracht all
der Umstände mit bitterem Schmerz, in diesem Au-
genblick zur Untätigkeit verdammt zu sein.
Da kam Williams an; er dachte genau so wie ich,
weil er sich einerseits gegen Frankreich und den Kö-
nig von Preussen auflehnte, andererseits auch den
Woiwoden von Ruthenien ungemein schätzte.
Nichts konnte mich über meine Untätigkeit trö-
sten, ich war aller Vergnügungen überdrüssig und
glaubte nicht einmal an die Möglichkeit, dass irgend
eine Frau an mir Gefallen finden könnte, so närrisch
und widerwärtig kam ich mir vor.
In dieser Geistesverfassung traf mich mein guter
Freund Graf Rzewuski an, der damals als der elegan-
teste junge Mann Polens galt und von dem schönen
Geschlecht sehr begünstigt wurde; er kam, um mir
zu sagen: „Ich gratuliere dir zu deinem Glück: eine
sehr hochstehende und bisher unbescholtene Frau
will dich haben ! "
Anfänglich wollte ich ihm nicht glauben, ihn nicht
einmal anhören. Als er nicht nachgab, erkundigte ich
mich endlich nach dem Namen der Dame1). Ich sollte
J) Es war Johanna Sapicha, die Gattin von Peter Sapieha,
Woiwoden von Smoleiisk. Anna. d. Herausg.
187
raten. Ich nannte alle Frauen Warschaus ehe ich auf
jene verfiel, die meiner Überzeugung nach bei ihrer
extremen Heiterkeit, Jugend und Beliebtheit am we-
nigsten mit einem so grämlichen Manne sympathie-
sieren konnte, der so wenig sprach und auch noch
nie das Wort an sie gerichtet hatte. Ich konnte kaum
annehmen, dass sie mich überhaupt kannte, da doch
eine ganze Schar sie umdrängte. Doch Rzewuski (der
mit ihr sehr liiert war) sagte zu mir:
„Nun ja, als ich ihr mein Erstaunen ausdrückte,
dass sie noch keine Wahl getroffen, und sie mich ra-
ten Hess, wem sie am günstigsten gesinnt sei, habe
ich genau dasselbe getan wie du jetzt: ich habe dich
zu allerletzt genannt! Und doch hat sie gerade dich
erwählt, und wenn du mir nicht glauben willst, so
sprich mit ihr und du wirst sehen!"
Derselbe Abend überzeugte mich, dass er die Wahr-
heit gesprochen. Mein Erstaunen, meine Dankbar-
keit, die Traurigkeit, in der ich dahin geschmachtet,
und vor allem die geschmeichelte Eigenliebe beein-
flussten mich mehr als eine wirkliche Neigung. Ich
hielt mich für verpflichtet, dieses Abenteuer regel-
recht weiterzuführen. Vierzehn Tage hindurch war
die Dame mir huldvoll geneigt, aber sobald sie sah.
dass ich mich ernsthaft engagierte, stiess sie mich
plötzlich zurück und liess auch den sonderbarsten
Launen freien Lauf, die je eine Schöne sich erlaubt,
um mich zur Verzweiflung zu treiben. Ich war noch
ein Neuling und nahm alles wörtlich, vor allem re-
dete ich mir ein, nur durch fortgesetzte Treue, Auf-
richtigkeit und eine genaue Protokollierung meines
Tuns und Lassens mit allen seinen Folgen und Kon-
sequenzen würde ich schliesslich meine Dame doch
188
bezwingen, so wie man ein Rechenexempel löst. Ich
sah nicht, dass ich für diese lustige Kokette ein Spiel-
zeug war, ein neues und ganz anderes Spielzeug als
alle ihre bisherigen Courtisans; es belustigte sie, einen
zweiundzwanzigjährigen Menschenfeind Feuer fan-
gen zu lassen. Solchermassen amüsierte sie sich zwei
Monate, dann reiste sie in die Provinz zu ihrem
Gatten, von dem sie erzählte, er wäre sehr eifersüch-
tig; vor und nach ihrer Abreise ehrte sie mich durch
ihre Korrespondenz und ich fand stets, dass sie mich
schriftlich innig liebte, in Präsenz jedoch ganz und
gar nicht; das alles bildete einen Kontrast, der mich
quälte und mich oft fühlen liess, ich hätte meine
wirkliche Bestimmung verfehlt.
Täglich kam ich mit meiner Cousine zusammen,
die sogar Gefallen daran fand, meine Beziehungen zu
der Dame zu begünstigen; damals gab sie vor, sie
sehr zu lieben. Über alles waren wir ein und dersel-
ben Ansicht : über die Leute, das Vorgehen, die Lek-
türe, die Kunst, die Vergnügungen; wir besprachen
alles und waren uns in unserem Geschmack und Ur-
teil stets einig. Es war für mich das zärtlichste Ver-
hältnis und ich fühlte unwillkürlich, dass ich in die
andere nur aus einer Art Hartnäckigkeit verliebt war,
dass diese jedoch mein Herz, meine Achtung und mein
Vertrauen besass. Ich fand, dass ihr mehr Verstand
und mehr Gefühl eignete als allen anderen Frauen. Sie
schien damals über alle Schwächen ihres Geschlechts
erhaben, als stammte sie aus einer höheren Sphäre,
und es beglückte mich bereits, wenn sie nur geruhte
das Wort an mich zu richten. Dies alles band mich
immer fester an den Fürst-Woiwoden von Ruthenien,
der seinerseits die ganze Grazie und Scharfsinnigkeit
189
seines Geistes auf mich wirken Hess und es besser al>
jeder andere verstand, meiner Treuherzigkeit und
Sensibilität zu schmeicheln.
Ich sah meinen Vater sich mit fortschreitendem
Alter mehr und mehr von den Geschäften zurückzie-
hen, während alle politischen Manöver und Hand-
lungen durch meine Oheime aufs beste geführt wur-
den. Meine Mutter befasste sich meiner Meinung nach
zu sehr mit dem Unrecht, das ihr Bruder ihr einst
zugefügt, und mit der Sorge um meine Zukunft, in-
dem sie mich allzu sorgfältig jegliches vermeiden liess,
was mich mit den Machthabern in Kollision bringen
konnte.
Sechs Monate später durfte ich mich jedoch schad-
los halten. Fürst Radziwül, der Woiwode von Wilno
und litauische Grosshetman, derselbe, von dem be-
reits früher die Rede war, hatte seinen Sohn, den
heutigen Woiwoden von Wilno, auf dem Landtag
von Maria Lichtmess des Jahres 1755 zum Landbo-
ten wählen lassen mit der Absicht, ihm das Mar-
schallsamt des diesjährigen Tribunals zu verschaffen.
Allein schon der Gedanke, ein so junger, schlecht er-
zogener, unwissender und übel beratener Mensch
könnte der Gerichtsbarkeit der ganzen litauischen Pro-
vinz vorstehen, versetzte alle Notabein in grösste Be-
stürzung. Mein Onkel, der Kanzler, sah darin ausser-
dem noch einen Versuch der Hofpartei, zu der Rad-
ziwül gehörte, sich ein Übergewicht zu verschaffen.
Er verdoppelte seine Umsicht und veranlasste seine
beiden Schwiegersöhne Flemming und Sapieha, sich
nach Wilno zu begeben, um wenn möglich dort Ein-
spruch zu erheben oder zumindest zu versuchen,
diesem sonderbaren Marschall die grösstmöglichste
190
Anzahl rechtschaffener und befähigter Richter beizu-
gesellen.
Meine Eltern meinten, dies Schauspiel könnte für
mich interessant und belehrend werden, und Hessen
mich daher in Begleitung des Grossschatzmeister-
Gralen Flemming hinfahren.
Flemming liebte mich damals sehr. Dieser merk-
würdige Mann verdient es, dem Leser besser bekannt
zu werden. In Pommern geboren und auferzogen,
hatte er in seiner Jugend in Frankreich gedient; der
Titel eines Neffen des Feldmarschalls Flemming, er-
sten Ministers Augusts II., führte ihn nach Sachsen
und später hierher; als August II. starb, war Flem-
ming mit der Fürstin Wisniowiecka in einer Weise
liiert, die ihm einen grossen Einfluss auf den Geist
ihres Mannes sicherte, damals einer der Hauptpersön-
lichkeiten Litauens 1). Flemming gelang es, ihn so stark
zu beeinflussen, dass er während der Wahl Leszczyii-
skis im Jahre 1734 beinahe als einziger polnischer
Magnat für August III. eintrat, und das brachte
Flemming alsbald die Starostei von Szereszöw und
das Amt eines litauischen Artilleriegenerals ein.
Bald gesellte sich seinem beginnenden Glücke der
Rufeines geschickten Landmanns und Financiers, so
dass er zum Pächter der königlich-litauischen Öko-
nomie ernannt wurde. Hier bereicherte er sich sehe
und erlangte die Mittel, das Amt eines Grossschatz-
kanzlers zu kaufen, gestützt auf seine Eigenschaft
eines Schwiegersohnes des litauischen Kanzlers, des-
sen zwei ältesten Töchter er hintereinander geheira-
tet hatte.
') Der Kanzler Michael Wisniowiecki wurde später litauischer
Grosslietman.
IO 7
So sehr er durch seine originellen und lustigen Ein-
fälle oft gefiel, so beschwerlich war er seinen Freun-
den durch seine plötzliche sprunghafte Übellaunig-
keit, der er sich häufig hingab. Sein ganzes Wesen
und Gebaren schien durchaus nicht mit den Sitten
und dem Wesen der Polen und der Sarmaten zu
sympathisieren, mit denen er oft zusammenleben
musste, deren Sprache er jedoch nur schlecht be-
herrschte, obgleich er ebenso wie sein Onkel als ge-
bürtiger Pommer im Besitz des polnischen lndigenats
war. Er verweigerte oft die Erfüllung der Wünsche
verschiedener Petenten und brüskierte sie, trotzdem
war es ihm gelungen, sich in Litauen grosses Anse-
hen und Einfluss zu verschaffen. Einerseits vertraute
man mit Bestimmtheit seinem gegebenen Worte, an-
dererseits verschaffte ihm sein Amt eines General-
pächters der königlichen Ökonomie und eines Gross-
schatzmeisters für Litauen häufig die Gelegenheit, all
jene, mit denen er zufrieden war, sich zu verpflich-
ten und jene, die ihm missfielen, zu verdriessen, und
er verstand dies auszunützen.
Mit ihm also ging ich nach Wilno. Diese Haupt-
stadt Litauens bewahrte noch, trotz dem Verfall ihres
Handels, dem Mangel an Ordnung und den häufigen
Feuersbrünsten, die Spuren einstiger Herrlichkeit
und man begriff, dass die früheren Herzöge und Kö-
nige aus dem Hause der Jagiellonen dort prunkvoll
residieren konnten. Die Kapelle des heiligen Kasimir
ist wirklich ein schönes Stück Architektur. Ich fand
eine Brücke über die Wilia vor, doch gab es noch
keine über die Weichsel. Was meine Aufmerksam-
keit jedoch festhielt, war der Unterschied einer Wie-
dereröffnung oder (um den im Lande üblichen Aus-
192
druck zu gebrauchen) einer Reassumption des Tribu-
nals in Litauen und einer Reassumption des Tribu-
nals der Krone.
In der Krone begaben sich die Parteihäupter, vor
allem die bejahrten, nur selten persönlich zur Reas-
sumption von Piotrköw, und wenn ihre Vertreter in
der Zahl eine Stütze suchten, so bemühten sie sich
gewöhnlich, die dazu erforderlichen Individuen aus
Einwohnern der an Piotrköw angrenzenden Woiwod-
schaften zusammenzubringen; hauptsächlich lieferte
solche die Woiwodschaft von Sieradz, oder vielmehr
dort wurden sie zu Hunderten ausgeliehen, denn dort
lebte ein zahlreicher armer Adel.
Manchmal geschah es, wie im Jahre 1749, dass die
Befehlshaber der Staatstruppeu diese missbrauchten;
gewöhnlich war jedoch das Schauspiel einer Reas-
sumption von Piotrköw weit weniger imposant als
jener von Wilno, denn der Woiwode von Wilno ver-
eint gleichzeitig in seinem Amt auch die Würde
eines Starosten des adeligen Gerichtshofes dieses Or-
tes und somit die Funktion, den Eid der Deputier-
ten in einem Saale des Schlosses entgegenzuneh-
men, dessen Gouverneur er ist. Ausserdem war der
Woiwode von WTilno meist gleichzeitig auch Gross-
hetman von Litauen, weil damals noch kein Gesetz
die Unvereinbarkeit dieser beiden Würden vorschrieb,
und ferner war entweder ein RadziwiM oder ein Sa-
pieha, immer aber ein Mann aus den ersten Ge-
schlechtern der Provinz Träger dieser Würden uod
es folgte ihm zu dieser Reassumption eine zahlreiche
Schar von Edelleuten und hervorragenden Militärs.
Das Gesetz vom Jahre 17 17 untersagte in Wirk-
lichkeit den Grosshetmans, der Zusammensetzung
i3 Poniatowski '9^
der Tribunale beizuwohnen; da jedoch die gleiche
Persönlichkeit hier auch Woiwode von Wilno war,
dispensierte sie das Gesetz kraft dieser Eigenschaft
von jenem Verbote.
Wer nun die Absichten dieser Woiwoden von Wilno
durchkreuzen wollte, die durch ihre Ämter und durch
den Ort selbst, wo sie ihrer Ämter walteten, solchen
Einfluss auf die Zusammensetzung der Tribunale
hatten, der war selbstverständlich genötigt, möglichst
viele Edelleute zu seiner Unterstützung herbeizu-
ziehen, und zwar nicht nur arme, sondern auch an-
gesehene, die es wagten und vermochten, gegen die
Woiwoden von Wilno aufzutreten.
Der Marschall eines jeden neuen litauischen Tri-
bunals hatte (bis zur jetzigen Regierung) das Vor-
recht, nach eigenem Gutdünken das Register aller
Prozesse zu ordnen, welche das vorhergehende Tri-
bunal nicht entschieden hatte, und aller neuen Pro-
zesse, zu denen sich die Parteien bei Beginn des jähr-
lichen Tribunals einschrieben: dadurch wurde eine
Unzahl Litauer genötigt, bei jeder Reassumption per-
sönlich zu erscheinen.
Diese sämtlichen Umstände hatten die Litauer al-
ler Woiwodschaften allmählich daran gewöhnt, jedes
Jahr nach Wilno zu kommen; so konnte man dort
beim Zusammentritt des Tribunals gewöhnlich meh-
rere tausend Edelleute jeden Ranges sehen, die ent-
weder zur Wahrung ihrer Geschäfte, oder aus Neu-
gierde, oder zum Amüsement zusammenkamen, wie
zu einem öffentlichen Rendezvous, oder gar oft auch
gegen Entgelt und auf Kosten der grossen Herren,
die miteinander wetteiferten.
Die seit zwei Jahrhunderten bestehende Rivalität
194
zwischen den Sapiehas und den Radziwills, die etwas
jüngere Eifersucht der letzteren auf die Czartoryskis
und das bedeutende Übergewicht dieser drei Häuser
(durch ihren Reichtum und ihren Einfluss bei Hof)
über alle anderen in Litauen hatten die nationale Ge-
sinnung der Litauer unmerklich zu einer fast erblich
gewordenen Abhängigkeit von einem dieser Häuser
umgestaltet, so sehr dass die meisten es sich nicht ein-
mal vorzustellen vermochten, wie sie allein existieren
könnten, und zu guter Letzt ihre Anhänglichkeit an
ihren Patron als eine Tugend ansahen; und es war in
der Tat eine Tugend, je nachdem die Eigenschaften
des Patrons mehr oder weniger Achtung heischten.
Da jedoch die Erziehung der Radziwills sich seit
einigen Generationen schrittweise verschlechtert hatte,
konnte es geschehen, dass zur Zeit, von der ich spreche,
unter ihren ergebensten Klienten die berühmtesten
Trunkenbolde und zügellosesten Ruhestörer Litauens
zu finden waren. Sie waren dem Publikum so unbe-
quem und so missliebig geworden, dass man diese
Truppe der Eisenfresser, die das Gefolge der Radzi-
wills bildeten, allgemein nur Hajdamaken1) nannte.
Die verschiedenen Gewalttaten, die sie unter dem
Protektorat ihrer Patrone gewöhnlich ungestraft ver-
üben konnten, zwangen schliesslich ihre Landsleute,
sich zu ihrer Verteidigung ungefähr derselben Mittel
zu bedienen, mit denen sie angegriffen wurden, und
so hatte allmählich ganz Litauen einen kriegerischen
Anstrich gewonnen.
Ein ledernes, mit Seidenfäden besticktes Wams un-
*) Hajdamaken sind herumstreifende Zaporoger, vom Raube
lebende Kosaken. Im weiteren Sinne streitsüchtige, tollkühne
Männer, Gewalttäter, Räuber. Anm. d. Herausg.
i3* ig5
ter dem Obergewand, ledergefütterte Handschuhe
und Mützen bildeten die gewöhnliche Kleidung. Sä-
bel, deren Griff ein Drahtgitter umspannte und die
Katzenköpfe genannt wurden, Pistolen in den Stiefeln
und im Gürtel, sogar gezogene Musketen, die quer
über die Brust oder über die Schulter getragen wur-
den, mit scharfen Patronen, — so trugen sich die
zahlreichen Suiten, mit denen man sich in Wilno
während der acht Tage, die man — zwei Wochen
nach dem Osterfeste — dort zubrachte, gegenseitig
besuchte. Ein Fremder, der diese lärmenden Um-
züge gesehen hätte, mit Tausenden von Pferden, ge-
wappnet vom Scheitel bis zur Sohle, wie sie in Wilno
eine Woche hindurch fortwährend stattfanden, der
hätte nicht erraten, dass man sich nur gegenseitig
Besuche machte, um einen Gerichtshof einzusetzen.
Es war dort üblich, jede Nacht in den Strassen Pisto-
lenschüsse zu hören. Das war die gewöhnliche Her-
ausforderung der Nichtstuer, auch wenn es keinen
Anschlag galt.
Inmitten dieser dräuenden Umgebung ging man zu
Diners, Soupers, zum Tanze und zu Festlichkeiten, oft
auch in die Häuser der Gegenpartei, wo man während
des Balls die Geschäfte besprach auf die Gefahr hin,
beim Verlassen des Hauses die Klingen zu kreuzen.
In diese Art der Unterhandlungen also wurde ich
damals eingeführt. Es handelte sich darum, entweder
zu verhindern, dass der junge Radziwill Marschall
wurde, oder mindestens unserer Partei die Mehrheit
der Deputierten zu sichern und zwar durch verschie-
dene ähnliche Manöver, wie ich sie bei Erwähnung
der Geschehnisse von Piotrköw im Jahre 1 74^ De_
schrieben.
196
Aber beides misslang diesmal, denn Flemming und
der Vizekanzler Sapieha konnten sich nicht verstän-
digen. Flemming war von Eifersucht gegen seinen
Schwager erfasst, weil er glaubte, dass ihr gemein-
samer Schwiegervater, der Fürst Czartoryski, jenen
bevorzugte.
Graf Brühl hatte dieses Gefühl in Flemming gar
bald entdeckt. Ausserdem war es ihm nicht unbe-
kannt, dass Sapieha, den der Pädagogenton des Fürst-
kanzlers verletzte, allmählich von ihm abrückte. Er
verstand es, diese Schwächen auszunützen und zwi-
schen diese beiden Männer den Samen der Verstim-
mung auszustreuen, der zwar erst später zum Aus-
bruch gelangte, jedoch bereits jetzt den Einfluss be-
einträchtigte, den ihre Partei bei grösserer Eintracht
hätte erlangen können.
Ich sah also zuerst sehr viele fruchtlose Konferen-
zen ; hernach, am Tage der Reassumption selbst, der
damals auf den zweiten Montag nach dem Osterfeste
fiel, das ganze Ritual dieser Feierlichkeit; während
derselben legten die Eisenfresser der Radziwillpartei
bereits die Hand an den Säbel griff, da sie infolge
eines Missverständnisses glaubten, es sei die Kampf-
losung gegeben worden. Ich erinnere mich, dass ein
gewisser Ciechanowiecki seinen Säbel schon zur Hälfte
herausgezogen hatte, als Flemming ihm auf die Schul-
ter klopfte und in schlechtem Polnisch zu ihm sagte:
„Lassen Sie das, es ist nicht nötig", und zwar mit
einer ruhigen und überlegenen Miene, die ihm stark
imponierte. Meine Reise brachte mir als Resultat nur
die Bekanntschaft vieler Litauer ein, die Kenntnis ihres
Gebarens und ihrer politischen Manöver; auch sah
ich die schlechte Wirkung der Leidenschaften unse-
!97
rer Führer sich in dem Sieg unserer Gegner offen-
baren.
Achtzehnjährig wurde der junge Radziwill, der
kaum seinen Namen schreiben konnte, Marschall des
Tribunals; er benahm sich, was seine Person betraf,
noch mehr als leichtfertiger Schüler, denn als schlech-
ter Richter, aber seine Partei missbrauchte seinen Na-
men, um während der Tagung dieses Tribunals gros-
ses Unrecht und zahlreiche Ungesetzlichkeiten zu be-
gehen.
Ich verliess Wilno so betrübt, als wäre ich selbst
an dem Ereignis schuld. Mein Alter und meine Ver-
anlagung Hessen mich jede Niederlage meiner Partei
schmerzlich empfinden, ich sah in jedem Misserfolg
eine persönliche Schande und ein dem Staat zuge-
fügtes Übel, denn während der Jahre, wo das Tribunal
im Sinne meines Onkels zustande kam, wurde die Ge-
rechtigkeit weit besser gehandbabt und die Bramar-
basse der Radziwillpartei waren in weit geringerem
Masse eine öffentliche Plage. Aber es sollte sich mir
ein anderer Schauplatz eröffnen.
Im Frühling des Jahres 1 755 berief der König ein
senatus consilium nach Fraustadt. Diesmal sollte er
einem türkischen Minister Audienz gewähren, der
Polen die Thronbesteigung des neuen Sultans zu ver-
künden kam.
Jedes Erscheinen des Königs auf polnischem Bo-
den versammelte eine Menge Polen um ihn, allein
schon wegen der verschiedeneu Vakanzen, die er zu
besetzen hatte.
Dieser Umstand bewog meine Eltern, mich mit
meinem Onkel, dem Kanzler, hinzuschicken, um mich
um die Stelle des Truchsess von Litauen zu bewer-
198
ben, die damals frei war. Mein älterer Bruder l) wurde
beauftragt, sich ganz besonders für diese Beförde-
rung einzusetzen. Er war hierzu der geeignete Mann,
denn sein Zerwürfnis mit dem Woiwoden von Ruthe-
nien hatte ihn seit langem von allen Massnahmen
des letzteren ferngehalten, die in einer Opposition
zum Hofe standen. Ich hatte viele Mitbewerber: mein
Bruder verstand es, sie beiseitezudrängen und alle
Hindernisse zu überwinden, die nicht gering waren,
denn Mniszech wiederholte unaufhörlich zum Gra-
fen Brühl, man müsste die Partei der Czartoryskis
vernichten, wenn er wollte, dass die Hofpartei re-
spektiert würde, der meine Gesinnung manche Fehde
ankündigte. Graf Brühl jedoch, der genau wie sein
Fürst Polen bloss als ein Objekt zweiten Ranges an-
sah, von dem nur der Titel Vorteile brachte, sonst
jedoch kein wesentlicher Gewinn zu erlangen war,
— Graf Brühl also war allem geneigt, was ein ge-
wisses Gleichgewicht zwischen den angesehensten
Familien herstellte und allzu grosse Verbitterung und
heftige Reibungen verhinderte; daher liebte er es, die
Wohltaten des Königs auf alle Parteien gleichmässig
zu verteilen. Bei den Reichstagen verfolgte er kaum
einen anderen Zweck als ihre Auflösung, um den
König so schnell wie möglich nach Sachsen zurück-
zubringen, wo er sich viel wohler fühlte.
Dies verhalf mir zu meinem Amte, um das ich
mich nicht im geringsten bemühte, da mir das Bück-
lingemachen fremd war. Ich übertrieb sogar diese
Sorglosigkeit, und mein Bruder hielt mir dieserhalb
eine Predigt, die mir im Gedächtnis haften blieb,
weil sie sehr vernünftig war. Er sagte:
*) Kasimir, Kämmerer der Krone. Anm. d. Herausg.
1 99
„Wenn du dir nichts aus Auszeichnungen machst,
darfst du deine Rivalen nicht unnötig ärgern, indem
du welche annimmst; wenn du sie aber annimmst,
dann musst du zum wenigsten eine gewisse Dankbar-
keit bekunden. Kein geleisteter Dienst, kein überle-
gener Vorzug gestattet dir bisher, die Gnaden, die
man dir erweist, als eine Belohnung hinzunehmen,
und es ist durchaus nicht richtig zu sagen: der König
qibt nur das, tvas er kraft des Gesetzes an jemanden
vergeben muss, ebenso wie der Empfänger ihm keinen
Dank schuldet, um so weniger als er meistens ganz wahl-
los gibt. Du bist der Ansicht, dass mancher zu Un-
recht ausgezeichnet wurde: frage deine Rivalen und
selbst viele Indifferente, ob sie dein Avancement be-
gründet finden. Das sind ebenso viele Malkontente, die
der König und sein Günstling durch deine Begünsti-
gung gegen sich aufgebracht haben; wäre es nur dies,
du müsstest es ihnen anrechnen; man muss sich der
Reinheit seiner Motive genau bewusst sein und mit
grosser Wahrscheinlichkeit auf einen für das ganze
Land glücklichen Erfolg rechnen, wenn man sich um
die Rolle eines Volkstribunen bewirbt. Glaubst du
übrigens, dass ich die Mühsal der grossen Geduld und
Sorgfalt nicht spüre, deren man bedarf, um die Erfül-
lung seiner Wünsche vom Hofe zu erlangen ? Es verletzt
mich zu sehen, wie gering du die Mühe einschätzest,
die ich mir in deiner Angelegenheit gegeben ; und doch
wird es dir bei mancher Gelegenheit angenehm sein,
dass du einen angesehenen Rang bekleidest."
Mein Bruder hatte recht, ich gab es zu und er ver-
zieh mir, denn er ist wirklich ebenso gut als lebhaft
und tapfer, und das will viel sagen.
In Fraustadt traf ich meine Dame an, sie war aber
200
5»#!Ö* A?
^r^-
Karl Stanislaw Rad zi will, genannt „Panie Kochankn",
Woiwode von Wilno und litauischer Grosshetman
(Phot. Anderle, Rrakau)
noch launischer als gewöhnlich, so dass ich ihr nach
acht Tagen grösster Geduld zu verstehen gab, ich
würde sie für immer verlassen, sobald ich Fraustadt
verHess. Das rührte sie: sie gab mir ein Rendezvous,
das gleich anfangs von ihrem Manne unterbrochen
wurde. Ich hatte kaum genügend Zeit mich zu ver-
beigen; er blieb so lange, dass der Tag bereits graute,
als er sich entfernte. Ich musste meinen Abschied
kurz gestalten. So unvollständig der Erfolg dieses
Rendezvous war, behauptete sie, es hätte tiefen Ein-
druck auf sie gemacht. In meiner Seele keimte aber
bereits der Wunsch, meine Kette zu zerreissen, die
ich mehr aus Zufall denn durch eigene Wahl auf
mich genommen und die ich mehr aus einer Art Ver-
pflichtung denn aus Neigung getragen.
Als Williams das letzte Mal in Warschau war
hatte er, mit Einverständnis meiner Eltern, mich ver-
sprechen lassen, dass, wenn er jemals nach Russland
;;chen sollte, ich ihn begleiten würde; kurz vor mei-
ner Abreise nach Fraustadt schrieb er mir, er sei zum
Gesandten an jenem Hofe ernannt worden, und ge-
mahnte mich an mein Versprechen.
Meine Eltern ergriffen willig diese Gelegenheit,
mich in ein Land zu schicken, dessen Kenntnis sie
seit langem für mich als erforderlich erachteten; aber
so sehr ich mich beeilte, Williams einzuholen, der
während meines Aufenthalts in Fraustadt von Dres-
den nach Petersburg aufgebrochen war, kam ich erst
nach ihm dort an, Ende Juni 1755.
Da sich mir in Petersburg eine neue Welt offenbarte,
die Zeit meiner Erziehung gewissermassen beendet
war und ich meine Kräfte frei zu betätigen begann,
beende ich hier den ersten Teil meiner Memoiren.
20 i
ZWEITER TEIL
ERSTES KAPITEL
POLITISCHE ERZIEHUNG BEI WILLIAMS. — DAS
ABENTEUER DER UNTERSCHRIFT. HJGHD1SPLEA-
SURE. — DOUGLAS UND MESSONIER. — DISPUT
ÜBER DEN FREIEN WILLEN. LEHNDORFF. — LEW
ALEXANDROWITSCH. — ERSTE ZUSAMMEN-
KUNFT. — PORTRÄT DER KAISERIN KATHA-
RINA II. — VERTRAULICHE MITTEILUNG AN
BESTUSCHEW. SEIN PORTRÄT. PORTRÄT VON
MADAME BESTUSCHEW. — PORTRÄT DER KAI-
SERIN ELISABETH. — ABRISS DER RUSSISCHEN
GESCHICHTE SEIT DEM TODE PETERS I. — POR-
TRÄT VON KATHARINA I. — PORTRÄT VON
ALEXEJ RAZÜMOWSKI. — PORTRÄT DES HET-
MANS CYRILL RAZÜMOWSKI. — ERZIEHUNG
UND PORTRÄT PETERS III. — HÖRN. — MEIN
PORTRÄT. — BESUCH IN ORANIENBAUM. KATHA-
RINAS RIVALITÄT MIT LUDWIG XIV. — LEKTÜRE
DER PUCELLE. — WINDPOCKEN. — KANZLER.
ESTERHAZY. MEINE ABREISE. HÖRN. RIGA. —
DIE TABATIERE.
Die Zeit meines ersten Aufenthalts in Russland
im Hause des Chevalier Williams war für mich
eine neuartige Schule. Seine Freundschaft zu mir
und sein Vertrauen gingen so weit, dass er mich
manches Mal die geheimsten Depeschen leseu Hess,
ich durfte sie chiffrieren und dechiffrieren. Es war
eine Art Instruktion, die mir in meiner damaligen
Stellung nur von ihm zuteil werden konnte.
Diese Intimität machte mich zum Zeugen einer
Anekdote von solcher Wichtigkeit, dass sie die Poli-
tik ganz Europas zu interessieren vermochte. Wil-
liams war beauftragt, über eine Allianz mit Russ-
land zu verhandeln, wonach gegen Vorausbezahlung
gewisser Subsidien fünfundfünfzigtausend Mann rus-
sischer Landtruppen und eine bestimmte Anzahl von
Kriegsschiffen England zur Verfügung gestellt wer-
den sollten, um gegen den König von Preussen vor-
zugehen, dessen Namen zwar im Traktat nicht er-
wähnt wurde, dessen Länder jedoch darin so deutlich
bezeichnet waren, dass ein Irrtum ausgeschlossen war.
Anfänglich hatte Williams einen raschen und für
all jene erstaunlichen Erfolg, die die Langsamkeit
des russischen Hofes zu jenen Zeiten und die Unent-
schlossenheit der Kaiserin Elisabeth kannten. Kaum
zwei Monate nach seiner Ankunft in Petersburg war
20
7
das Traktat1) unterzeichnet. Williams erhoffte sich
einen seinem Dienste entsprechenden Dank, jedoch
der Kurier, durch den er die Ratifikation des Trak-
tats erwartete, üherbrachte ihm einen Brief des Staats-
sekretärs, worin die Worte standen: „Sie haben sich
das Missfallen des Königs zugezogen, weil Sie Seine
Dignität herabgesetzt, indem Sie nach den russischen
Ministern unterzeichnet haben; ehe dieser Fehler
nicht wieder gutgemacht ist, wird der König das von
Ihnen unterzeichnete Traktat nicht ratifizieren."
Erst jetzt, nach der niederschmetternden Lektüre
dieses Briefes, bemerkte Williams das ihm unterlau-
fene Versehen; in Wirklichkeit war es nicht so ernst-
haft, wie man in England angenommen, wurde je-
doch für Williams verhängnisvoll. Er hatte auf der
Kopie, die in den Händen der Russen blieb, als erster
unterzeichnet, sie hingegen als erste auf jener, die
Williams nach England schickte. Er selbst, zwei rus-
sische Kanzler, zwei russische Sekretäre, Williams'
Sekretär und ich, also sieben Personen, die an dem
Erfolg der Sache interessiert waren, hatten an einem
Versehen partizipiert, das der Schicksalslenker offen-
bar zur Erreichung seiner Ziele herbeigeführt natte.
Anfänglich schien nichts einfacher, als es zu re-
dressieren. Die russischen Minister bekamen von
ihrer Fürstin eine leichte Rüge, wechselten dann
ohne weitere Schwierigkeiten die beiden Exemplare
aus und der englische Kurier reiste ab. Seine erste
Reise war sehr rasch vonstatten gegangen, wid-
*) Das Petersburger Traktat wurde am 3o. September unter-
zeichnet. England sollte jährlich eine halbe Million Pfund
Sterling zahlen. Anm. d. Herausg.
208
rige Winde behinderten jedoch die zweite und ver-
schiedene Unistände verursachten eine weitere Ver-
zögerung; als er schliesslich die Ratifikation zurück-
brachte, hatte sich die Szene geändert. Der König von
Preussen hatte von diesem Traktat Wind bekommen
und England hatte erfahren, dass Österreich mit
Frankreich über eine neue Allianz verhandelte. Das
führte den plötzlichen Entschluss einer Union Eng-
lands mit dem König von Preussen herbei, und jetzt
wurde die Allianz zwischen diesem und Georg IL,
durch die letzterer sich verpflichtete, keinesfalls einen
Einfall fremder Truppen in Deutschland zu dulden,
einige Tage früher unterzeichnet als jene, durch die
Osterreich im Bedarfsfalle französische Truppen zu
Hilfe rief.
Somit war der Gegenstand des von Williams mit
Russland abgeschlossenen Traktats hinfällig, welches
sich auf den alten Irrtümern des Systems aufbaute,
England, Osterreich und Russland seien die Gegner
Frankreichs und Preussens ; dies allein hätte genügt, die
Kaiserin Elisabeth misszustimmen, auch wenn sie nicht
durch die Mission eines gewissen Douglas vorbereitet
gewesen wäre, eines Jakobiten, dessen sich Frankreich
(ohne amtlichen Charakter und ganz alleiu auf dessen
Risiko hin) bediente, um neue Wege anzubahnen.
Zuerst wandte sich dieser an den Chevalier Wil-
liams, indem er sich für einen schottischen Katho-
liken, aber guten Untertan Georgs II. ausgab, der aus
Gesundheitsrücksichten im Norden reiste. Dieser Vor-
wand und der Mangel an irgendwelchen Briefen für
Williams bestärkten diesen sofort in der Annahme, es
müsse ein französischer Agent sein. Er benachrichtigte
das russische Ministerium, jedoch Douglas fand bald
i4 Poniatowski ~°(J
Mittel, einigen Ministem zu gefallen, und nachdem
er eine Zeitlang geduldet worden, gestand er ganz
offen, dass er nur der Vorläufer eines akkreditierten
Ministers sei, den Frankreich nach Russland schicken
wolle, um die Verbindung der beiden Höfe wieder-
herzustellen, die seit der Abreise des Herrn dAllion ';
unterbrochen war.
Einige Monate vor Douglas war ein gewisser Mes-
sonier vorgeschickt worden, der den Fürsten Adam
Czartoryski in Turin kennen gelernt hatte und sich
von ihm hatte Briefe mitgeben lassen, die ihm, einem
mit seinem Vaterlande unzufriedenen Franzosen, Zu-
tritt bei Williams und eine Anstellung in dessen Hause
verschaffen sollten.
Messonier wandte sich zuerst an mich, stets auf
meinen Vetter bezugnehmend. Als ich mit Williams
über ihn sprach, zeigte mir dieser eine schriftliche
Warnung, die ihm Kaiser Franz 1. einige Tage
früher hatte zukommen lassen; sie enthielt eine ge-
naue Beschreibung von Messonier und der Art, wie
er sich bei ihm einzuführen versuchen würde, um
seinen Spionendienst auszuüben. Da alles überein-
stimmte, überbrachte ich Messonier die Antwort, er
könne sich glücklich schätzen, auf einen so mensch-
lich denkenden Mann wie Williams gestossen zu seinr
der ihn nicht unglücklich machen wolle und, obgleich
er seinen Plan kenne, ihn bloss warne und ihm rate,
dieses Land so rasch als möglich zu verlassen, ihm so-
gar einen Pass verschaffen wolle, ohne den niemand
das russische Reich verlassen könne.
J) Im Jahre 1746 wurden die Beziehungen zwischen dem fran-
zösischen und russischen Hofe abgebrochen, als die russisch-
österreichische Allianz zustande kam. Anm. d. Hcrausg.
210
Messonier leugnete alles ab. ohne irgendwelche Be-
stürzung zu verraten, beklagte sich sogar, dass man
ihn eines solchen Metiers verdächtigte, welches seinem
Charakter so ferne läge.
Ich konnte ihm noch so oft wiederholen, er solle
dies sein lassen, er kenne das Land nicht, die Fran-
zosen seien hier schlecht angeschrieben (das stimmte
damals) und auf den leisesten Spionageverdacht hin
würde ihm von seiten der Regierung die strengste Be-
handlung zuteil werden, selbst wenn er zu seiner Ver-
teidigung vorbrächte, dass er nicht die Russen,
sondern den englischen Gesandten auszuspionieren
beabsichtigte; es war alles umsonst; er wollte nicht
aus Petersburg abreisen. Franzose und ohne Beruf,
war er bald verdächtig, und da die Polizei wusste,
dass er im Hause des Chevalier Williams gewesen,
wurde dieser vom Ministerium über ihn befragt. Jetzt
konnte Williams nicht mehr verheimlichen, was er
von ihm wusste, und Messonier wurde in strengste
Haft genommen. Als im Jahre 1757 der Marquis
de l'Höpital als Gesandter Frankreichs nach Russ-
land kam, erwirkte er seine Befreiung, und ich
habe seither erfahren, dass Messonier sich beson-
ders über mich persönlich beklagte und dass der
französische Hof mir dies als ein weiteres Unrecht
anrechnete, während ich doch alles getan hatte,
was in meiner Macht stand, um diesen Franzosen
vor seinem Missgeschick zu bewahren. Aber es war
nicht das einzige Mal, dass mir meine Dienste schlecht
gelohnt wurden.
Douglas machte bald solche Fortschritte, dass Wil-
liams auf diesem Schauplatz, von dem er sich eine
glanzvolle Repräsentation versprochen hatte, nur noch
«4 211
Unannehmlichkeiten widerfuhren *). Sein ungestümes
Temperament, die Sensibilität seiner Nerven und die
Kränkungen seines Selbstbewusstseins Hessen ihn bald
fühlen, wie richtig der Ratschlag des berühmten eng-
lischen Chirurgen Cheselden gewesen, den dieser ihm
vor einigen Jahren erteilt hatte : „Ziehen Sie sich von
den Geschäften zurück, sie bringen Ihnen Verderben ! "
Williams begann zu kränkeln, er wurde grämlich,
Hess sich von jedem unangenehmen Eindruck völlig
beherrschen, und ich sah diesen Mann, dessen Geist
und Überlegenheit ich so lange bewundert hatte, in
einer Weise schwach werden, dass er seine Tränen
nicht zurückhalten konnte, wenn er zweimal hinter-
einander im Spiel verlor, selbst wenn um Stecknadeln
gespielt wurde. Ein andermal wieder verfiel er um
ein Nichts in unwürdige Wutausbrüche, zu denen er
sich früher nie hatte hinreissen lassen.
Unter anderem entsinne ich mich einer Soiree, bei
der Williams sich lange mit zwei englischen Reisen-
den, namens Comb und Woodward, die damals in
Petersburg verweilten, mit Dumaresque, dem Pastor
der dortigen englischen Kolonie, und mit mir unter-
hielt; zum Schluss fiel das Gespräch zufällig auf die
endlosen Fragen des freien Willens und der Präde-
stination, sprang auf verwandte Fragen über, von
denen eine Williams zu der Rehauptung veranlasste,
es gäbe im menschlichen Leben kein einziges Ereig-
nis, dessen unglücklicher oder erfolgreicher Ausgang
*) Sir Charles Hanbury Williams litt so schwer unter dem
Eindruck dieses Missgeschicks, dass er ernstlich erkrankte
und sein seelisches Gleichgewicht nie wiedergewann. Er kehrte
bald darauf nach England zurück, wo er im Jahre i 759 durch
Selbstmord endete. Anm. d. Herausg.
2 I 2
nicht auf irgend einen Fehler oder irgend ein Ver-
dienst des Menschen zurückzuführen wäre. Ich war
der Meinung, dass z. B. ein Donner an einem heiteren
Tag oder das erste Erdbeben in einem Lande, wo es
nie vorher ein Erdbeben gegeben hatte, als Fatali-
täten angesehen werden müssten, die keine mensch-
liche Klugheit voraussehen konnte und die genüg-
ten, alle noch so geschickt kombinierten Pläne um-
zustossen.
Jeder äusserte seine Meinung: es traf sich, dass alle
meiner Ansicht zustimmten, nur Williams nicht, des-
sen Laune sich bereits verdüsterte, weil niemand seine
Meinung teilte. Die Unterhaltung stockte; ich war so
unvorsichtig, das Schweigen zu unterbrechen, um
meine Ansicht mit einem weiteren Argument zu be-
kräftigen. Williams konnte sich nicht länger beherr-
schen, er sprang auf wie ein Rasender und sagte:
„Ich kann nicht dulden, dass mir in meinem eige-
nen Hause derart widersprochen wird. Verlassen Sie
mein Haus, ich will Sie zeit meines Lebens nie wie-
dersehen."
Er verliess uns und warf die Tür seines Schlafzim-
mers krachend zu.
Die anderen verschwanden. Ich blieb allein und
überliess mich den traurigsten und beschämendsten
Gedanken. Einerseits sagte ich mir: „Diesen Schimpf
darf ich nicht auf mir sitzen lassen!" Und anderer-
seits wieder : „ Wie soll ich dies rächen ? Er ist Gesand-
ter, ja, noch mehr, er ist mein Wohltäter, denn er
war mein Erzieher, mein Lehrer, mein Vormund.
Meine Eltern haben mich ihm anvertraut, lange Jah-
re hat er mich zärtlich geliebt. Gewiss, sein Unrecht
ist gross, jedoch hätte ich seine Empfindlichkeit be-
2 i 3
rücksichtigen sollen, da ich doch seinen Zustand
kannte."
Wahrend diese widerstreitenden Gefühle in mir
kämpften, ging ich ganz mechanisch zur Tür seines
Schlafzimmers; er weigerte sich zu öffnen. Ich kehrte
in das Zimmer zurück, wo wir disputiert hatten. Die
Glastür nach dem Balkon stand auf. Ich trat auf den
Balkon hinaus; es war dunkle Nacht; ich überliess
mich tiefen Träumereien. Lange stand ich über die
Brüstung des Balkons gebeugt, da fühlte ich, wie
Verzweiflung sich meiner bemächtigte. Schon hob ich
den Fuss, um mich über die Brüstung hinabzuschwin-
gen, da fühlte ich mich plötzlich umschlungen und
kraftvoll zurückgezogen.
Es war Williams, der in diesem Augenblick hinzu-
kam. Er hatte seine Leute gefragt, was ich täte? Man
erwiderte, ich wäre schon geraume Zeit auf dem Bal-
kon. Er lief herbei und rettete mich. Lange Zeit konn-
ten wir beide kein Wort äussern. Schliesslich führte
er mich in sein Schlafzimmer. Als ich meine Stimme
wiederfand, sagte ich: „Töten Sie mich, aber sagen
Sie es nie wieder, dass Sie mich nicht mehr sehen
wollen!" Statt aller Antwort umarmte er mich, in
seinen Augen standen Tränen; er hielt mich einige
Zeit umschlungen, dann bat er mich, das Vorgefallene
zu vergessen und nie wieder zu erwähnen. Ich ver-
sprach es freudigst.
Was meine Lage auf jenem Balkon noch fürchter-
licher gestaltet hatte, war der Zustand meines Herzens,
das zu jener Zeit in der heftigsten und aufrichtigsten
Weise engagiert war. Bewunderung, Zärtlichkeit, eine
Achtung, die an Verehrung grenzte, dies alles erfüllte
in gleichem Masse meine Sinne wie meinen Geist.
2 I 4
Williams war mein Vertrauter, mein Ratgeber, mein
Helfer. In seiner Eigenschaft als Gesandter konnte er
sieh mit Leichtigkeit einer Persönlichkeit nähern, der
ich mich öffentlich nicht nähern durfte, und mir so
tausenderlei Mitteilungen verschaffen. Da ich in sei-
nem Hause wohnte, genoss ich auch aus diesem
Grunde verschiedene Sicherheiten, die ich anderswo
entbehrt hätte. Wenn Williams mit mir brach, ging
mir dies alles verloren. Und konnte ich wissen, ob
nach einem eklatanten Bruch mein Geheimnis noch
sicher war und das Geheimnis jener Persönlichkeit,
deren Wohlbefinden mir mehr galt als mein eigenes?
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich den Gedanken
einer solchen Unredlichkeit meines Freundes Willi-
ams mit Verachtung zurückgewiesen. Der jüngste
Vorfall gab jedoch meiner Vermutung Raum,dass sein
Geist sich in Zerrüttung befände und dass die Heftig-
keit seiner Leidenschaften ihn jetzt auf die gefähr-
lichsten Abwege führen könnte, ohne dass er wirk-
lich schuldig zu sprechen wäre. Jedoch diese Befürch-
tungen verflogen, sobald wir uns wieder versöhnt
hatten, denn ich liebte ihn wie einen Vater und ich
bedurfte der Hoffnung, dieser wesentlichen Triebfe-
der des Lebens und vor allem der Jugend.
Williams fiel nun der Auftrag zu, dem damaligen
russischen Grosskanzler Bestuschew jenes Geheimnis
anzuvertrauen, das ihm sechs Monate hindurch ver-
borgen geblieben war, trotz seiner Wachsamkeit und
seiner Spione und trotz seines äusserst heftigen Wun-
sches, eigenmächtig die Angelegenheiten einer Prin-
zessin zu dirigieren, die er so sehr vergötterte, dass
er beinahe in sie verliebt war.
Vergebens hatte Bestuschew es versucht, ihr die
1 1 5
von ihm erwählten Amants unterzuschieben; unter
anderen hatte er einen Grafen Lehndorff1) hierzu aus-
ersehen, der am selben Tage wie ich bei Hofe vorge-
stellt wurde und dessen Lob die fürwitzigen Höflinge
am gleichen Abend vor der Prinzessin absichtlieh an-
stimmten. Sie erwiderte, dass von den beiden der Pole
ihr besser zusage. Dieses eine Wort (das sie ohne
besondere Absicht geäussert hatte) wurde von Lew
Alexandrowitsch Narischkin, ihrem damaligen Kam-
merherrnund heutigen Oberstallmeister, aufgefangen ;
bald hierauf suchte er meine Bekanntschaft, bemühte
sich um mein Vertrauen, wiederholte mir diese Äus-
serung und berichtete mir alles, was dazu dienen
konnte, mir Hoffnungen zu machen. Lange Zeit hin-
durch vermied ich es, ihn auch nur anzuhören, so
sehr erfüllte meinen Geist die Furcht vor den Ränken
und Spionagen der Höfe im allgemeinen und vor
den schrecklichen Gefahren, die am hiesigen Hofe
jedem auflauerten, im besonderen.
Von Jugend auf war ich mit den Erzählungen der
Schreckensregierung Anna Iwanownas vertraut, deren
Name allein jeden Russen noch erzittern Hess. Ich
wusste, dass ein Saltikow mein Vorgänger war, den
die regierende Kaiserin Elisabeth unter dem Vorwand
irgend einer Mission nach Hamburg entfernt hatte,
doch wusste ich nicht, dass er der Grossfürstin Grund
zur Unzufriedenheit gegeben hatte. Ausserdem glaubte
ich auch, dass der Ehrgeiz ihre Hauptbeschäftigung
war. Ich glaubte sie von so preussischer Gesinnung
(während ich im grössten Abscheu gegen alles Preus-
sische auferzogen war), ich glaubte sie voller Ver-
achtung gegen alle, die nicht für Voltaire schwärm-
*) Anm. d. Königs : Er starb einige Jahre später.
2 16
Michael Anton Sapieha, Woiwode von
Podlesien, Vizekanzler von Litauen
(I'liot. Änderte, Krakau)
tcn, — um es kurz zu sagen, ich glaubte sie so ganz
anders, als sie in Wirklichkeit war, dass ich nicht nur
aus Vorsicht, sondern weil ich wirklich kein Ver-
langen verspürte, drei Monate hindurch allen Reden
Narischkins auswich, die mir nur Fallstricke zu sein
schienen.
Sein Benehmen war das eines Höflings, der die
Neigungen erraten will, die man ihm nicht anvertraut
hat, und der sich eines Tages dadurch verdient zu
machen hofft, dass er die Prinzessin, der er dient, so-
zusagen gegen ihren Willen durch seine Kühnheit in
eine bestimmte Bahn zwingt; er redete mir den Kopf
voll, so dass ich mich schliesslich versucht fühlte,
einige Schritte zu wagen; ganz besonders jedoch, als
eines Tages eine Bemerkung, die ich zu Narisehkin
über eine Dame am Hofe machte, wenige Augen-
blicke später von der Grossfürstin, die an mir vor-
beiging, fast mit denselben Worten wiederholt wurde,
wobei sie unter Lachen hinzufügte:
„Mir scheint, Sie sind ein Maler!"
Bald darauf riskierte ich ein Billett; am folgenden
Tage überbrachte mir Narisehkin die Antwort. Jetzt
vergass ich, dass es ein Sibirien gab! Einige Tage
später führte er mich zu ihr, ohne sie vorher benach-
richtigt zu haben ; er verständigte sie erst, als ich
bereits an der Tür ihrer Garderobe stand, zu einer
vorgerückten Stunde und an einem Orte, wo der
Grossfürst eine Viertelstunde später vorbeikommen
musste, so dass ihr, um mich zu verbergen, kein an-
derer Ausweg blieb, als mich in ihr Zimmer einzu-
lassen, andernfalls hätte sie mich und sich selbst den
grössten Gefahren ausgesetzt.
Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Erst vor kurzem
2 I
hatte sie ihr erstes Wochenbett verlassen und ihre
Schönheit war in voller Blüte zu diesem Zeitpunkt,
der bei den meisten mit Schönheit begnadeten Frauen
die höchste Entfaltung bedeutet. Der blendend weisse
Teint und die lebhaften Farben kontrastierten mit
ihrem schwarzen Haar; sie hatte grosse blaue, sehr
ausdrucksvolle Augen, schwarze und sehr lange Augen-
wimpern, eine schmale Nase, einen Mund, der zum
Küssen lockte, vollendet schöne Hände und Arme;
sie war schlank, eher gross als klein, ihr Gang war
leicht und doch voller Hoheit, der Klang ihrer Stimme
angenehm und ihr Lachen ebenso heiter wie ihre
Laune; mit immer gleichmütiger Leichtigkeit kehrte
sie von den ausgelassensten und kindlichsten Spielen
zu den Chiffren zurück, es schreckte sie weder die phv-
sische Anstrengung heim Entziffern derselben noch der
Text, so wichtig und gefahrvoll auch der Inhalt war.
Der Zwang, dem sie seit ihrer Verheiratung unter-
worfen war, die Entbehrung jeder gleichgesinnten
Gesellschaft hatten sie zur Lektüre geführt. Sie wusste
viel; von einschmeichelndem Wesen, verstand sie,
jeden bei seiner schwachen Seite zu packen, und
bahnte sich schon damals durch die Liebe des Volkes
den Weg zu diesem Thron, den sie später mit solchem
Glänze umgab.
Das war die Frau, die zur Lenkerin meines Schick-
sals wurde; mein ganzes Leben war ihr geweiht, weit
aufrichtiger, als es gewöhnlich jene behaupten, die
sich in einer ähnlichen Lage befinden. Und durch
einen sonderbaren Umstand konnte ich ihr, trotzdem
ich damals zweiundzwanzig Jahre zählte, etwas dar-
bringen, was vor ihr noch niemand gehabt.
Erstlich hatte mich eine strenge Erziehung vor
31 8
jedem verwerflichen Umgang behütet; auf meinen
Reisen hatte mich mein Ehrgeiz, in der sogenannten
„guten Gesellschaft" hochzukommen und mich dort
zu halten, davor beschützt, und schliesslich hatte bei
.allen Liaisons, die ich im Ausland, in der Heimat und
sogar in Russland anknüpfte, das Zusammentreffen
verschiedener geringfügiger Umstände es gefügt, dass
ich mich unversehrt für jene Frau bewahren konnte,
•die später über mein Los bestimmen sollte.
Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, sogar
das Gewand zu beschreiben, in dem ich sie an jenem
Tage antraf: ein einfaches Kleid aus weissem Satin,
als einzige Verzierung ein leichter Besatz von Spitzen
und rosa Bändern. Sie konnte es gar nicht begreifen,
wie es möglich war, dass ich mich tatsächlich in ihrem
Kabinett befand ; und wirklich, ich habe mich selbst
noch oft gefragt, wenn ich an Hoftagen durch diese
zahllosen Garden und die verschiedenen Wächter hin-
durchschritt, wie es möglich gewesen, dass ich schon
so oft, wie in eine schützende Wolke gehüllt, diese
Gemächer betreten konnte, nach denen ich in der
Öffentlichkeit kaum einen Blick zu werfen wagte.
Ich habe schon gesagt, dass Williams dem Kanzler
Bestuschewr mitteilte, mit welchem Interesse die Gross-
fürstin mich auszeichnete. Das war eine Notwendig-
keit. Man musste das Getriebe aufbalten, das der
Kanzler in Bewegung gesetzt hatte, um Saltikow zu-
rückzurufen, der damals in Hamburg residierte und
dem die Grossfürstin fortan lieber weitere Unter-
stützungen in seinem dortigen Amte gewähren als ihn
in Russland wiedersehen wollte. Und ferner musste
man Bestuschew bestimmen, dass er seinen Einfluss
auf das sächsische Kabinett dahin ausnützte, um mich
219
mit einem offiziellen Amte betraut an den Peters-
burger Hof zurückzubringen.
Vier Zeilen von der Hand der Grossfürstin, die
Bestuschew durch Williams übergeben wurden, ge-
nügten, um von ihm die gewünschte Zusicherung zu
erlangen.
Es ist hier wohl an der Zeit zu sagen, was für ein
Mann dieser Kanzler Bestuschew eigentlich war.
Unter der Regierung Peters I. geboren, kam er auf
Befehl dieses Fürsten in den Dienst des Kurfürsten
von Hannover, oder vielmehr zur Ausbildung an den
Hof dieses Kurfürsten, der ihn nach einiger Zeit selbst
zu Peter I. schickte, um ihm die Mitteilung seiner
Thronbesteigung als Georg I. von England zu über-
bringen.
Peter der Grosse hatte seine Freude an dem jungen
Russen, der schon ein wenig das ausländische Wesen
angenommen und einem europäischen Fürsten gedient
hatte, nahm ihn wohlwollend auf und ernannte ihn
bald darauf zu seinem Residenten in Hamburg. Später
fand er auch am Hofe von Dänemark Verwendung.
Als die Kaiserin Anna starb, befand er sich gerade
in Petersburg und spielte dort anscheinend schon
damals eine wichtige Rolle, da der Feldmarschall
Münnich ihn für würdig erachtete, als Staatsgefange-
ner in einer Festung untergebracht zu werden, indes
er selbst die Regentschalt ßirons, des Herzogs von
Kurland, stürzte.
Die Prinzessin Ann.i, die nach Birons Sturz zur
Regentin erhoben wurde, setzte Bestuschew in Frei-
heit, als Münnich seine Amter niederlegte.
Als Elisabeth Kaiserin wurde, ernannte sie ihn zum
Grosskanzler, also nach dem Brauch jenes Hofes zun»
220
Chef des Departements der auswärtigen Angelegen-
heiten und gewissermassen zum Premierminister.
So lange er nicht animiert war, konnte er keine
vier Worte im Zusammenhang sprechen und schien
zu stottern. Sobald jedoch die Konversation ihn inter-
essierte, fand er zwar in Wirklichkeit sehr inkorrekte,
jedoch ungemein feurige und energische Worte und
Phrasen, die einem Munde entströmten, worin nur
vier halb geborstene Stummel zu sehen waren, und
gleichzeitig schössen seine Augen funkelnde Blitze.
Die Flecken in seinem Gesicht mit dem leichenblassen
Teint liessen ihn noch fürchterlicher erscheinen, wenn
«r zornig wurde, was ziemlich oft vorkam; wenn er
lachte, so war es ein teuflisches Lachen.
Er verstand sehr wohl Französisch, jedoch zog er es
vor, mit Ausländern Deutsch zu sprechen, falls sie
diese Sprache beherrschten.
Er war kaum fähig, in irgend einer Sprache zu
schreiben, war sozusagen völlig unwissend und beur-
teilte die Arbeit der anderen nur instinktiv, jedoch
fast stets richtig. Er besass keinerlei angelernte Kennt-
nisse von der Kunst; und doch hätte man wetten
können, dass er von mehreren Zeichnungen stets die
schönste auswählen würde, hauptsächlich bei erhabe-
nen und edlen Dingen, so zum Beispiel wenn es sich
um Architektur handelte. Unumschränkt zu herrschen
war seine Leidenschaft. Manchmal war er auch edel-
mütiger Handlungen fähig, gerade weil er ein Gefühl
für das Schöne auf jedem Gebiet hatte, aber es er-
schien ihm so natürlich, alles aus dem Wege zu
schaffen, was seine Pläne durchkreuzte, dass er vor
keinerlei Mitteln zurückschreckte. Übrigens hatten
auch die Exempel der Schreckensherrschaften, unter
22 I
denen er erzogen wurde, seinen Geist verhärtet. Oft bot
er seine Dienste jenen an, die er seine Freunde nannte,
selbst wenn wenig delikate Mittel in Frage kamen,
und er fand es sehr sonderbar, wenn jemand hierbei
Skrupel äusserte.
In allem hartnäckig und eigensinnig, war er ein
enragierter Österreicher und ein dezidierter Preussen-
gegner, sein ganzes Leben hindurch. Infolgedessen
schlug er die Millionen aus, die ihm der König von
Preussen anbot, genierte sich aber keineswegs, Bezah-
lung entgegenzunehmen und selbst solche zu fordern,
wenn er mit. einem Minister Österreichs, Englands
oder Sachsens unterhandelte oder mit irgend einem
anderen Hofe, den er im Interesse seines Hofes be-
günstigen zu müssen glaubte. Von einem befreundeten
Fürsten eine Entlohnung entgegenzunehmen, war
seines Erachtens nicht allein ein gutes Recht, sondern
sogar eine Art Huldigung, die man der Macht seiner
eigenen Nation darbrachte, deren Ruhm er auf seine
Weise tatsächlich zu erhöhen trachtete.
Für gewöhnlich beschloss er sein Tagewerk durch
ein Trinkgelage mit ein oder zwei Vertrauten. Manch-
mal erschien er sogar betrunken vor der Kaiserin Eli-
sabeth, die dieses Laster verabscheute, und das hat
ihm bei ihr geschadet.
Sein Zorn steigerte sich oft bis zur Raserei, mit
seiner Frau dagegen war er stets mild und duldsam ;
er nannte sie mit Recht Xanthippe, seitdem ihm eines
Tages jemand die Geschichte von Sokrates erzählt
hatte. Er hatte sie in Hamburg kennen gelernt und
geheiratet, sie war von wenig bekannter Herkunft; sie
war sehr schön gewesen, hatte Begabung für die Mu-
sik, war geistreich und besass gar manche Eigenheit;
222
sie hatte ihn dermassen uaterjocht, dass ich es einst er-
lebte, wie Herr Bestuschew eine Flut gröbster Be-
leidigungen schweigend über sich ergehen Hess, die
seine Frau ihm bei Tische vor zahlreicher Gesell-
schaft entgegenschleuderte, und zwar wegen eines
einzigen tadelnden Wortes, das er über ihren gemein-
samen Sohn ausgesprochen. Nun war aber dieser Sohn
in Wirklichkeit ein Monstrum eines Verbrechers und
eines in jeder Beziehung lasterhaften Menschen; was
jedoch diese mütterliche Raserei von Frau Bestusohew
noch absonderlicher erscheinen liess, war der Um-
stand, dass sie, die es dem Vater dieses unwürdigen
Sohnes niemals erlaubte, den geringsten Tadel über
ihn auszusprechen, selbst gar oft über das Unglück
klagte, seine Mutter zu sein; an jenem Tage hatte sie
mir selbst genug Ungeheuerlichkeiten von ihm erzählt.
Ich hatte vor ihren Augen Gnade gefunden; sie
sagte, ich brächte ihr Glück beim Spiel; sie wies mir
bei Tisch den Platz neben sich an; so oft ich bei ihr
dinierte, begann sie mir von ihren Gebrechen zu er-
zählen, von der Bereitschaft auf den Tod, in der man
stets sein solle, von dem universellen Abscheu, mit
dem alle Freuden dieser Welt und sogar jede Art
Nahrung sie erfüllten; daraufhin stellte ich ihr vor,
dass jede Art des Selbstmords den Prinzipien des
Christentums widerspräche; sie gab es zu, begann zu
essen und zugunsten des Luthertums zu predigen
und gegen das, was sie die Irrtümer des Katholizis-
mus nannte; stets jedoch fügte sie hinzu, dass Luther
unrecht tat, als er Katharina Bora ehelichte, „denn",
so sagte sie, „wenn man gelobt hat, unvermählt zu
bleiben, dann darf man nicht heiraten" ; ich gab ihr
darin recht und bot ihr die Schüsseln an, von denen
21 3
ich wusste, dass sie am meisten ihrem Geschmack ent-
sprachen; sie nannte mich ihren Adoptivsohn, und
nach dem zweiten Gang begann sie stets mir die Skan-
dal gesch ich ten des Hofes und der Stadt zu erzählen,
mit allen Vor- und Zunamen, und zwar so laut, dass
ich unter Lachen zitterte.
So wie sie war, wurde sie im Grunde genommen
von ihrem Gatten doch geliebt; sie hatte grossen Ein-
fluss auf ihn; sie war sehr originell und ich nannte
sie stets mamanj trotz all der üblen Dinge, die sie
oft und unvorsichtig genug über die Kaiserin Elisabeth
aussprach, die ihrerseits alles wusste, was man ihr
nachsagte, wurde Madame de Bestuschew von Eli-
sabeth ausgezeichnet behandelt.
Der Leser muss aber erfahren, wer diese Kaiserin
Elisabeth war.
Nach dem Tode Peters des Grossen, während der
kurzen Regierungszeit Katharinas I., die nicht schrei-
ben konnte, war Elisabeth, ihre Tochter, dazu aus-
ersehen, für ihre Mutter zu unterfertigen. Katharina
hatte angeordnet, dass Elisabeth den Namen ihrer
Mutter auf allen Papieren unterschreiben sollte, die
mit dem kaiserlichen Siegel versehen werden muss-
ten, und zwar musste sie diese Unterschriften in
einem an Katharinas Zimmer angrenzenden Kabi-
nett vollziehen, dessen Türe offen stand. Elisa-
beth beauftragte eine ihrer Vertrauten, die Seiten
umzublättern, und dieses Geräusch veranlasste Ka-
tharina zu glauben, dass die Unterschriften vollzogen
wurden ; aber wenn sie sie holen kam, fand sie ihre
Tochter oft gar nicht vor, — Elisabeth hatte den
Augenblick benützt, um zu ihren Rendezvous zu eilen,
und oft hatte man viele Mühe, sie zu finden.
224
Katharina I. war keine strenge Mutter, übrigens
gaben ihre zahlreichen und allgemein bekannten Ga-
lanterien und das Laster der Trunksucht, dem sie
auch frönte, ihren Töchtern vollauf Dispens und be-
liessen gleichzeitig die ganze Autorität der Regierung
in den Händen Menschikows, aus persönlicher Un-
fähigkeit der Herrscherin, doch auch ebensosehr aus
Dankbarkeit. Menschikow hatte das angebliche Te-
stament Peters des Grossen gefälscht, wonach dieser
Katharina nach seinem Tode zur absoluten Souve-
ränin bestimmte; wie Menschikow und der Erzbischof
Theophanos behaupteten, war diese Idee von Peter 1.
geäussert worden, als er Katharina krönen Hess:
durch diesen Akt selbst habe er sie zur Souveränin
nach seinem Ableben bezeichnet. Die Kühnheit erle-
digte alles weitere. Peter I. hatte jedoch nicht im
entferntesten die Absicht gehabt, dass Katharina nach
ihm regieren sollte, um so weniger seitdem er die
galante Intrige seiner Frau mit dem Kammerherrn
Mons entdeckt hatte.
Drei Wochen vor seinem Tode befahl Peter I. die
Hinrichtung dieses Mons, und er begnügte sich nicht
damit, ihn hängen zu lassen, sondern er führte noch
die Kaiserin, wie auf einem Spaziergang, um den
Galgen herum.
Ich weiss, dass Hunderte von Autoren, darunter
auch Voltaire, geschrieben haben, Peter der Grosse
hätte in Katharina I. ein Wesen gefunden, das
allen anderen ihres Geschlechts und auch allen
männlichen Russen überlegen und allein fähig war,
das von ihm begonnene Werk zu vollenden. Aber
trotz allem, was Menschikow fälschlich behauptet, was
die Schmeichelei zu Lebzeiten Katharinas I. be-
1 5 Poniatowski 2 2 5
stätigt hat, was aus einer gewissen Vorliebe für das
Aussergewöhniiehe immer wiederholt wurde, ist das,
was ich hier sehreibe, die exakte Wahrheit; ich weiss
es aus zu guter Quelie.
Einer der Männer dieser Nation, dessen Wahrheits-
liebe allgemein anerkannt wird, erzählte mir, er wisse
von seinem Vater, der zur Zeit, als Peter I. starb, ein
Garderegiment kommandierte, dass dieser Kaiser ein
Testament gemacht hatte und dass sein Lieblingszwerg
Lukas wusste, wo dieses Testament sich befand. Aber
am gleichen Tag, als Peter I. starb, verschwand Lukas
und tauchte erst 17 Jahre später wieder auf, als die
Kaiserin Elisabeth nach ihm forschen liess. Dieses
wichtige Testament wurde beiseite geschafft, und
Menschikow regierte im Namen Katharinas I.
Katharina I. hatte den Thron von 1725 bis 1727
inne, und ich kam 28 Jahre später nach Russland;
noch lebten Tausende von Augenzeugen ihrer Taten,
die mir leidenschaftslos und ohne einen eigennützigen
Zweck zu verfolgen darüber berichteten, und jedes
der kleinen Details, die mir erzählt wurden, passte
genau in den Rahmen zu dem Gesamtbild; es ist nicht
schwer zu erraten, wer sie mir erzählte.
Als Katharina I. starb, wurde Peter I [., der Enkel Pe-
ters L, Kaiser; die Dolgorukis beherrschten ihn völlig,
Menschikow Hessen sie nach Sibirien schicken; ihr
Einfluss jedoch erlosch mit dem Ableben Peters II.,
der in der Rlüte seiner Jugend an Rlattern starb.
Dieses Ereignis schien den Töchtern Peters I. den
Weg zum Thron zu öffnen: der Prinzessin Anna1),
l) Anna Petrowna (1708 — 1728), Gemahlin des Herzogs
Friedrich Karl von Holstein-Gottorp, starb nach der Geburt
226
der älteren Tochter Peters 1., oder der Prinzessin Eli-
sabeth, ihrer jüngeren Schwester. Erstere war jedoch
mit ihrem Gatten in Holstein; Elisabeth, die unver-
heiratet war, lag im Wochenbett, und das damalige
Russland und seine ganze Regierung waren in einem
Zustand, der die Kühnheit und den günstigen Moment
zu entscheidenden Faktoren erhob.
Einige der Grossen, vor allem die Dolgorukis, glaub-
ten den Moment für eine Aristokratie gekommen.
Sie verfassten eine Eidesformel, welcher sich der
künftige Herrscher unterwerfen sollte, und da die
Kinder Iwans, des älteren Bruders Peters I., der vor ihm
gestorben war, weit geringere Hoffnung auf die Thron-
folge hatten, wie jene Peters I., dachten diese Grossen,
mit ihnen leichter fertig zu werden.
Die Herzogin von Mecklenburg1), die ältesleTochter
des Zaren Iwan, war in Moskau anwesend, und viel-
leicht wurde sie gerade deshalb ausgeschlossen. Ihre
jüngere Schwester2), die Witwe eines kurländischen
Herzogs, lebte in Mitau; es wurde ihr das über-
raschende Angebot der russischen Krone überbracht.
Je weniger sie darauf vorbereitet war, um so leichter
stimmte sie allem zu, was von ihr verlangt wurde.
Vielleicht trug zu ihrer Erhebung auch ein Wort Pe-
ters I. bei, an das man sich erinnerte; er hatte dieser
ihres Sohnes, der 1762 als Peter III. auf den russischen Thron
gelangte. Anm. d. Ilerausg.
*) Katharina Iwanowna (1691 — 1 733) war mit Herzog Karl
Leopold von Mecklenburg vermählt.
*) Anna Iwanowna (1693 — 1740) ward 1710 mit dem Her-
zog Friedrich Wilhelm von Kurland vermählt, der ein Jahr
darauf starb. Anm. d. Ilerausg.
i5* 227
Prinzessin, die er schätzte, eines Tages gesagt : „ Es ist
schade, dass du kein Junge bist!"
Sie wurde in Moskau gekrönt, nachdem sie einen
Eid geleistet hatte, wonach ihre Grossen, die sie be-
rufen hatten, an ihrer Macht teilhaben sollten. Je-
doch einer von ihnen, Fürst Tscherkasski, überreichte
ihr wenige Wochen später eine Bittschrift, worin im
Namen der ganzen Nation gesagt wurde, diese könnte
nur unter einer ebenso absoluten Herrschaft glücklich
werden, wie es die Herrschaft von Anna Iwanownas
Vorgänger gewesen; man bat sie daher, ihre Autorität
mit niemandem zu teilen.
Anna lwanowna liess sich leicht überzeugen, dass
solches der Wunsch von ganz Russland war. Sie er-
klärte sich zur absoluten AI leinherrscherin ; dem ganzen
Reich wurde ein neuer Eid aufgezwungen, und
während der zehn Jahre von Anna Iwanownas Regie-
rung liessen die fürchterlichsten Exile so viele Dolgoru-
kis und andere der hervorragendsten Russen ver-
schwinden, dass man staunt, Leute ihres Namens in
Russland noch anzutreffen.
Unter dieser Regierung des Schreckens und des
fürchterlichsten Despotismus wurde, wie es leicht er-
klärlich ist, die Prinzessin Elisabeth streng überwacht.
Die ersten Pläne, die man für ihre Person hegte, waren
eine Heirat, durch die sie entfernt werden sollte.
Tatsache ist, dass einige Pourparlers gepflogen
wurden, um sie mit Ludwig XV., König von Frank-
reich, zu verheiraten.
Dann bewarb sich Thamas Kuli-Chan um ihre
Hand.
Aber diese Verhandlungen kamen nicht über den
ersten Entwurf hinaus, und im übrigen sah man sie
228
so ganz mit ihren Vergnügungen beschäftigt, dass
man nicht glaubte sie fürchten zu müssen.
Jedoch, trotz allem war sie das einzige noch lebende
Kind Peters des Grossen; sie war schön, ihre Reize
waren ebenso robust wie ihre Liebhaber, und diese
nach Hunderten zählenden Liebhaber waren zumeist
Soldaten der Garde oder Priester, und Russland war
noch ganz barbarisch und abergläubisch, und Riron,
Herzog von Kurland, der in Annas Namen mit eiserner
Faust regierte, hatte es so weit gebracht, dass die grosse
Gesamtheit der Nation alles hasste, was deutsch war
oder es zu sein schien.
Genau wie Menschikow brachte auch Biron nach
Annas Ableben ein Testament zum Vorschein, wo-
nach sie ihn zum Regenten des Reichs erklärte, bis
zur Grossjährigkeit des Prinzen Iwan, des Sohnes der
Schwestertochter l) der Kaiserin Anna, die mit dem
Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig verheiratet
war, dem zweiten Bruder des regierenden Herzogs von
Braunschweig, dessen jüngster Bruder die Franzosen
in den Jahren 1 7 58 bis 1 763 gar ruhmreich bekämpfte.
Biron war zwei Monate Regent; während dieser
Zeit war er so sehr damit beschäftigt, sich gegen die
Prätentionen der Prinzessin Anna (der Mutter des
kleinen Iwan, der den Titel eines Kaisers führte) auf
die Regentschaft zu schützen, dass er es politisch für
richtig hielt, der Prinzessin Elisabeth, die er während
Annas Regierung so zurückgesetzt hatte, jetzt ein wenig
zu schmeicheln. Er liess ihr sogar — so wird be-
*) Anna Leopoldowna, 1 7 1 8 — 1 746, Tochter des Herzogs Karl
Leopold von Mecklenburg und Katharina Iwanownas, ver-
mählt mit dem Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig-
Lüneburg-Bevern. Anm. d. Herausg.
229
hauptet — vorschlagen, seinen Sohn Peter zu heiraten,
den heutigen Herzog von Kurland.
Inmitten dieser Projekte stürzte Mücnich, ohne Mit-
schuldige, nur mit 18 Soldaten, die nicht wussten,
wohin er sie führte, Birons Regentschaft undliessdie
Prinzessin Anna als Regentin ausrufen; aus über-
mässigem Stolz überwarf er sich bald darauf mit ihr,
legte seine Ämter nieder und sollte schon abreisen,
da stürzte er sich durch eine kleinliche und kindi-
sche Eitelkeit selbst ins Verderben.
Er hatte um seinen Abschied gebeten und war in
ehrenvollster Weise entlassen worden. Ostermann
hatte sogar einen Panegyrikus auf ihn verfasst, um ihn
nur rasch loszuwerden ; er war bereits unterzeichnet ;
Münnich jedoch hatte irgendwelche Patente gesehen,
die mit Miniaturen und Trophäen verziert waren; er
verlangte, seine Demission solle in gleicher Weise
adorniert werden. Er kannte die zugunsten Elisa-
beths geplanten Anschläge; er sah die Schwächen
und Eehler der Herrschaft der Regentin, die sich weit
weniger um die Geschäfte, als um ihr Liebesabenteuer
mit dem sächsischen Minister Grafen Lynar küm-
merte und um ihre häuslichen Zwistigkeiten mit dem
Prinzen, ihrem Gemahl; im übrigen war sie sanft und
nachsichtig und zwar so sehr, dass sie es der Prinzessin
Elisabeth mitteilte, wenn sie vor ihr gewarnt wurde,
und sich mit den Beteuerungen begnügte, die Elisa-
beth zu ihrer Entschuldigung vorbrachte. Dies al-
les wusste Münnich, auch prophezeite er alles, was
später eintraf, verzögerte jedoch seine Abreise um
einige Tage, damit noch ein bestimmter türkischer
Turban und ein Lorbeerzweig als Verzierung auf sei-
ner Demission an gebracht würden. Während der Maler
23 o
seinen Wünschen Rechnung trug, drängte La Ghetar-
die, der Minister Frankreichs, Elisabeth zu dem Ent-
schluss, Kaiserin zu werden, denn die Regentin neigte
zu Österreich, und er selbst glaubte, als einer von
Elisabeths Amants würde Frankreich durch seine
Person eine befreundete russische Kaiserin erhalten.
Trotz allem war sie doch das einzige lebende Kind
Peters des Grossen, sie war schön, schmeichelte den
Russen aller Stände und war freigebig (soweit ihr da-
mals bescheidenes Vermögen es gestattete) gegen ihre
zahlreichen Amants, von denen die meisten Soldaten
der Garde oder Geistliche waren.
Die grosse Masse der russischen Nation hasste al-
les, was deutsch war oder deutsch zu sein schien,
seit Biron und Münnich im Namen der Kaiserin und
der Prinzessin Anna mit eisernem Zepter regiert
hatten.
Die Prinzessin Anna selbst war in Deutschland ge-
boren, ihr Gatte und ihr Amant waren Deutsche; ihr
ganzer Hof schien jenem Lande zu entstammen. Der
Kontrast kam Elisabeth sehr zu Hilfe und bildete ihr
eine Partei, ohne dass sie sich besonders hierum be-
mühte; sanft und zaghaft, zögerte sie die Ausführung
des Planes ihrer Freunde hin. Der Anschlag wurde der
Prinzessin-Regentin Anna hinterbracht und sie ver-
hörte Elisabeth selbst; Elisabeth leugnete alles mit
einem Eid; Anna schien ihr Glauben zu schenken.
Während sie jedoch mit Elisabeth sprach, schickte
Ostermann, der seit Münnichs Demission die Ge-
schäfte führte, nach Elisabeths Chirurgen Lestocq,
ihrem Vertrauensmann, der auch ihr Vertrauter bei
La Chetardie und die Seele all ihrer Ratschläge war.
Dieser Mann, der in Deutschland, jedoch von fran-
23 I
zösischen Refugies geboren war, galt als Franzose;
kühn und Listig, ging er nicht zu Ostermann, sondern
sagte zu seiner Herrin, die ihm ihre Unterredung mit
der Regentin mitteilte:
„Sie müssen einen Entsehluss fassen und noch heute
nacht Kaiserin werden, oder Sie werden morgen ins
Kloster gesteckt und ich werde gerädert."
Elisabeth erstarrte vor Schreck und Ungewissheit;
damals, so sagt man, legte sie das Gelübde ab, nieman-
den zu Tode zu verurteilen, sollte sie auf den Thron
gelangen. Lestocq riss sie beinahe mit Gewalt von
ihrem Betstuhl empor, brachte sie zu einem Schlitten,
fuhr mit ihr nach der Kaserne der Garden und von
dort ins Schloss.
Münnich hatte das Kommando schon abgegeben
und wachte nicht mehr; Ostermann, mit seiner Ver-
anlagung fürs Kabinett, kümmerte sich nicht um das
Militär, und die Soldaten liebten nicht ihren Gene-
ralissimus, den Gemahl der Regentin; so kam es, dass
Elisabeth noch vor Tagesanbruch Kaiserin wurde,
ebenso leicht, wie Anna Regentin geworden war.
ihrem Gelübde getreu liess sie jene, die sie deplacierte,
nicht hinrichten; jedoch verbannte sie Münnich nach
demselben Ort, wohin er Biron verbannt hatte; Oster-
mann wurde ein weniger strenges Exil zugewiesen ; die
Prinzessin Anna wurde mit ihrem Gatten und ihrem
Sohn bis nach Riga gebracht, als beabsichtigte man sie
nach Deutschland zurückzuschicken, nach einigen Mo-
naten jedoch wurde der Sohn nach Schlüsselburg ge-
bracht, das er nicht mehr verlassen sollte, die Mutter
wurde nach einem Ort in der Nähe von Moskau ver-
bannt, wo sie starb, nachdem sie noch anderen Kin-
dern das Leben geschenkt hatte; der Aufenthalt ihres
232
Gemahls Dach ihrem Tode blieb unbekannt1). Ein
Jahr später wurden zwei Damen der höchsten Kreise,
eine Bestuschew, Schwägerin des Kanzlers Bestuschew
(den Elisabeth aus der Verbannung zurückholen liess),
und eine Lopuchin mit Knuten gepeitscht und es wur-
den ihnen auf dem Blutgerüst die Zungen abgeschnit-
ten; sogar Lestocq wurde bald darauf nach Sibirien
geschickt2).
Ich habe allerlei mehr oder weniger stichhaltige
Gründe für diese strengen Strafen vorbringen ge-
hört; die meisten führten sie jedoch auf böswilliges
Geschwätz zurück.
Wie dem auch sei, nach Anna Iwanownas Blut-
regierung erschien die Regierung Elisabeths den Rus-
sen als eine Herrschaft der Milde. Tausend kleine
Quälereien, deren Ursache die weibliche Eifersucht
war, die sich bei ihr manchmal zu unglaublichem
Masse steigerte, brachten in Wirklichkeit einer Reihe
von Personen sehr empfindliche Demütigungen, Miss-
geschieke und Vermögensverluste, jedoch starb man
nicht daran ; indes die grosse Elisabeth von England be-
schuldigt wird, den Tod einer Königin verursacht zu
haben, weil sie an Schönheit von ihr übertroffen wurde.
In der Physiognomie Elisabeths von Russland war
jene ihres Vaters wiederzufinden, wie sie in der Pe-
*) Die Prinzessin Anna starb im Jahre 1746- Ihr Sohn Iwan
wurde 1 766 nach Schlüsselburg gebracht und dort 1764 er-
mordet. Ihr Gemahl Prinz Anton Ulrich von Braunschweig-
Bevern lebte bis zum Jahre 1776. Nach seinem Tode wurden
seine vier Töchter nach Jutland geschickt. Anm. d. Herausg.
2) Im Jahre 1 748 wurde er festgenommen, gefoltert und
hierauf nach Sibirien verbannt. Peter III. gestattete ihm im
Jahre 1762 zurückzukehren. Anm. d. Herausg.
2 33
tersburger Akademie auf dem Wachsabdruek des Ge-
sichts dieses Fürsten zu sehen ist; mit dem Unter-
schied, dass die Grösse der Gesichtszüge Peters f. zu
jener des ganzen Hauptes proportioniert war, wäh-
rend seine Tochter mit Ausnahme der Augen lauter
zarte Züge hatte in einem Gesicht, dessen Umrisse
um so grösser erschienen, als sie eine ungemein hohe
Stirn hatte und ihr Haaransatz erst an der Spitze des
Kopfes begann, [hr Haar hatte einen rötlichen An-
flug; der Abstand von ihren Schultern bis zur Brust-
mitte war ungeheuerlich; doch trotz all dieser Män-
gel war sie eine Frau, die gefallen konnte und die
sehr gefallen hat. Sie hatte grosse, schöne Augen, eine
kleine Nase, einen winzigen Mund mit schönen Zäh-
nen; einen straffen und sehr weissen Körper; die Hände
so zart und so vollkommen, dass sie zu einem Körper
von solcher Fülle nicht zu passen schienen. Sie war
jedoch hurtig und gewandt, sowohl zu Fuss als auch
zu Pferde, und ich habe sie noch mit wirklicher No-
blesse und viel Grazie Menuett tanzen gesehen.
Sie kleidete und frisierte sich, vor allem an Gala-
tagen, in einer ganz besonderen, nur ihr eigenen Art,
die jedoch dazu beitrug, den Zauber noch zu er-
höhen, der von ihrem Körper und ihrem Geist aus-
strahlte und sie zum imposantesten Objekt ihres Hofes
machte.
Am vorteilhaftesten präsentierte sie sich enfoce, das
Profil war ihr weit weniger günstig; wenn man sie
von der Seite betrachtete, musste man über die Wöl-
bungen des üppigen Busens und der vorspringenden
Stirn staunen.
Zur Zeit als sie den Thron bestieg, war ihr der liebste
ihrer Amants ein Sänger ihrer Kapelle, ein gebürtiger
Ukraiuer. Als sie zu ihrer Proklamation ging, schloss
sie ihn ein, um ihn keiner Gefahr auszusetzen. Zur
Kaiserin erhoben, überschüttete sie ihn mit Orden,
machte ihn zum Feldmarschall, Hess sich heimlich
mit ihm trauen, ^ab ihm hierauf manchen Stellver-
treter, behielt ihn jedoch stets in Ehren an ihrer Seite;
man nannte ihn Graf Alexe) Grigorjewitsch Razti-
mowski1).
Ein Mann von mächtigem Körperbau, mit breiten
Schultern, einem schönen Gesicht, worin sich gleich-
wie in seiner ganzen Erscheinung sein seelisches
Wesen spiegelte, er war sanft, friedlich, ungemein
träge, es mangelte ihm jedoch durchaus nicht an
Vernunft.
Oft versuchte man ihn vor den neuen Neigungen
der Kaiserin zu warnen. Seine Antwort (wenn er über-
haupt eine Antwort gab) war gewöhnlich die gleiche:
„Sie soll sich nur zerstreuen"; und wenn man ihn
benachrichtigte, dass einer der Begünstigten der Kai-
serin irgendwie untreu wurde, tat er manchmal so,
als hätte er die Sache schon lange vorher gewusst,
fügte jedoch nie jemandem etwas Böses zu. Ein ein-
ziges Mal wurde er zornig, und zwar so zornig, dass
er im Vorzimmer der Kaiserin sein Jagdmesser zückte,
um den Grafen Peter Schuwalow zu erstechen, den
diensttuenden Kammerherrn, der — wie es ihm
schien — ihn mit Redensarten an der Tür aufhalten
wollte, indes — wie er glaubte — die Kaiserin in je-
nem Augenblick sich mit dem Grafen Panin belustigte,
den man später zum Premierminister von Russland
emporsteigen sah. Peter Schuwalow lief davon, Razu-
r) Alexej Grigorjewitsch Graf liazumowski (1709 — 1771)»
Generalfeldmarschall und Oberjägermeister. Anm. d. Herausg.
235
mowski steckte das Messer in die Scheide; die Höf-
linge hielten ihn für verloren; er ging ruhig aufsein
Zimmer, das er trotz der drängenden Bitten seiner
Freunde nicht verlassen wollte, auch wollte er kei-
nen Schritt bei der Kaiserin unternehmen. Nach zwei
Tagen kam die Kaiserin selbst auf sein Zimmer,
schleifte denselben Peter Schuwalow am Haarschopf
herbei, der auf den Knien rutschend sich noch de-
mütig vor ihm entschuldigte. Razumowski sagte zu
ihm: „Ich verzeihe dir, wie Jesus Christus seinen
Feinden verzieh," und im kaiserlichen Palast herrschte
wieder Friede.
Während der ganzen Regierungszeit Elisabeths wa-
ren an ihrem Hofe ebensosehr die Sprache und die
Praktiken der Devotion üblich wie jene der Galante-
rie; sie fastete und liess auch die anderen streng fasten.
Was Panin1) anlangt, so war er an der Tür ihres
Badezimmers eingeschlafen, anstatt einzutreten, wie
sie es von ihm erwartete; nach beendetem Bad gab
sie den Befehl, seinen Schlaf nicht zu stören, ihm je-
doch beim Erwachen mitzuteilen, dass er zum Minister
in Schweden ernannt worden sei; er blieb es vierzehn
Jahre hindurch, bis zu jener Zeit, wo er zum Gouver-
neur des Grossfürsten Paul Petrowitsch ernannt wurde.
Der jüngere Bruder -) des Grafen Aiexej Razumowski
wurde aus der Ukraina herbeigerufen, um am Glücke
des älteren teilzuhaben. Er war gross, schön und stark,
achtzehnjährig. Man begann ihn im Lesen zu unter-
weisen, da er jedoch seinem Bruder an Faulheit
nicht nachstand, legte er sich im Garten auf den.
;) Nikita Iwanowitsch Panin, 1718 — 1783.
') Cyrill Grigorjewitsch Graf Razumowski, 1728 — i8u3, Het-
man von Kleinrussland. Anrn. d. Herausg.
286
Bauch, um das Alphabet zu lernen. Als er etwas
schreiben konnte, schickte man ihn nach Berlin, wo
sein Mentor, ein gewisser Teplow, eine Krank-
heit erwischte, vor der er seinen Schüler hatte be-
wahren sollen; dieser selbst wurde Freimaurer, zum
grossen Skandal der frommen Russen; diese verstän-
digten die Kaiserin, welche ihn in dem Augenblick,
als er nach Frankreich zu gehen gedachte, nach Russ-
land zurückkehren Hess. Während der wenigen Mo-
nate, die er in Berlin verbrachte, lernte er Franzö-
sisch und zwar viel besser, als die meisten seiner Lands-
leute, und diese Zeit genügte, um seinem Gedächtnis
Tausende von französischen und italienischen Liedern
einzuprägen, die seine schöne Stimme und seine gute
Laune zeit seines Lebens vortrefflich zu verwenden
wussten. Man ernannte ihn zum Hetman der Kosaken
mit dem Rang eines Feldmarschalls, zum Komman-
danten der Ismajlowskischen Garden und schliesslich
zum Präsidenten der Akademie. Er scherzte selbst über
die letzte seiner Würden, und als die Kaiserin ihm den
Oberbefehl über ihre Armee im Krieg gegen den Kö-
nig von Preussen anbot, fragte er sie: „ob sie fest ent-
schlossen sei, ihrer Armee den Untergang zu bereiten* .
Er war ein Original, ein Bonvivant, ungemein ko-
misch, wie junge Elefanten es sind, denen er an
Körperwuchs, Kraft und Langsamkeit beinahe glich.
Trotz der grossen persönlichen Anhänglichkeit für die
heutige Kaiserin Katharina II. hat er es gewagt, ihr in
einem gewissen sehr delikaten Fall entgegenzutreten,
da die Ehre des Staates es zu erfordern schien, ob-
gleich er selbst dabei viel riskierte. Er ist der Mann
in Russland, mit dem ich am meisten liiert war und
dem ich die meiste Freundschaft bewahrt habe.
o
2 Dl
Obgleich sehr phlegmatisch, war er es doch nicht in
dem Masse wie sein Bruder bezüglich der Gunst, die
Iwan Iwanowitsch Schuwalow l) genoss (und die mir
in ihrer Blüte zu stehen schien), — ein Vetter des oben
erwähnten Peter Schuwalow2), — der vor kurzem
vom Pagen zum Kammerherrn avanciert war und den
der Kanzler Bestuschew Monsieur Pompadour nannte.
Bestuschew hatte die Kaiserin Elisabeth veranlassen
wollen, ihre Verehelichung mit Razumowski öffent-
lich bekannt zu geben, um dem Reich die Thronfolge
in ihren Kindern zu sichern. Er verfolgte hierbei ein
doppeltes Ziel: er wollte sich die Dankbarkeit des da-
mals allmächtigen Razumowski sichern und den Prin-
zen von Holstein vom Thron entfernen, dessen per-
sönliche Eigenschaften nichts Gutes für das Reich
voraussehen Hessen und dessen Abstammung — als
Sohn der ältesten Tochter Peters I. — den Grund zu
neuen Revolutionen abgeben konnte.
Die Kaiserin jedoch folgte nicht Bestuschews küh-
nem Ratschlag, sei es aus Mangel an Mut, sei es aus
Gerechtigkeitsgefühl, im Glauben, der Thron gebühre
ihrem Neffen.
Da sie aber nicht wollte, dass er noch zu ihren
Lebzeiten auf den Thron gelangte, liess sie ihm an-
scheinend aus diesem Grunde eine so schlechte Er-
ziehung zuteil werden, umgab ihn mit einer schlech-
ten Gesellschaft und trug stets ein Misstrauen gegen
') Iwan Iwanowitsch Graf Schuwalow, 1727 — 1798, Oberst-
kiimmerer, gründete 1755 die Universität in Moskau, 1758
die Akademie der Künste in Petersburg.
2) Peter Iwanowitsch Graf Schuwalow, 171 1 — 1762, ein Vet-
ter des vorigen, wurde von Peter III. zum Reichsfeldmarschall
erhoben. Anm. d. Herausg.
238
ihn zur Schau, trotzdem sie ihm ihre Verachtung
nicht verhehlen konnte.
Seine Grossmutter war die Schwester Karls XII.,
seine Mutter die Tochter Peters des Grossen, und
dennoch hatte die Natur nur einen Feigling aus ihm
gemacht, einen Prasser und eine so komische Persön-
lichkeit, dass man hei seinem Anblick nicht umhin
konnte sich zu sagen: „Sieh da! der arlechino jinto
principe. "
Man muss annehmen, dass seine Amme und all
seine ersten Erzieher in seinem eigenen Lande Preus-
sen waren oder vom König von Preussen bestochen,
denn von Kindheit an erfüllte ihn eine solch ausser-
ordentliche und geradezu lächerliche Verehrung und
Zärtlichkeit für diesen Fürsten, dass diese Leidenschaft
(denn es war wirklich eine Leidenschaft) sogar den
König von Preussen zu dem Ausspruch veranlasste:
„ Ich bin seine Dulcinea. Er hat mich nie gesehen, und
doch hat er sich in mich verliebt wie Don Quichotte.'
Er war zwölf oder dreizehn Jahre alt, als Elisabeth
ihn nach Russland kommen, zur griechischen Reli-
gion übertreten liess und ihn zu ihrem Nachfolger
erklärte. Er bewahrte jedoch stets eine starke Neigung
zum Luthertum, in dem er auferzogen war, einen
sehr hohen Begriff von der Wichtigkeit seines hol-
steinischen Staates und die Überzeugung, dass die
Truppen, die er dort besass und an deren Spitze er —
wie er behauptete — ich weiss nicht wie viele sieg-
reiche Kriege geführt, nach den preussischen Trup-
pen die besten der Welt seien und weit tüchtiger als
die russischen.
Eines Tages sagte er zum Fürsten Esterhazy, dem
Gesandten des Wiener Hofes am Hofe seiner Tante:
23c
9
„Wie können Sie sich einen Erfolg gegen den Kö-
nig von Preussen versprechen, da doch Ihre Truppen
nicht einmal mit den meinigen verglichen werden
können und ich selbst zugeben muss, dass meine Sol-
daten an Tüchtigkeit den preussischen nachstehen!"
Und zu mir sagte er in einer dieser Herzensauf-
wallungen, mit denen er mich ziemlich oft beehrte:
„Begreifen Sie, wie unglücklich ich bin! Ich sollte
in den Dienst des Königs von Preussen treten; ich
hätte ihm mit meinem ganzen Eifer und all meinen
Kräften gedient; ich kann wohl sagen, dass ich
heute schon im Besitz eines Regiments wäre, den
Rang eines Generalmajors und vielleicht sogar den
eines Generalleutnants bekleiden würde. Aber nein,
da haben sie mich hierhergebracht, damit ich Gross-
fürst dieses verfluchten Landes werde."
Dann lästerte er über die russische Nation in der
ihm eigenen niedrig-grotesken Ausdrucksweise, je-
doch manchmal wirklich sehr witzig, denn es man-
gelte ihm nicht an einer gewissen Art von Geist; er
war nicht dumm, aber verrückt, und da er sehr zu
trinken liebte, trug er hierdurch zur völligen Zer-
rüttung seines geringen ursprünglichen Verstandes
bei. Auch rauchte er gewohnheitsmässig Tabak, war
von sehr hagerer und kümmerlicher Gestalt, trug
meistens eine holsteinische Uniform und nur selten
die gewöhnliche Tracht, war jedoch stets so lächer-
lich und so geschmacklos angezogen, dass er entwe-
der wie ein Capitano aussah oder wie ein Stutzer der
italienischen Komödie.
Das war der Präsumptiv-Erbe, den Elisabeth sich
erwählt hatte.
Er war stets der Gegenstand des Spottes seiner künf-
24o
Grossfürstin Katharina
(von Rotari um 1738)
(Original im Herzogl. Anhalt. Schlosse Zeihst)
tigen Untertanen, manchmal auch der düstersten Pro-
phezeiungen und stets das Unglück seiner Frau, die
entweder wegen ihm leiden oder üher ihn erröten
musste. In seinem Kopfe verwechselte er alles, was er
von dem verstorbenen König von Preussen (Grossva-
ter des heute lebenden, also jenem, den Georg II. Kö-
nig von England, sein Schwager, den König Korpo-
ral nannte, gehört hatte, mit der Vorstellung, die er
sich von dem heute regierenden König von Preussen
machte. Infolgedessen glaubte er, dass man letzterem
Unrecht täte, wenn man von ihm sagte, er zöge die
Bücher der Pfeife vor, und vor allem wenn man er-
zählte, er mache Verse. Die Grossfürstin indessen
konnte, wie so viele andere Personen, den Geruch
des Tabakrauchs nicht vertragen, auch las sie viel;
das war eine der hauptsächlichsten Beschwerden ih-
res Mannes über sie.
Des ferneren war sie zu jener Zeit überzeugt, das.«.
der Kanzler Bestuschew besser wie jeder andere die
wirklichen Interessen Russlands im Auge hatte, und
sie begünstigte damals nicht das preussische Svstem,
vor allem jedoch konnte sie nicht die Vergötterung
ihres Gemahls für den König von Preussen teilen
noch seine extravaganten Anschauungen über seine
holsteinische Macht. Der Grossfürst hatte sie sogar
damals schon im Verdacht, dass sie Bestuschews Plan
geneigt sei, er solle sich seines Herzogtums Holstein
völlig entledigen, damit dieses nicht zu einem Han-
nover Russlands werde (so lautete die Redensart), ei-
ne Anspielung auf die übertriebene Vorliebe Georgs II.,
die dieser angeblich für jenes Kurfürstentum zum
Schaden Englands hegte.
Ich war nichts weniger als ein Preusse, doch sprach
16 Poniatowski 'll\ I
ich deutsch, passte mich dem vom Grossfürsten be-
vorzugten Konversationston an und schien sein Ge-
fallen gewonnen zu haben, denn er lud mich ein, zu-
sammen mit einem gewissen Grafen Hörn, einem
Schweden, der im Jahre 1756 nach Russland gekom-
men war, zwei Tage auf seinem Landsitz Oranien-
baum zu verbringen. Hörn war ein Anhänger der
Mützenpartei; diese hatte kürzlich eine grosse Schlap-
pe erlitten, denn die Konspiration, deren Haupt Graf
Brahe war, war entdeckt und er selbst enthauptet
worden 1).
Hörn hatte bald eingesehen, dass ausser einigen
Phrasen des Mitleids für seine enthaupteten Lands-
leute und dem guten Empfang, den man ihm per-
sönlich bereitete, am russischen Hof für seine Partei
nichts Wesentliches erreicht werden konnte; an der
Spitze seiner Partei stand der König Adolph von Hol-
stein2), den man trotz seiner Verwandtschaft mit dem
Grossfürsten gar nicht liebte; man kannte auch seine
völlige Abhängigkeit von seiner Gattin, der Königin3),
Schwester des Königs von Preussen, die im Ruf stand,
ihre Leidenschaften und ihre Leichtfertigkeit mach-
ten ihren Geist entbehrlich.
*) Erich Brahe zettelte im Jahre 1756 eine Verschwörung an,
welche die Erweiterung der königlichen Macht zum Ziel hatte.
Die wirkliche Anstifterin dieses Staatsstreichs war die Königin
Luise Ulrike.
') Adolph Friedrich von Holstein-Gottorp, seit 1751 König
von Schweden.
3) Luise Ulrike, 1720 — 1782, Tochter Friedrich Wilhelms I.
von Preussen. Sehr herrschsüchtig, arbeitete sie mit Hilfe
einer Hofpartei auf eine Erweiterung der königlichen Rechte
hin. Anm. d. Herausg.
Im übrigen ging die russische Regierung von der
Annahme aus, Schweden wäre für seine Nachharn
um so weniger gefährlich, je mehr der König be-
schränkt würde, und sie bemühte sich natürlicher-
weise alles fernzuhalten, was eine Vergrösserung der
königlichen Gewalt in Schweden herbeiführen konnte.
Russland sah voraus, dass der schwedische Hof sich
früher oder später von der russischen Partei, welche
die Mützenpartei genannt wurde, abwenden und der
französischen Partei oder Partei der Hüte zuneigen
würde, von der bis dahin nur die persönlichen Ab-
neigungen der Königin ihn fernehielten.
Die geradezu kindliche Abhängigkeit, in der die
Kaiserin Elisabeth ihren Neffen hielt, erforderte, dass
er um eine besondere Erlaubnis nachsuchte, damit
Hörn und ich nach Oranienbaum kommen konnten.
Je glücklicher ich war, diese zwei Tage dort zu ver-
bringen, um so mehr war ich augenscheinlich der
Wachsamkeit der Spione ausgesetzt, die sich die Kaise-
rin an dem jungen Hofe hielt. Noch nie hatte ich mich
mit solcher Leichtigkeit der Grossfürstin nähern und
den Charme ihrer Konversation in Gesellschaft ge-
messen können; eines Tages fiel das Gespräch unter
anderm auf die Memoiren der grande Mademoiselle
und auf die von ihr verfassten Porträts am Schluss
ihrer Memoiren. Das veranlasste mich, mein Porträt
zu entwerfen, das die Grossfürstin haben wollte. Ich
lasse es hier folgen, so wie ich es damals, im Jahre
1756, niederschrieb. Im Jahre 1 760 las ich es wieder.
Ich will die wenigen Zeilen, die jenes Datum tragen,
hinzufügen. In der Folge dieser Memoiren werde ich
dem Leser ganz aufrichtig sagen, welche Verände-
rungen die Jahre und die Zeitläufte an diesem Porträt
16* 243
herbeigeführt, wenigstens so weit, als es einem Men-
schen möglich ist, sich selbst zu kennen.
„ Da ich so viele Porträts gelesen habe, verspüre ich
Lust, mein eigenes Porträt zu entwerfen. Ich wäre
mit meiner Gestalt zufrieden, wenn ich um einen Zoll
grösser wäre, schöner geformte Beine hätte, nicht
diese prononcierte Adlernase, weniger Hüften, einen
schärferen Blick und auffallendere Zähne. Nicht dass
ich durch diese Korrektionen mich dann sehr schön
finden würde, aber mehr würde ich nicht begehren,
denn ich finde meine Physiognomie edel und sehr aus-
drucksvoll, meine Gesten und meine ganze Haltung
sind vornehm und distinguiert genug, um überall die
Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Meine Kurz-
sichtigkeit verleiht mir oft einen etwas verlegenen und
finsteren Ausdruck; das hält jedoch nicht an, und so-
bald der erste Moment vorbei ist, verfalle ich oft in
den Fehler, eine zu stolze Haltung einzunehmen. Die
ausgezeichnete Erziehung, die ich genossen, war mir
behilflich, die Fehler meiner Gestalt und meines
Geistes zu verwischen. Ich besitze genug Geist, um
jeder Konversation standzuhalten, bin jedoch nicht
fruchtbar genug an Einfällen, um sie längere Zeit
oder oft zu führen, es sei denn, dass mein Gefühl
grossen Anteil an ihr nimmt oder mein sehr lebhaft
entwickelter Sinn für alles, was zur Kunst Bezug hat.
„Ich bemerke rasch das Lächerliche und Falsche
auf jedem Gebiet und die Fehler der Menschen, und
oft lasse ich es sie zu rasch fühlen. Ich hasse jede
schlechte Gesellschaft aus Antipathie. Eine beträcht-
liche Faulheit hat mich verhindert, meine Talente
und meine Kenntnisse so zu erweitern, wie meine
Fähigkeiten es gestattet hätten. Wenn ich arbeite, so
=44
tue ich es in einer Art Inspiration; ich mache sehr viel
auf einmal, oder gar nichts. Ich vertraue mich nicht
'^'cht jemandem an und erscheine dadurch oft ge-
indter als ich in Wirklichkeit bin. Was die soge-
annten Geschäfte anlangt, so gehe ich oft zu auf-
richtig und zu eifrig vor und schiesse daher manchen
Bock. Ich habe ein gutes Urteil, finde leicht die Fehler
eines Projektes heraus oder desjenigen, der es ausführt ;
aber ich bedarf der Beratung und der Zügel, um nicht
selbst in Fehler zu verfallen. Ich bin ausserordentlich
empfindlich, neige jedoch mehr zur Trauer als zur
Freude und würde mich ersterer zu sehr überlassen,
lebte nicht in meinem Herzen ein Vorgefühl eines
grossen künftigen Glückes. Ein glühender und uner-
messlicher Ehrgeiz ist mir angeboren und meine Ideen
über verschiedene Reformen zum Ruhm und Nutzen
meines Vaterlandes bilden den Hintergrund all meiner
Projekte und meines ganzen Lebens.
„Ich glaubte mich nicht für die Frauen geschaffen;
meine ersten Versuche galten mir bloss als eine den
Umständen Rechnung tragende Notwendigkeit. End-
lich habe ich doch die zärtliche Liebe kennen gelernt
und ich liebe mit solcher Leidenschaft, dass ich fühle,
ein Umschlag meines Glückes würde mich zum un-
glücklichsten Menschen machen und mich zur Ver-
zweiflungtreiben. Die Pflichten der Freundschaft sind
mir heilig und ich gehe darin sehr weit. Wenn mein
Freund mir Unrecht tut, so gibt es nichts auf der
Welt, was ich nicht unternehmen würde, um einen
Bruch zu verhindern; und noch lange, nachdem er
mich beleidigt hat, erinnere ich mich, dass ich ihm
manche Erkenntlichkeit schulde. Ich glaube, ich bin
ein sehr guter Freund. Es ist wahr, nur mit wenigen
245
Menschen bin ich intim befreundet, obgleich ich für
jedwedes Gute, das mir erwiesen wird, unendlich
dankbar bin. Obgleich ich ungemein rasch die Fehler
meiner Nächsten erkenne, neige ich sehr zu jeder Ent-
schuldigung, infolge einer oft gemachten Erwägung:
wenn man sich auch für noch so tugendhaft hält, ent-
deckt man, bei einer sehr unparteiischen Prüfung, in
sich selbst manchen Keim einer schändlichen Neigung
zu den grössten Verbrechen, zu deren Entfaltuug
vielleicht eine starke Versuchung genügen würde, wäre
man nicht sehr auf seiner Hut. Ich bin freigebig, ich
hasse den schmutzigen Geiz, aber ich bin nicht im-
stande meine Habe zu verwalten. Ich wahre meine
eigenen Geheimnisse nicht so gut wie die der anderen,
mit denen ich sehr gewissenhaft umgehe. Ich bin sehr
mitfühlend. Ich habe ein so starkes Verlangen nach
Liebe und Beifall, dass meine Eitelkeit ins Unermess-
liche wachsen würde, hätte ich nicht solche Furcht
vor der Lächerlichkeit. Ferner lüge ich nicht, sowohl
aus Prinzip wie aus einer angeborenen Abneigung
gegen die Falschheit. Ich bin weit davon entfernt,
devot zu sein, aber ich wage es zu sagen, dass ich
Gott liebe; ich wende mich oft an ihn, und ich hege
den schmeichelhaften Gedanken, dass er es liebt,
Gutes zu tun, wenn wir es von ihm erbitten. Ich bin
auch so glücklich, meinen Vater und meine Mutter
zu lieben, gleichsehr aus Neigung wie aus Pflicht.
Ich wäre nicht fähig, irgend einen Racheplan auszu-
führen, den ich im ersten Zorn fasse; ich glaube, das
Mitleid würde siegen. Man verzeiht ebensooft aus
einer gewissen Schwäche wie aus Grösse, und ich
fürchte, dass ich aus diesem Grunde eines Tages viele
meiner Pläne unausgeführt lassen werde. Ich über-
246
lasse mich gerne meinen Gedanken und verfüge über
»enügend Phantasie, um mich allein und ohne Buch
nicht zu langweilen, hauptsächlich jedoch seitdem ich
liebe (1756)."
„Ich muss jetzt hinzufügen, dass ich lange Zeit den
gleichen Zweck verfolge und nach genauer Beobach-
tung festgestellt habe, dass ich jetzt weniger gehässig
bin, seit ich diese drei Jahre unter verabscheuungs-
würdigen Menschen verbringen musste, die mich
schrecklich quälten. Ich weiss nicht, ob meine Dosis
an Hass erschöpft ist oder ob es mir nur immer so
vorkommt, als hätte ich schon Schlimmeres gesehen.
Sollte ich jemals glücklich weiden, möchte ich, dass
auch alle anderen es seien, damit mir niemand mein
Glück missgönne (1760)."
Was mein Äusseres betrifft, so glaube ich, dass die
t reffendste Ähnlichkeit durch Baciarelli erreicht wurde,
auf dem Porträt im Krönungsornat, das im sogenann-
ten Marmorzimmer im Warschauer Schlosse hängt.
Mein Aufenthalt in Oranienbaum brachte auch
eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Gross-
fürstin und Williams herbei, welche zusammen mit
den Beweisen der Freundschaft und mit der Unter-
stützung, die der König von England dieser Prinzes-
sin damals zuteil werden liess, nicht wenig zu der Vor-
liebe beigetragen hat, die sie seither ziemlich bestän-
dig England zu bewahren schien und die Frankreich
manches Mal zu fühlen bekam, obgleich die Geschichte
Ludwigs XIV. auf Katharinas Geist einen tiefen Ein-
druck machte, den zu bemerken ich oft Gelegen-
heit hatte, so dass ich mich nicht zu täuschen glaube,
wenn ich sage, die gewisse Nacheiferung, ja beinahe
Rivalität mit dem Ruhm Ludwigs XIV., die von Ka-
247
iharinas Seele Besitz nahm, bildete das wirkliche Mo-
tiv von gar manchen ihrer Schritte und Projekte.
Die Geschmacksrichtung, worin sie Ludwig XIV.
am wenigsten gleicht, ist ihr Hang zur Lektüre, der
jener Fürst gar nicht huldigte.
Mir wurde das Vergnügen zuteil, der Grossfürstin
als erster Voltaires „Pucelle cT Orleans" zu lesen zu
geben. Williams hatte oft die begeisterten Schilde-
rungen von Leuten gehört, die dieses Werk im Ma-
nuskript gelesen hatten, als es viele Jahre ganz geheim
gehalten werden musste, weil der Kardinal de Fleury
die schrecklichsten Drohungen gegen den Autor ge-
äussert hatte, sollte das Werk jemals erscheinen. Die
Furcht, die diese Drohungen Voltaire eingefiösst hatten
und die ihn noch dreizehn oder vierzehn Jahre nach
dem Tode des Kardinals von der Veröffentlichung ab-
hielt, wich endlich der Vaterliebe, die schliesslich dem
geliebten Kinde die Freiheit gab. Als ich es mit einem
Brief meines Vaters bekam, beendete ich gerade ganz
traurig ein Diner mit Williams, der sich noch nicht
über die kürzlich erfolgte Einnahme von Mahon durch
den Marschall Richelieu trösten konnte1). Ich kün-
digte ihm die Pucelle wie einen Sieg an; er brach in
einen Freudenruf aus; ich begann zu lesen und war
so entzückt, dass ich um neun Uhr abends erst auf-
hörte, als ich das ganze Buch in einem Zug zu Ende
gelesen hatte.
Ich amüsierte, tröstete und diente meinem Freunde
Williams so gut ich konnte; früher hatte er mich un-
terwiesen, jetzt wurde ich ihm nützlich. Während
seine Gebrechen und die Umstände ihn immer mehr
*) Richelieu nahm den Engländern am 28. Juni 1756 Port Ma-
hon auf Minorka ah. Anm. d. Herausg.
248
an sein Zimmer fesselten, erweiterten sich meine
Kenntnisse und meine Verbindungen mit jedem Tage.
Ich fing an, ziemlich gut Russisch zu sprechen, wie
nur wenige Fremde sich bis dahin darum bemüht
hatten; es wurde mir hoch angerechnet und ver-
schaffte mir manchen Zutritt, den ich sonst nie er-
langt hätte. Auch nützte ich eine Beobachtung aus,
die ich damals machte und deren Richtigkeit ich seit-
her oft verifiziert habe: die grossen Geheimnisse wer-
den nie vor Mitternacht verraten. Derselbe Mann,
den ich morgens ganz zugeknöpft fand, dem ich den
ganzen Tag um den Bart ging und ihn amüsierte,
ohne merken zu lassen, dass ich ihn ausfragen wollte,
entfaltete sich gegen Abend ganz von selbst, wie die
Rose von Jericho; zwischen ein und zwei Uhr mor-
gens stand er in voller Blüte; bei Morgenanbruch ver-
schluss er sich wieder.
Die Sonne und das Geheimnis passen nicht zuein-
ander. So habe ich denn auch im Winter viel mehr
von den Russen erfahren, als während ihres Sommers,
wo sie sechs Wochen lang keine Nacht haben. Ich
konnte damals wachen; die Jugend und die Gesund-
heit sind doch zu manchem dienlich. Auf solche Weise
konnte ich Williams manches hinterbringen, was er
ohne mich vielleicht nie erfahren hätte. Es gelang
mir sogar einmal, eine Idee erfolgreich zu insinuieren,
an deren Vorbringung im Rat der Kaiserin Williams
ein Interesse hatte. Jener Mann, der sie vorbrachte,
tat es im Glauben, er sei ihr Urheber, so sehr hatte
ich ihn durch meine Reden von seinem eigenen Ver-
dienst überzeugt.
Inmitten dieser Beschäftigungen erkrankte ich an
Windpocken. Für Williams war das kein geringes
249
Unglück. Nicht nur, dass es ihn meiner Tätigkeit be-
raubte, aber bereits der geringste Verdacht von Blat-
tern trennte die Bewohner eines Hauses, welches da-
von betroffen war, vierzig Tage lang vom Hofe.
Es ist einer der bemerkenswerten Züge von Katha-
rinas Regierung, dass sie im vierzigsten Lebensjahr
als erste in ihrem ganzen Reich es wagte, sich impfen
zu lassen, und erst nach diesem wirklich kühnen und
patriotischen Versuch liess sie ihren Sohn impfen, und
hierauf wurde dieser Gebrauch in ganz Russland
üblich.
Aber Elisabeth hielt dies noch nicht für möglich
oder erlaubt. Auch bekämpften abergläubische Vor-
urteile diese Methode. So musste man denn auf
tausenderlei Weise meine Krankheit maskieren, da-
mit keine Quarantäne über Williams verhängt wurde
und er die für sein Amt unumgänglichen Beziehun-
gen aufrecht erhalten konnte. Ich genas bald, jedoch
erst nachdem ich mit einem Besuch beehrt wurde,
der mir von allen am meisten schmeicheln musste,
dessen Folgen ich jedoch so sehr fürchtete, dass er
wirklich gegen meinen Willen stattfand; je grösser
ineine Anhänglichkeit hierdurch wurde, um so bitte-
rer empfand ich die Notwendigkeit meiner Abreise.
Ich konnte mich dem Befehl meiner Eltern nicht
widersetzen; sie wollten, dass ich Landbote beim dies-
jährigen Reichstag würde. Die Grossfürstin bezwang
sich und willigte ein, jedoch mit der geheimen Ab-
sicht, nicht nur meine Rückkehr zu sichern, sondern
mir auch eine weniger prekäre Existenz in Petersburg
zu verschaffen, die mir vor allem gestatten sollte,
mich ihr auch in der Öffentlichkeit zu nähern.
Ich habe weiter oben schon gesagt, auf welche
35o
Weise Bestuschew diesen Willen der Grossfürstin
ausführte. Um mich seiner redlichen Absichten zu
versichern, schickte er einen seiner vertrauten Sekre-
täre, namens Kanzler, mit seinem Brief an den Grafen
Brühl zu mir, und Kanzler versiegelte diesen Brief vor
meinen Augen, nachdem ich von dessen Inhalt Kennt-
nis genommen.
Der Zufall wollte, dass Graf Esterhazy, der Ge-
sandte des Wiener Hofes, an jenem Tage Williams
besuchte und hierauf auch in mein Zimmer kam, als
er sich von Williams verabschiedet hatte. Ich war so
unvorsichtig gewesen, meine Zimmertür nicht zu ver-
riegeln; er traf Kanzler bei mir; das bestätigte in ihm
den Verdacht, den er betreffs meiner Liaison bereits
hegte (er hat es mir später gestanden, als er mein
Freund wurde); wahrscheinlich trug dies dazu bei,
dass die Öffentlichkeit und folglich auch Elisabeth
über mich näher unterrichtet wurden.
Wie dem auch sei, anfangs August reiste ich in
Begleitung des Grafen Hörn ab, von dem bereits frü-
her die Rede war. Ich kann mich nicht mehr entsin-
nen, welche Angelegenheit ihn veranlasste, über Riga
nach Schweden heimzukehren.
Da wir in demselben Hause logierten, befand ich
mich am Morgen nach unserer Ankunft in seinem
Zimmer, als man mir meldete, ein Offizier wünsche
mich zu sprechen. Ich Hess ihn eintreten. Ein kleiner
unansehnlicher Mann trat in der demütigsten Hal-
tung auf mich zu; in der Hand hielt er eine geöffnete
Schachtel, in der Brillanten aufblitzten; er stammelte
ein Kompliment, das ich erst verstand, als er mir einen
Brief des Vizekanzlers Woronzow und einen anderen
des Kammerherrn Iwan Iwanowitsch Schuwalow
3 5 i
übergab, des damaligen Günstlings Elisabeths, worin
mir mitgeteilt wurde, dass die Fürstin mich mit dem
Geschenk beehrte, welches dieser Offizier mir über-
geben sollte.
Ich erzähle diese kleinen Details um zu zeigen, dass
ich durchaus keine Veranlassung hatte, mich zu be-
unruhigen oder gar zu erschrecken, und doch ver-
suchten jene, die mir bei Elisabeth schaden wollten,
sie glauben zu machen, ich sei in grösster Bestürzung
gewesen, als ich den russischen Offizier erblickte; aus
dieser Bestürzung folgerten sie, ich hätte Grund zu
Befürchtungen, und das veranlasste die Kaiserin, mit
Bezug auf mich das russische Sprichwort zu äussern :
„znajet koszka, czje miaso jela", das heisst: „die Katze
weiss, wessen Fleisch sie gefressen".
Ich beantwortete die beiden Briefe, wie es sich
nach dieser Auszeichnung gebührte, welche Personen
gegenüber, die kein öffentliches Amt bekleideten,
wenig gebräuchlich war. Dann trennte ich mich von
meinem Freunde Hörn mit um so grösserem Bedauern,
als er in Anbetracht der ganzen Lage seines Landes
und seiner Partei manchen Fährlichkeiten ausgesetzt
schien ; ich hatte die Genugtuung, später zu erfahren,
dass es ihm glückte, ihnen zu entrinnen.
2^2
ZWEITES KAPITEL
LIVLÄNDISCHER LANDTAG. — FLEMMINGS MAR-
SCHALLSAMT. — STRGPPEN. — DER NICHT ZU-
STANDEGEKOMMENE REICHSTAG. — MEINE MIS-
SION. — MEINE COUSINE. — ARREISE. PORTRÄT
VON OGRODZKI. — RIGA. APRAXIN. PETER PA-
NIN. — MEINE ANSPRACHE. — RÜHRENDE
WORTE WILLIAMS'. — APRAXINS VERHALTEN. —
UNGLÜCK AUGUSTS III., SACHSENS UND PO-
LENS. — DIE VERSCHLECHTERUNG DER MÜN-
ZEN IN POLEN. — EIFER DER JUDEN FÜR DEN
KÖNIG VON PREUSSEN.
Ich brach also nach jenem Teil Livlands auf, der
damals noch polnisch war. Zuerst begab ich mich
zu einem Bekannten namens Borch *) — damals Kam-
merherr dieser Woiwodschaft, später Grosskanzler —
auf dessen Besitzung Warklany. Mit ihm fuhr ich nach
Dünaburg, wo laut dem Gesetz der Landtag dieses
Kreises abgehalten werden musste; der dortige Adel
war weit weniger zahlreich, jedoch im allgemeinen
wohlhabender und gesitteter, als ich ihn auf anderen
Landtagen angetroffen, und er rechnete es mir hoch
an, dass ich persönlich gekommen war, um mich um
das Landbotenamt zu bewerben, was seit langem kein
Einwohner der Krone und nur selten ein Litauer ge-
tan hatte. Meine Wahl verlief ohne Schwierigkeiten
und ich beeilte meine Abreise, um über Wilno nach
Warschau zurückzukehren.
In Wilno traf ich Flemming, den Grossschatzmeister
von Litauen, der als Marschall am Tribunal fungierte
und dieses Amt nicht nur gerecht aber auch so vor-
trefflich verwaltete, dass er sich die Achtung und
Liebe der Einwohner dieser Provinz gewann.
Dies war um so bemerkenswerter, als Flemming
') Jan Borch, Kammerherr von Litauen, wurde 1767 zum
Unterkanzler, 1780 zum Krongrosakanzler ernannt. Anm. d.
Herausg.
254
sehr brüsk, oft sogar derb und bizarr bis zur Über-
spanntheit war, dabei nur schlecht Polnisch sprach,
kein anderes Vergnügen zu kennen schien, als das
Kartenspiel um Groschen und gewohnheitsmässig
geizige Redensarten im Munde führte, — und doch
verstand er es, sich den wohlverdienten Ruf eines ge-
rechten und damals ziemlich populären Mannes zu
erwerben, über dessen wunderliche Laune man sich
amüsierte; er war dem Lande auch durch das Beispiel
seiner guten Landwirtschaft nützlich, das vielfach be-
folgt wurde; er konnte manchmal auch dienstfertig
sein für jene, die es verstanden ihm zu gefallen; mich
liebte er damals, denn ich belustigte ihn und, was
noch mehr zu bedeuten hatte, ich fand grossen Ge-
fallen an seiner Originalität und seinen Bonmots.
Das für jedermann beschwerliche Amt eines Mar-
schalls am Tribunal musste fürFlemming doppelt be-
schwerlich sein, da er nach einer in Frankreich ver-
brachten Jugend bei uns stets als Fremder ange-
sehen wurde und seine Neigungen und sein Wesen
einer solchen Beschäftigung gerade entgegengesetzt
schienen. Er hatte es nur deshalb übernommen, um
in Litauen der Partei des Fürsten Czartoryski empor-
zuhelfen, dessen Schwiegersohn er zweimal wurde,
noch mehr jedoch aus dem Grunde, um den wirklich
zügellosen Lauf der barbarischen Grausamkeiten auf-
zuhalten, welche die Anhänger des Hauses RadziwiW
seit einigen Jahren verübten, vor allem seit der Sohn
des Grosshetmans und Woiwoden von Wilno, dessen
Porträt ich weiter oben entworfen habe, das Mar-
schallsamt in wirklich skandalöser Weise ausgeübt
hatte. Was man damals in Litauen zu sehen bekam,
erinnerte an das Bild, das man vor Augen hat, wenn
255
man die Geschichte Schottlands vor seiner- Vereini-
gung mit England liest.
Die einjährige Gerichtsverwaltung Flemmings
schuf viel Gutes, doch war es vergänglich, da sie bald
einem Tribunal der Radziwills Platz machte und
neuen Missbräuchen, die noch schlimmer waren als
alle vorhergehenden, und nur die Überzeugung der
Notwendigkeit einer Reform herbeiführte, die von
Dauer wäre. Den Effekt werden wir in der Folge
dieser Memoiren kennen lernen.
Wie gross war jedoch mein Erstaunen bei meiner
Ankunft in Warschau, Ende August 1736, als ich er-
fuhr, dass der König von Preussen losgeschlagen hatte
und dass unser König August III., Kurfürst von Sach-
sen, und seine ganze Armee im Lager von Struppen
bereits umzingelt waren.
Da dieses Ereignis die Ankunft unseres Königs in
Polen verzögerte und der zur Eröffnung des Reichstags
bestimmte Termin verstrich, fand er gar nicht statt.
Gross war mein Redauern, dass ich Petersburg ver-
lassen hatte, um mir in Dünaburg ein Mandat zu holen,
das nun hinfällig wurde!
Und gross waren meine Resorgnisse, als ich alles
so verändert sah, dass ich nicht einmal hoffen konnte,
als Freund, oder wenigstens als politischer Freund des
Chevaliers Williams nach Russland zurückzukehren.
Und doch war es mein grösster Wunsch, der heftigste,
den ich je verspürt.
Es musste also bedacht werden, wie ich mit einem
Auftrag des Königs von Polen wieder hinkommen
konnte, um seine Sache dort zu führen und von Russ-
land Hilfe gegen den König von Preussen zu erbitten.
Aber welche Hindernisse waren da noch zu bewältigen !
256
Meine Familie stand seit der Ostrog-Affäre bei Hofe
schlecht angeschrieben. Diesem Übelwollen konnte
ich den dringenden Brief Bestuschews entgegenstellen,
dem Brühl entnehmen musste, inwieweit ich den In-
teressen Sachsens dienen konnte.
Brühl jedoch musste die gegen mich und meinen
Anhang gerichtete Animosität Mniszechs und jener
Hälfte von Polen, die zu ihm hielt, bekämpfen, die
Brühl zu verletzen fürchtete, kaum dass er sie für
sich gewonnen. Ausserdem durfte der König, laut
dem Gesetz, einen Minister für Polen nur durch ein
Senat us consilium ernennen, und im gegenwärtigen
Augenblick schien es misslich, eines einzuberufen,
weil der allgemeine Aufruhr, den der König von
Preussen in ganz Europa verursachte, auch in Po-
len zu wirken begann; doch selbst wenn dieses Se-
natus consilium mir günstig gesinnt wäre, könnte es
mich doch zu nichts autorisieren, was Sachsen beti*af,
es sei denn, dass die auf einem Landtag oder in einer
Konföderation vereinte Republik erklärte, sie wolle
— in den sächsischen Angelegenheiten — mit dem
König gemeinsame Sache machen; doch von einer
solchen Piesolution war die polnische Nation weit
entfernt.
Blieb der einzige Ausweg, dass der König als Kur-
fürst von Sachsen mich zu seinem Minister in Russ-
land ernannte, da es dem sächsischen Kurfürsten frei-
stand, sich der Dienste irgend eines Menschen, ohne
Rücksicht auf dessen Nationalität, zu bedienen und
jeder Pole einem fremden Fürsten dienen durfte. Mein
Vater selbst war nach dem Tode Kaiser Karls IV. von
August III. mit der Vertretung seiner Interessen in
Frankreich beauftragt worden. Er trat dort zwar nicht
i 7 Poniatowski 2 3 7
in seiner offiziellen Rolle auf, sein Akkreditiv stammte
jedoch aus dem sächsischen Kabinett.
Man entschloss sich also zu diesem Ausweg; den-
noch meinte meine Familie, um meiner Mission mehr
Relief zu geben sei es nötig, mir unter litauischem
Siegel eine Art Instruktion betreffs der zwischen
Polen und Russland schwebenden Angelegenheiten
zu verschaffen. Mein Oheim, der Kanzler, nahm die
Gesetzmässigkeit dieses Schrittes auf sich.
Jetzt musste man nur noch für die Kosten dieser
Mission Sorge tragen. August III., der all seiner säch-
sischen Einkünfte beraubt war, verfügte in dieser un-
seligen Lage nur über seine Einkünfte aus Polen zur
Bestreitung der unumgänglichen Kosten seines Le-
bensunterhalts; für die Kosten meiner Legation blieb
ihm nichts übrig, ausserdem gab die Krone zu ver-
stehen, dass, wenn sie sich von meinen Diensten etwas
erhoffte, ich selbst durch die Mission doch als erster
belohnt würde. So musste ich denn von meiner Fa-
milie das Nötige erhalten, andernfalls konnte ich die
Mission nicht übernehmen.
Hierbei stiess ich noch auf grosse Schwierigkeiten.
Mein Vater wünschte zwar, dass ich den Auftrag
übernahm, jedoch meine Mutter, die gewiss auch
meinen Erfolg und mein Avancement aus ganzem
Herzen herbeisehnte, musste gegen ihre religiösen Be-
denken ankämpfen; da dessenungeachtet mein Vater
es durchaus wollte, gab sie nach, aber mit all den
Sorgen einer frommen Mutter, welche die verschie-
denen Gefahren und Klippen genau voraussah, denen
der Lieblingssohn ausgesetzt sein würde. Der Fürst-
Woiwode von Ruthenien half mir die Ungewiss-
heiten meiner Eltern besiegen ; er sah voraus, welch
258
ein Relief meine Mission unserer Familie verleihen
würde, als deren Haupt er sich bereits fühlte; Unter-
stützung fand ich bei diesem Oheim durch seine Toch-
ter, die mit dem Fürsten Lubomirski verheiratet war.
Ich habe bereits im ersten Teil meiner Geschichte
von ihr berichtet. Nach einer Abwesenheit von acht-
zehn Monaten fand ich sie gereifter, liebenswürdiger
und tatkräftiger, als vor meiner Abreise.
Die liebenswürdige Art, mit der sie mir damals half,
ihre so wirksamen Bemühungen, mir die Rückkehr
zu einer anderen Frau zu ermöglichen, weil ich dies
so sehnsüchtig wünschte, erweckte in mir eine so leb-
hafte Dankbarkeit, Hess mich in ihr einen so hervor-
ragenden Menschen erblicken, dass ich für sie eine
Art Freundschaft empfand, wie ich sie noch für keine
andere Frau verspürt hatte. Und diese Frau war ausser-
ordentlich schön und in jeder Weise reizvoll; sie war
noch nicht zwanzig Jahre alt; sie wurde von jeder-
mann begehrt und hatte noch niemanden mit ihrer
Gunst bevorzugt. Aber es geschah alle Tage und jeden
Augenblick, dass sie mit mir einer Meinung war, über
Dinge wie über Menschen, über Bücher wie über Putz
und Flitter; um es kurz zu sagen, ob es sich um ernst-
hafte oder belanglose Dinge handelte, stets urteilte
sie wie ich, auch ohne dass wir uns je besprochen
hätten. Zärtlich wie keine andere Frau auf Erden,
und zwar damals in rein edelmütiger Weise, sah und
vermutete man in ihr nur den Wunsch helfen zu
können. Sie selbst schickte mich fort, aber ich war
ihr dafür so ausserordentlich dankbar, dass ich im
Moment meiner zweiten Abreise nach Petersburg mir
nicht mehr Rechenschaft geben konnte, ob sie mich
nicht pflichtvergessen machte. Nur so viel weiss ich
»7* 25g
gewiss, dass ihr Bild und die Empfindungen, die
sie in mir erweckte, gleich hinter denen rangier-
ten, die ich für die Grossfürstin empfand. Der
Wille dieser letzteren dekorierte mich durch die
Hand Bestuschews mit dem blauen Band des Polni-
schen Weissen Adlerordens, einige Tage ehe ich
Warschau verliess.
Endlich, am i3. Dezember 1756, reiste ich ab, und
zwar in Begleitung eines Mannes, der mir unschätz-
bare Dienste leisten sollte: dieser Mann war Ogrodzki1).
Nach Absolvierung der Krakauer Universität im
Hause meines Vaters erzogen, hatte er ihn auf seinen
Reisen in Frankreich begleitet, war hierauf in Holland
bei meinen älteren Brüdern geblieben, deren Studien
unter Kauderbach er mitmachte; hierauf Kanzleiver-
weser des Kanzlers Zaluski, war er wiederholt mit ihm
in Dresden, was ihn später auf einen besoldeten Po-
sten im sächsischen Kabinett gelangen liess; mit einer
besseren humanistischen Bildung und gründlicheren
Studien der Naturgeschichte und der französischen
Literatur, als sie damals in Polen allgemein üblich
waren, hatte er sich am Hofe noch eine grosse Routine
in auswärtigen Angelegenheiten und inneren Fragen
des Landes angeeignet; er war ein ganz seltener
Mensch. Man konnte von ihm sagen, dass er nicht
nur alle Polen und alle Litauer dem Namen nach und
von Ansehen kannte, sondern dass er auch über ihre
Angelegenheiten, ihre Verbindungen und ihre Aben-
teuer Bescheid wusste. Zu alledem noch arbeitsam,
exakt, verschwiegen, bescheiden, geduldig, ruhig und
*) Jacek Ogrodzki (171 1 — 1780), Grosssekretär der Krone
und Kabinettsverweser des Königs Stanislaw August. Anm. d.
Herausg.
?A)0
unserem Hause so anhänglich, dass er sich verpflichtet
fühlte mich zu lieben, mir aus allen Kräften zu dienen
und über mir zu wachen wie ein treuer Wächter, je-
doch ohne jemals einen pädagogischen Ton anzu-
schlagen. Das war der Mann, derauf meinen Wunsch
mir mitgegeben wurde, um mir auf meinem Gesandt-
schaftsposten als Sekretär zu dienen.
Am 29. Dezember langte ich in Riga an und ver-
weilte dort zwei Tage, um der Einladung des Feld-
marschalls Apraxin1) zu einem Ball, den er am Ge-
burtstage der Kaiserin Elisabeth veranstaltete, Folge
zu leisten.
Ich musste mich bemühen, diesem Manne zu ge-
fallen. Er befehligte die Armee, die für meinen Ge-
bieter kämpfen sollte, und zwar hatte der Kanzler Be-
stuschew ihm diese wichtige Aufgabe zuerteilt. Auf
meiner ersten Reise hatte ich ihn als einen Mann
kennen gelernt, der sich etwas darauf zugute hielt,
dass er einer der Densen iks Peters des Grossen ge-
wesen war, für dessen Berufung auf einen solchen
Posten jedoch weder eine besondere Heldentat noch
irgend ein angemessenes Verdienst sprachen; es war
nur sein Alter, das ihm diese Art Anciennitätsrecht
verschaffte. Nach ihm war der Erste dieser Armee der
General Lieven, der im Jahre 1749 die russischen
Truppen aus Deutschland zurückgeführt hatte. Jedoch
war der tätigste Mensch in diesem Korps der tapfere
*) Stefan Feodorowitsch Graf Apraxin (1702 — 1 758) zog
nach seinem Sieg über die Preussen bei Grossjägersdorf
(3o. Aug. 1757) seine Truppen nach Russland zurück und
wurde deshalb unter Anklage gestellt, er sei von Friedrich II.
bestochen worden. Er starb vor der Entscheidung des Kriegs-
gerichts im Gefängnis. Anm. d. Herausg.
26 I
General Peter Panin *), der in seiner Eigenschaft als
general de jour unter Marschall Apraxin alles ver-
richtete und gleichzeitig, wie behauptet wurde, mit
grösster Ausdauer der Frau Marschallin seine Be-
flissenheit erwies.
Am 3. Januar 1707 in Petersburg angelangt, wurde
ich am 11. in Audienz empfangen. Meine Ansprache
an die Kaiserin war die Rede eines jungen Mannes,
der ohne vorauszusehen, dass sie in die Zeitung ge-
setzt würde, sich nur bemühte, den Gegenstand seiner
Mission mit kräftigen Farben auszumalen bei dieser
(vielleicht einzigen) Gelegenheit, wo er zur Herrsche-
rin in eigener Person darüber sprechen konnte, da
die Etikette es keinem Minister zweiten Ranges ge-
stattete, während der ganzen Dauer seiner Gesandt-
schaft ihr direkt einen Vortrag über die Geschäfte zu
halten.
Der Wortlaut meiner Ansprache soll hier folgen :
„Indem ich die Ehre habe, zu Ew. Kaiserlichen
Majestät im Namen Seiner Majestät des Königs von
Polen zu sprechen, gehorche ich seinem Befehl als
treuer Untertan und eifriger Patriot und versichere
Ew. K. Majestät, dass die Freundschaft meines Herrn
und die Ergebenheit meiner Nation für Ew. K. Ma-
jestät geheiligte Person unter den gegenwärtigen Um-
ständen ebenso unverbrüchlich und aufrichtig sind,
wie seit jeher; dies bezeugt der Brief meines könig-
lichen Herren, den zu überbringen ich die Ehre habe.
Die Gerechtigkeit, die im Konseil Ew. K. Majestät prä-
*) Peter Iwanowitsch Graf Panin (1721 — 1789) kämpfte er-
folgreich im Siebenjährigen Kriege, nahm an der Besetzung
Berlin^ 1760 teil. Später zeichnete er sich im Türkenkriege
aus, erstürmte Bender (1770). Anra. d. Heraus».
262
sidiert, und das Interesse dieses Reiches sprechen zu-
gunsten des Königs, meines Herren, und gegen den
ruchlosen Einbruch in seine angestammten Staaten.
Und dieser Umstand schon würde mir einen Erfolg
der wichtigen Mission versprechen, mit der ich vor
eine Herrscherin trete, die ihren höchsten Ruhm im
Glück ihrer Untertanen erblickt und in der Unter-
stützung der Unschuld, selbst wenn Ew. K. Majestät
sich über diesen Gegenstand noch nicht ausgesprochen
hätten. Jedoch Europa ist bereits durch Reskripte dar-
über unterrichtet, in denen es, voller Bewunderung,
die Tochter Peters des Grossen erkannt hat.
„So besteht denn meine hauptsächlichste Aufgabe,
welche, wenn ich so sagen darf, der wohltätigen Seele
Ew. K. Majestät am meisten schmeicheln wird, darin,
Ew. K. Majestät mit den ausdrucksvollsten und wärm-
sten Worten die Vei-sicherung der immerwährenden
und unwandelbaren Dankbarkeit auszusprechen, die
das Herz meines Königs und Herren für Ew. K. Maje-
stät erfüllt. Ew. K. Majestät haben Ihre gerechte Ent-
rüstung über einen Fürsten, dessen Ehrgeiz ganz Eu-
ropa mit dem gleichen Unheil bedroht, das heute
über Sachsen hereingebrochen ist, der Öffentlichkeit
bekannt gegeben. Sie haben versprochen, die Unbill
zu rächen. Einer Kaiserin von Russland ist nichts un-
möglich. Wenn aber die Kaiserin Elisabeth ein Unter-
nehmen ankündigt, dann wird es nicht nur möglich,
sondern gewiss, und der König mein Herr wird seine
Staaten ruhmvoll zurückerlangen, da Ew. Kaiserliche
Majestät es wollen und dies ausdrücklich erklärt haben.
„Ich will mich nicht dabei aufhalten, das fürchter-
liche Bild eines Staates vorzuführen, der mitten im
tiefsten Frieden unter Bruch aller Traktate überfallen
263
wurde; eines Königs, dessen Freund zu sein man be-
hauptet und dem man sozusagen nur die Wahl zwi-
schen Tod und Schmach gelassen hat; seiner könig-
lichen Familie, die den äussersten Härten unterwor-
fen, den schmachvollsten Insulten ausgesetzt wurde;
einer Kapitulation, die durch die barbarischeste Be-
handlung der Offiziere und Soldaten verletzt wurde,
deren Treue von jedem anderen Feind respektiert
worden wäre; und schliesslich eines Landes, das seit
vier Monaten von einer feindlichen Armee okkupiert
und verheert wird. Ich will mich nicht dabei aufhal-
ten, neue Farben diesen Bildern aufzutragen, die nur
allzu bekannt sind. Aber ich bin überzeugt, das Mit-
gefühl Ew. K. Majestät muss aufs lebhafteste ergriffen
sein bei dem Gedanken, dass jeder weitere Tag das
Unglück des unschuldigen Sachsenlandes noch ver-
schlimmert und, was nicht minder wahr ist, dass je-
der Monat, jede Woche des Aufschubs die Macht des
Königs von Preussen vergrössert.
„Die Kräfte, die er nach den im Jahre 1744 er~
littenen Niederlagen im Jahre 174^ zu finden und
zu verwenden verstanden hat, beweisen, dass er eiue
Hydra ist, die vernichtet werden muss, sobald sie zu
Boden liegt.
„Der Widerstand, den er jetzt in Böhmen gefun-
den hat, erstaunt ihn, aber es liegt an Ew. K. Maje-
stät, ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen. Die
weite Entfernung verhindert die anderen Mächte au
einem rascheren Erfolg ihrer Vorbereitungen, und es
scheint Ew. K. Majestät vorbehalten zusein, einen un-
terdrückten Verbündeten zu retten und hierdurch dem
Universum zu zeigen, dass der Wille und die Tat für
Ew. K. Majestät nur Eines sind und dass nichts den
264
König Friedrich II.
glorreichen Sieg einer russischen Armee aufhalten
kann, deren Anführerin die Gerechtigkeit ist.
„Möge der Himmel meiner Stimme Überzeugungs-
kraft verleihen, und meine heissesten Wünsche wer-
den in Erfüllung gehen, wenn ich mich der Wahl
meines Herren würdig erweise und durch meinen Auf-
enthalt und mein Verhalten an dem erhabenen Hofe
Ew. K. Majestät mir auch ferner die Huld bewahre,
mit der Ew. K. Majestät mich bei meiner Abreise von
hier durch so ehrende und grossmütige Beweise aus-
zuzeichnen geruhten.
„Meine Dankbarkeit erfüllt mich mit solcher Ehr-
furcht, dass ich keinen Ausdruck für sie finde; ich
vermag nur Ew. K. Majestät meine tiefste Ehrerbie-
tung zu Füssen zu legen."
Meine Ansprache wirkte, wie denn manchmal das
Glück der Kühnheit günstig ist. Die Kaiserin hatte
bisher immer nur banale Komplimente zu hören be-
kommen, von Leuten hervorgestammelt, die nicht
gewöhnt waren, in der Öffentlichkeit zu sprechen, so
dass sie kaum deren Worte verstehen konnte. Es war
etwas Neues für sie, offiziell ein schmeichelhaftes Lob
von einem Fremden zu vernehmen, der mit heller
Stimme und leidenschaftlicher Überzeugung sprach,
da er von dem Gegenstand seiner Rede ganz erfüllt
war; im übrigen hegte sie selbst schon die Überzeu-
gung, dass der König von Preussen im Unrecht war.
Sie ordnete deshalb ausdrücklich an, dass meine An-
sprache gedruckt werde. Als man sie in Warschau las,
tadelte meine Familie den Ausdruck „Hydra" und
fürchtete die Räch gier des Königs von Preussen. Die-
ser jedoch sagte bloss, als er meine Ansprache ge-
lesen: „Ich wollte, er hätte die Wahrheit gesprochen
265
und die abgeschlagenen Köpfe würden mir wieder
anwachsen." Das sind gewiss Worte eines wahrhaft
überlegenen Menschen, der damals auch viel zu sehr
beschäftigt war, um eine Phrase übel zu nehmen.
Unter den offiziellen Besuchen, die ich bei meinem
Antritt zu erledigen hatte, gebührte auch einer dem
Chevalier Williams. Nicht ohne Rührung entsinne
ich mich derWTorte, die er damals an mich richtete:
„Ich schätze und liebe Sie wie ein Kind, das ich auf-
erzogen, — denken Sie stets daran; was jedoch die
Erfüllung Ihrer Pflicht anlangt, so würde ich in Ihnen
meinen Schüler verleugnen, sollte Ihre Freundschaft
für mich Sie zu dem geringsten Schritt oder der ge-
ringsten Unvoi'sichtigkeit veranlassen, die gegen die
Vorschriften Ihres jetzigen Amtes Verstössen würde."
Ich habe diese Lehre befolgt, obgleich mein Herz
dabei litt; ich brach die Beziehungen zu ihm ab und
hatte keine private Zusammenkunft mit ihm, — erst
wieder ein Jahr später, als er seinen Posten verliess.
Mit den besten Hoffnungen auf einen baldigen
Erfolg trat ich also mein Amt an, gestützt auf die
Schriften und Worte der russischen Minister, die
den Befehlen ihrer Fürstin entsprachen. Ungeach-
tet dessen konnte nichts langwieriger und inkonse-
quenter sein, als die russischen Operationen in diesem
Kriege.
Die Öffentlichkeit wusste, dass der Grossfürst den
König von Preussen vergötterte, dass Bestuschew der
Grossfürstin ergeben war, dass Apraxin zu Bestuschews
Kreaturen gehörte und dass ich Williams Schüler ge-
wesen. Man schloss daraus, dass Bestuschew durch
Geheimordres die Absichten Elisabeths durchkreuzte;
und dennoch war diese Vermutung durchaus irrig.
266
Bestuschew, aus Prinzip ein Anhänger Österreichs,
war so weit gekommen, dass er den König von Preus-
sen hasste, aus lauter Gewohnheit ihm zu schaden,
und weil dieser Fürst seinen Untergang beschlossen
und in gedruckten Versen Böses über ihn gesagt hatte,
nachdem er vergeblich versucht, ihn zu bestechen.
A praxin hatte den redlichsten Willen, die Absichten
seines Protektors auszuführen, und wie wir es weiter
unten sehen werden, wurde er darin durch die Gross-
fürstin eifrigst bestärkt. Ich war ganz von meinem
Pflichtgefühl erfüllt und glaubte überdies, dass wenn
ich am Buin des Königs von Preussen arbeitete, ich
sowohl meinem Vaterlande diente, wie auch unserem
Könige, dem Kurfürsten von Sachsen.
Apraxins Ungeschicklichkeit und seine Schwäche,
die an Unfähigkeit grenzte, waren die einzige Ursache
des sonderbaren militärischen Vorgehens der Bussen
während des ganzen Jahres 1737.
Seine Korpulenz erschwerte ihm das Beiten; er
stand spät auf, weil er bis spät in die Nacht hinein
seine Narrenspossen trieb und erst einschlafen konnte,
nachdem zwei bis drei Grenadiere, die einander im
Erzählen von Menschenfresser- und Gespensterge-
schichten ablösten, sich heiser geschrien hatten;
man staunte, rings um das Generalszelt die lauten
Stimmen zu vernehmen, während sonst im ganzen
Lager strengste Stille herrschen musste; das gehörte
zu den täglichen Praktiken. Damals gab es noch im
russischen Volke und in der Soldateska Erzähler von
Profession, ungefähr wie jene, die in türkischen Cafes
die schweigsame Müsse der Türken ergötzen.
Apraxin wusste auch nicht das geringste, so dass
am 20. August 1767, dem Tag der Schlacht von Jä-
26-7
gerndorf x), der Sieg ihm bereits zuneigte, als er noch
immer glaubte, man wäre nur auf dem Marsche; er
war so bestürzt, als er endlich erfuhr, dass dies eine
Schlacht war, dass er während ihrer ganzen Dauer
nicht einen Befehl gab, und er war so erstaunt, als
man ihm seinen Sieg meldete, dass er nichts anderes
zu tun wusste, als am nächsten Tage den Rückmarsch
zu befehlen, indes in Königsberg der Magistrat bereits
die Deputierten ernannt hatte, die ihm die Schlüssel
der Stadt übergeben sollten, — so vollständig war die
Niederlage der Preussen, und zwar infolge eines son-
derbaren Zusammentreffens verschiedener Umstände,
welches Zufall genannt wird und das von Zeit zu Zeit
selbst den Gewandtesten und Vermessensten den Be-
weis erbringt, dass sie nur ein Instrument sind, auf
dem der Herr des Schicksals spielt, wie es ihm beliebt.
Es steht fest, dass die Preussen an jenem Tage tapfer
kämpften; General Lewaldt galt als einer der besten
preussischen Generale; die russischen Generale erteil-
ten keinen Befehl; einige mussten es mit ihrem Leben
bezahlen; die Soldaten machten fast alles selbst; sie
wussten, dass sie schiessen mussten, solange sie noch
Patronen hatten, und dass sie nicht fliehen durften;
sie erfüllten nur diese Pflicht und töteten hierbei so
viele Preussen, dass derZufall sich bemüssigt sah, ihnen
das Schlachtfeld zu überlassen.
Apraxin schickte den Grafen Peter Panin, seinen
General vom Dienst, mit der Siegesnachricht nach Pe-
tersburg; in Abwesenheit dieses tapferen, klugen und
treuen Offiziers nützten andere Apraxins Unfähigkeit
aus und machten ihn glauben, seine Armee würde
') Gemeint ist die Schlacht bei Grossjägersdorf am 3o. Au-
gust 1757. Änm. d. Herausg.
268
aus Mangel an Lebensmitteln zugrunde gehen, wenn
er vorrückte.
Auf General Lieven, der in dieser Armee nach
A praxin im Range einer der Ersten war, fiel der Ver-
dacht, er sei vom König von Preussen bestochen wor-
den, seinem Chef den Rückzug anzuraten; da jedoch
Lieven sein ganzes Leben hindurch ehrenvoll gehan-
delt hat, darf man sein Andenken nicht beflecken,
ohne einen wirklichen Beweis zu hoben. Wer nun
auch dieser Ratgeber gewesen sein mag, — Apraxin
kehrte um und auf dem gleichen Wege nach Samo-
gitien zurück, als wäre er geschlagen gewesen, und
verwüstete das feindliche Land auf seinem Rückzug,
als hätte man ihn verfolgt. Die Höfe von Wien und
Versailles schrien: Verrat! der Hof von Warschau be-
gnügte sich zu klagen, dass die Sachsen zugesagte
Hilfe zurückgezogen wurde.
Die Kaiserin Elisabeth setzte General Fermor l) an
Apraxins Stelle und liess diesen arretieren; zu diesem
Schritt trieben sie alle Feinde Bestuschews und der
Grossfürstin, welche glaubten, sie könnten so ihren
Hass gegen diese beiden befriedigen; aber wie staunte
man, als unter Apraxins Papieren Billetts der Gross-
fürstin gefunden wurden, die Apraxin anbefahlen,
rasch und energisch gegen den König von Preussen
vorzugehen! Das rettete Bestuschew für den Augen-
*) Wilhelm Graf Fermor (1704 — I77i)i russischer General,
entstammte einer englischen Familie. 1758 nahm er Thorn
und Elbing, ward Generalgouverneur von Preussen; am
iS. August 1758 wurde er bei Zorndorf besiegt, worauf
er den Oberbefehl niederlegte. Von Katharina II. wurde er
zum Generalgouverneur von Smolensk ernannt. Anm. d.
Herausg.
269
blick und brachte dem kaiserlichen Hause anschei-
nend den Frieden zurück.
Es ist überflüssig", hier die genauen Details meiner
dringenden Gesuche und zahlreichen Noten anzufüh-
ren, durch die ich während der ganzen Zeit meiner
Gesandtschaft mich bemühte, das meinem Herrn ge-
gebene Versprechen zu realisieren und seine Ausfüh-
rung zu beschleunigen; die mir zukommenden Ant-
worten waren fast stets günstig, jedoch die Gebrechen
des Hofes und der ganzen Administration verzögerten
den Erfolg, — die Mittel entsprachen nicht dem
Zweck.
August III. blieb während der sieben Jahre dieses
schrecklichen Krieges fast der ganzen Einkünfte aus
seinem Kurfürstentum beraubt.
Die gewöhnlichen Einkünfte Sachsens beliefen sich
damals auf neun Millionen Taler; man kann an-
nehmen, dass der König von Preussen durch allerlei
Steuern mindestens dreimal so viel herauszog. 7 mal
9 sind 63, 3 mal 63 sind 189, — so viel Millionen
Taler brachte Sachsen dem König von Preussen ein;
700000 Pfund Sterling jährlicher englischer Sub-
sidien, die noch hinzukamen, ermöglichten, was un-
möglich schien : dass ein brandenburgischer Kurfürst
sieben Jahre lang den vereinigten Ländern Russland,
Österreich, Frankreich und Schweden widerstehen
konnte.
Ausserdem verschaffte sich dieser Fürst einen gar
nicht abzuschätzenden Profit dadurch, dass er (als
erster unter allen Herrschern) den Brauch einführte,
mit dem Stempel eines anderen Monarchen Münzen
zu prägen; jedoch begnügte er sich nicht damit, in
der sächsischen Münze Geldstücke mit dem Bildnis
270
Augusts III. prägen zu lassen, er Hess sogar die Stem-
pel in seinen eigenen Staaten nachahmen und ver-
ringerte mit der Zeit den Münzgehalt bis zu dem
Grade, dass die Geldstücke schliesslich nicht einmal
den dritten Teil des Wertes hatten, unter dem sie
kursierten.
Da der Hauptschauplatz dieses Krieges in Sachsen
lag und er dort, die Waffe in der Hand, nur das kaufte,
was er nicht gratis zu nehmen beliebte, bestritt er
seine Ausgaben mit dem dritten Teil der allgemein
angenommenen Summe.
Aber er fügte diesen Schaden nicht nur Sachsen
allein zu; Polen litt genau sosehr, und zwar geschah
dies folgendermassen : das Traktat von Wehlau1)
hatte zu den Vorteilen, die das Haus Brandenburg in
Ostpreussen bereits besass, noch einen hinzugefügt,
dass nämlich hinfort beide Staaten nach Übereinkunft
den Münzfuss bestimmen sollten. Das wurde nie be-
achtet; die regierenden Fürsten des Hauses Branden-
burg begnügten sich damit, eigenmächtig Münzen
prägen zu lassen, die dieselben Bezeichnungen führ-
ten wie die polnischen Tympfen 2) und Sechser und
ihnen gleichwertig sein sollten; infolgedessen waren
diese preussischen Münzen in Polen genau so im Um-
lauf wie die polnischen Landesmünzen. Da seit dem
') Am 29. Sept. 1657 wurde zwischen Brandenburg und Polen
ein Vertrag geschlossen, in dem Brandenburg auf das Bistum
Ermeland und vier polnische Woiwodschaften verzichtete und
Polen aufsein Oberhoheitsrecht über das Herzogtum Preussen.
Anm. d. Herausg.
2) Tympfe sind die nach dem polnischen Münzmeister be-
nannten achtlötigen polnischen Silbermünzen; sie hatten einen
Wert von 36 Silbergroschen. Anm. d. Herausg.
vergangenen Jahrhundert in Polen keineSilbermünzen
mehr geprägt worden waren und die Juden sich da-
durch einen Gewinn zu verschaffen suchten, dass sie
mit beschnittenen Dukaten die alten Münzen Johann
Kasimirs und Johanns III. aufkauften, machte sich um
die Mitte der Regierung Augusts III. in Polen ein
empfindlicher Mangel an Silber- und sogar an Kupfer-
geld fühlbar, was diesen Fürsten auf den Gedanken
brachte, sich dasselbe Recht anzumassen, das der Kö-
nig von Preussen als Kurfürst von Brandenburg ge-
noss. Es gab zwar ein Gesetz, das unseren Königen
untersagte, ohne Bewilligung des Reichstags in Polen
die Münze wieder zu öffnen, da sich jedoch die
Überzeugung festgesetzt hatte, wegen des liberum
veto könnte kein Reichstag Ergebnisse bringen, so
meinte August III., er könnte zum Wohl des Landes
dieses Gesetz umgehen, indem er in Sachsen Tympfen
und Sechser mit dem Münzfuss Johann Kasimirs und
Johanns III. prägen Hess, die in Polen wie schon so
viele andere ausländische Münzen in Umlauf kommen
würden. In Wirklichkeit aber wurden jene, welche
die Herstellung der Münzen in Sachsen leiteten, gar
bald angeklagt, dass diese neuen Stücke geringwer-
tiger waren ; jedoch war die Wertverminderung (wenn
es überhaupt eine gab) so gering, dass sie kaum fühl-
bar war und durch die Bequemlichkeit, Münzen zu
haben, aufgewogen wurde.
Unter dem Vorwand, gleichzeitig diese sächsische
Prägung und die Prägung seiner eigenen preussischen
Tympfen und Sechser fortzusetzen, gelang es dem
König von Preussen, ungefähr hundert Millionen
dieser Münzen in Polen in Umlauf zu setzen, bevor
überhaupt die Mehrzahl meiner Landsleute — die
272
damals nur zu sehr für ihn eingenommen waren - —
auch nur an die Möglichkeit einer Verschlechterung
glauben wollten. Sie strömten in Massen und sehr
rasch ins Land, weil Polen für den König von Preussen
ein Magazin bedeutete; er kaufte dort Korn, Pferde,
Vieh, Salpeter, grobe Leinwand und sogar grobes
Tuch, fast alles was er brauchte. Schlesien und die
anderen Staaten des Königs von Preussen waren wäh-
rend dieses Krieges so vielen Überfällen und Ver-
wüstungen ausgesetzt, dass Polen damals in der Lage
war, Schlesien selbst in den zwei letztgenannten Ar-
tikeln zu ersetzen. Als endlich die Polen allgemein
einsahen, dass sie über den Wert dieser preussischen
Münzen getäuscht worden waren, erhöhten sie den
Preis ihrer Artikel, aber der Feingehalt dieser Mün-
zen wurde um ebensoviel verringert, und immer ver-
floss erst eine Zeit, bis man sich hier des erneuten
und grösseren Betruges bewusst wurde, so dass im
Jahre 1763, am Ende des Krieges, über 200 Millionen
Gulden dieser falschen Münzen in Polen im Umlauf
waren.
Die polnischen Juden, in diesem Punkte hellsehender
als die anderen Einwohner des Landes, verständigten
sich bald mit den preussischen Juden, denen der König
von Preussen seine Münze übergeben hatte. An ihrer
Spitze stand der berühmte Ephraim. Die Juden Polens
bekundeten damals einen solchen Eifer für den König
von Preussen, dass sie durch ganz Polen eine eigene
Post unterhielten, von den Grenzen Schlesiens bis
nach Ungarn, der Türkei und Tatarei, und diese in
den Dienst der preussischen Korrespondenzen nach
jenen Ländern und vor allem nach Polen stellten;
diese Korrespondenzen sollten den Enthusiasmus der
i 8 Poniatovvski 1 1 3
Anhänger des Königs von Preussen aufrechterhalten,
alle ihm günstigen Gerüchte verbreiten, Informationen
über Russland und über Österreich verschaffen und
tausend andere Dienste leisten, deren Wirkung Au-
gust III. alltäglich zu spüren bekam, ohne dass er sie
paralysieren konnte. Er wurde aus verschiedenen
Gründen daran verhindert. Seit hundert Jahren hatte
der Adel so viele Gesetze durchgebracht, die einzig
und allein seine Freiheit, oder vielmehr seine Privi-
legien sichern sollten, und hatte die königliche Ge-
walt so sehr eingeschränkt, dass diese ausser während
der Tagung des Reichstags sozusagen auf den Null-
punkt gesunken war, soweit es sich um irgend eine
zwingende Massregel oder ein Verbot handelte.
Der Erfolg eines freien Reichstags wurde unter
dieser Regierung mit Recht als ein Ding der Unmög-
lichkeit angesehen ; der ausserordentliche Weg einer
Konföderation erschien dem Grafen Brühl stets als
ein zu gefährliches Mittel, das nur geeignet war, eine
Gegenkonföderation hervorzurufen und als Konse-
quenz einen Bürgerkrieg, in den verwickelt zu werden
er sich damals um so mehr fürchtete, als man schon
von den Bemühungen des Königs von Preussen bei
den Türken und Tataren, um sie in den Krieg hin-
einzuziehen, Wind bekommen hatte; sollten sie sich
einmischen, so würde das wahrscheinlich in Polen ge-
schehen; in diesem Falle würden die Russen, statt sich
um die Befreiung Sachsens zu bemühen, in Polen
kämpfen, wo man sie schon sowieso nicht gerne sah
und ihre Anwesenheit die Zahl der in Opposition zum
König stehenden Polen noch vermehrt hätte. Übrigens
bestritt dieser seinen Unterhalt und den seines ganzen
Hofes nur aus den Revenuen der königlichen Okono-
274
mie, welche alles in allem kaum dreihunderttausend
Dukaten jährlicher Rente ergaben. Die französischen
Subsidien wurden zum Unterhalt der Königin und
der zahlreichen Mitglieder der königlichen Familie
in Dresden aufgewandt und zur Besoldung der säch-
sischen Truppen, die der Kapitulation von Struppen
entgangen waren, oder jener, die sich selbst vom
preussischen Dienst befreit hatten und sich den fran-
zösischen oder österreichischen Armeen anschlössen.
»8* 275
DRITTES KAPITEL
URSACHEF DES KRIEGES VON 1756. — HÄR-
TEN DER PREUSSISCHEN UND ÖSTERREICHI-
SCHEN KRIEGFÜHRUNG. — ENTSCHÄDIGUNGSAN-
SPRÜCHE AUGUSTS III. — ANTWORT AUF SEINE
FORDERUNGEN.
iiimiititiiiiHiiHiiiiiiHuiiHrmiirfiiituiiimiiimimiiieiiHiifiittintiHiiHiMi
In dieser verzweifelten Lage befand sich August III.,
weil er sich nicht zwingen lassen wollte, der Ver-
bündete des Königs von Preussen zu werden. Er war
der Schwiegervater des Dauphins1), des Vaters Lud-
wigs XVI. Seine Frau2) war die Tochter des älteren
Bruders des Vaters von Maria Theresia. Die Erhe-
bung auf den polnischen Thron verdankte er Russ-
land, und stets hatte er seine unverbrüchliche An-
hänglichkeit an diesen Hof bekundet. Der König von
Preussen hatte ihm Sachsen weggenommen, indem er
zu wissen vorgab, August III. hätte sich mit Österreich
und Russland verbündet, um mit den beiden Kaise-
rinnen über ihn herzufallen. Der König von Preussen
brach ins Dresdener Archiv ein und zog heraus, was
ihm gerade passte. Er konnte jedoch nur einige Aus-
züge aus Depeschen produzieren, die im Grunde nichts
weiter bewiesen, als dass August III., nachdem er vom
König von Preussen schon sehr viel erduldet hatte
*) Der einzige legitime Sohn Ludwigs XV., der Dauphin Lud-
wig, starb iy65. Er war vermählt mit Maria Josefa von
Sachsen (1731 — 1767). Ludwig XVI. war der dritte Sohn aus
dieser Ehe.
2) Die Königin Maria Josefa war die Tochter Kaiser Josefs I.
(gest. 171 1), dem sein jüngerer Bruder Karl VI., der Vater
Maria Theresias, auf dem Kaiserthron folgte. Anm.d.Herausg.
,78
(I741 a^s dessen Verbündeter und 1745 als der Ver-
bündete Maria Theresias), jenen Nachbarn stets fürch-
tete und sich Österreichs und Russlands Freundschaft
zu erhalten trachtete, es jedoch ablehnte, irgend ein
Offensivbündnis einzugehen, — wie jene Depeschen
es ihm nahelegten, — unter Hinweis auf seine Lage,
die ihn stets dem ersten Feuer des gemeinsamen Fein-
des aussetzen musste. Der König von Preussen stützte
sich am meisten auf jene Phrase im Konzept einer
der sächsischen Depeschen: „Erst wenn der Ritter aus
dem Sattel gehoben sein wird, kann Sachsen daran den-
ken, eine Rolle zu übernehmen ; geschähe es früher, so
würde es sich ganz nutzlos gefährden."
Ich habe nicht die Absicht, hier zu erörtern, auf
wessen Seite das Recht in diesem Kriege war, aber
für Sachsen war er grausam; Freunde und Feinde
trugen um die Wette zu Sachsens Ruin bei. Dresden
wurde sowohl von den Preussen wie von den Öster-
reichern bombardiert; letztere haben ohne jede Not-
wendigkeit Zittau vernichtet, die fleissigste Gewerbe-
stadt des ganzen Kurfürstentums.
Beide Parteien haben sich gegenseitig Plünderun-
gen und Grausamkeiten vorgeworfen; der König von
Preussen hat das königliche Schloss Hubertusburg
niederbrennen lassen, nachdem er die Möbel und das
Kupferdach an einen Juden verkauft hatte. Er hat
den prachtvollen Salon im Garten des Grafen Brühl
in Dresden in die Luft fliegen lassen. Er hat zwei
Landhäuser desselben Ministers, nämlich Pforten und
Nischwitz, zerstören lassen, letzteres in seiner Gegen-
wart, und er hat auf dem Rücken des Hausverwalters
eigenhändig einen Spiegel in Stücke geschlagen, den
dieser treue Diener zu retten versuchte. Der König
27
79
von Preussen liess damals publizieren, dies sei ge-
schehen, um die Verwüstungen der Russen in Preussen
und der Österreicher in Charlottenburg, als sie drüben
waren, zu rächen. Ausserdem hat der König von
Preussen über hundert der fürchterlichsten Übeltäter,
die in sächsischen Gefängnissen gefangen gehalten
wurden, in Freiheit setzen lassen, unter anderen einen
gewissen Tanz wohl, einen berüchtigten Räuber; vier
dieser Spitzbuben, die in Röhmen wieder eingefangen
wurden, behaupteten dort, sie hätten vom König von
Preussen die Order erhalten, alles in Rrand zu stecken ;
sie können ja etwas Unwahres ausgesagt haben, aber
man war nichtsdestoweniger erstaunt, dass sie in Frei-
heit gesetzt wurden, um so mehr als er zur selben
Zeit einem anderen Räuberhauptmann die Freiheit
gab, einem gewissen Käsebier, der in seinem eigenen
Staat gefangen gehalten wurde und mit dem er bei
seiner Freilassung gesprochen hat.
Das Landvolk in Sachsen hat in Wirklichkeit we-
niger Neigung für die Österreicher bezeugt, als für
die Preussen, deren Disziplin vielleicht tatsächlich
besser war, auch hatten sie die Order, das sächsische
Volk glauben zu machen, es bestünde eine geheime
Absicht, ihnen den Katholizismus gewaltsam aufzu-
drängen, und ihr Herr führte Krieg, um sie davor zu
bewahren. Aber die Mehrzahl der Kaufleute, der
Adel und vor allem der Souverän hatten durch den
König von Preussen so schrecklich zu leiden, dass
allein schon die Schilderung dieser Heimsuchungen
August III. eine Teilnahme einbrachte, die wahrschein-
lich seitens der Höfe von Russland, Wien und Ver-
sailles nicht steril geblieben wäre, hätten die Kriegs-
ereignisse sich günstiger für sie gestaltet.
280
Die beiden Kaiserinnen waren im März 1757 über-
eingekommen, ibm als Entschädigung Magdeburg
mit dessen Distrikt und den Saalekreis zu verschaffen.
August III. hielt sich jedoch um so mehr für berech-
tigt, noch ein übriges zu verlangen, als er sich er-
innerte, dass der Wiener Hof ihm am i5.Mai 1 74^
bedeutend mehr versprochen hatte. Man wollte ver-
suchen, die verbündeten Höfe zu einer deutlicheren
Erklärung zu veranlassen. Infolgedessen erhielt ich den
Auftrag, am russischen Hofe nachstehendes Schrift-
stück zu präsentieren:
„Motivierte Grundzüge der von Seiner Majestät dem
König von Polen, Kurfürsten von Sachsen, geforderten
En tschädigun gen .
„Da die ruhmreichen Armeen I. M. der Kaiserin und
Königin im Verein mit den Hilfsheeren Russlands,
Frankreichs und Schwedens sich von Tag zu Tag
mehr dem ersehnten Ziel nähern, wo der König von
Preussen sich endlich gezwungen sehen wird, um den
Frieden nachzusuchen, den er so zu Unrecht gebro-
chen, und ihn unter Bedingungen anzunehmen, die
man ihm diktieren wird, ist S. M. der König von Polen,
Kurfürst von Sachsen, den sein unverbrüchliches,
treues Festhalten an seinen Verpflichtungen zum ersten
Opfer der Gewalttaten des gemeinsamen Feindes ge-
macht hat, so sehr von der aufrichtigen Freundschaft
seiner hohen Verbündeten überzeugt und ihrer spe-
ziellen Sorge, ihm eine seinen unschätzbaren Verlusten
und der Schmach, die seiner Würde und seiner könig-
lichen Familie angetan ward, entsprechende Satis-
faktion zu verschaffen, dass er ihnen mit vollständig-
stem Vertrauen auseinandersetzen wolle, wie weit er
281
seine Ansprüche gegen den Usurpator seiner Staaten
stellen und welche Art der Vergeltung er sowohl von
der evidenten Gerechtigkeit seiner Sache, als auch von
dem Beistand seiner hohen Alliierten erwarten müsse.
„ In diesem Sinne und um so gut als möglich die für
ihn so wichtigen Artikel eines Traktats zu beraten und
vorzubereiten, das ein ewiges Denkmal der Weis-
heit und der Gerechtigkeit der vertragschliessenden
Mächte sein wird, hat S. Majestät geglaubt, motivierte
Grundzüge ausarbeiten lassen zu müssen, sowohl über
seine Entschädigungsansprüche gegen den König von
Preussen als auch über andere Massregeln und Ver-
einbarungen, die er unter den gegenwärtigen Um-
ständen ebenfalls für wesentlich hält, zwecks beson-
derer Sicherstellung seiner Staaten und im allgemei-
nen Interesse des öffentlichen Friedens in Deutsch-
land.
„Damit alle und ein jeder von diesen Punkten,
nach vertraulicher Diskussion zwischen seinen Mi-
nistern und denen der befreundeten Höfe, provisorisch
zwischen ihm und seinen hohen Verbündeten be-
schlossen und festgesetzt werden können, um in das
feierliche, allgemeine Friedenstraktat aufgenommen
und durch alle Kontrahenten unter Wahrung aller
erforderlichen und in solchen Fällen üblichen For-
malitäten Seiner Majestät garantiert zu werden.
„Diese Artikel lauten:
„ i . Dass der König von Preussen verpflichtet werde,
S. M. dem König von Polen und Kurfürsten in natura
oder in einem Gegenwert die ganze Artillerie, Mu-
nition und das Kriegsgerät jeglicher Art rückzuer-
statten, die seit dem I.September 1756 aus den Ar-
282
senalen des Kurfürstentums Sachsens weggebracht
wurden, insbesondere aus Dresden, Zeitz und Weissen-
fels.
„ 2. Dass alle Papiere, Dokumente, Titel und andere
Effekten des Archivkabinetts des kurfürstlichen Hau-
ses von Sachsen, die mit solcher Indezenz geraubt
wurden, in ihrer Gesamtheit durch den König von
Preussen zurückgegeben werden, ohne Abzug, ohne
jedwede Ausnahme.
„3. Dass alle Kavallerie, Infanterie- und Dragoner-
regimenter, mit den Korps der Artillerie, der Inge-
nieure, Handwerker und anderer, welcher Art sie
auch seien und welche Bezeichnung sie auch führen
mögen, die zum sächsischen Militärstatus gehört und
das sächsische Armeekorps gebildet hatten, wie es sich
1706 im Lager von Pirna befand; und ganz allgemein
alle sächsischen Untertanen, die freiwillig oder ge-
zwungenermassen am Schlüsse dieses Krieges in den
preussischen Regimentern eingereiht sein werden,
insbesondere die adlige Kadettenkompagnie und alle
anderen sächsischen Edelleute, die der König von
Preussen durch eine unerhörte Vergewaltigung der
Souveränitätsrechte und mit beispielloser Unmensch-
lichkeit gezwungen hat, die Waffen gegen ihren le-
gitimen Herrscher zu erheben, ihm getreulich zurück-
gegeben werden, ohne dass irgend einer von ihnen,
unter irgendwelchem Vorwand noch in irgendwel-
chem Charakter, im Dienste des Königs von Preussen
verbleiben dürfe.
„4- Dass das Herzogtum Magdeburg mit dem ganzen
Saalekreis, der Amtsbezirk von Petersberg, das Für-
stentum Halberstadt mit all seinen zugehörigen Rech-
ten, die territoriale Oberhoheit jenes Teiles der Graf-
283
schaft Mansfeld, die zum Profit des Königs von Preussen
sequestriert wurde, der brandenburgische Teil der
Grafschaft Hohenstein und die Schirmvogtei Quedlin-
burg von den Domänen des Königs von Preussen ab-
getrennt und S. M. dem König von Polen, Kurfürsten
von Sachsen, übergeben werden, um für ihn, seine
Erben und seine Rechtsnachfolger auf ewig mit seinem
Kurfürstentum vereinigt zu werden.
„Der Artikel XI des Traktats von Osnabrück, der
mit so offenkundiger Bevorzugung dem Kurfürsten
Friedrich Wilhelm von Brandenburg den grössten Teil
seiner Entschädigungsansprüche zuerkannte, hat sie
ihm nur gewährt als Kompensation seiner Rechte auf
Vorpommern und die Insel Rügen und als Entgelt
für den Eifer, den er bezeugt hat, als er zur Be-
schleunigung des Friedens seine Rechte hierauf an
die schwedische Krone abtrat; wenn die Fürsten und
Staaten, die den westfälischen Frieden kontrahier-
ten, das Opfer, das der Kurfürst Friedrich Wilhelm
damals zugunsten des öffentlichen Wohles brachte,
so freigebig entgalten, welche Busse müssen dann
wohl die hohen Alliierten, die Garanten dieses selben
Friedens, Friedrich II. vorbehalten, der seine Bestim-
mungen gebrochen hat, dadurch, dass er mit solchem
Unrecht den in Deutschland wiederhergestellten Frie-
den gestört hat.
„Zu bemerken ist ferner, dass diese Zession der
Rechte des Hauses Brandenburg auf Vorpommern,
die ihm eine so vorteilhafte Kompensation eintrug,
nicht verhindert hat, dass 1676 dieses selbe zedierte
Pommern von preussischen Truppen besetzt wurde
und dass, obwohl es 1679 im Frieden von Nim wegen
wieder zurückgegeben wurde, der grösste Teil dieser
284
Provinz 1710 nochmals unter die Herrschaft des Kö-
nigs von Preussen zurückgelangt ist.
„5. Dass von den Ländern und Besitzungen, deren
sich der König von Preussen vor dem jetzigen Kriege
in Westfalen erfreut hat, durch Tausch, Übertra-
gung, Mutation oder auf irgend einem anderen Wege,
im Einvernehmen und zum grössten Vorteil des Kur-
fürsten von Mainz und seines Kurfürstentums, ein
Äquivalent für die Stadt Erfurt an der Gera und das
angrenzende Eichsfeld im Werragebiet gegeben werde;
welche Stadt Erfurt mit den zwei dazugehörigen Forts
von Petersberg und Ciriaksburg sowie das obenge-
nannte Gebiet von Eichsfeld mit seinen zwei Städten
Duderstadt und Heiligenstadt ebenfalls an S. M. den
König von Polen, Kurfürsten von Sachsen, abgetreten
werden sollen, um auf ewig mit seinem Kurfürsten-
tum vereinigt zu werden.
„Da diese Besitzungen an die Landgrafschaft Thü-
ringen angrenzen und keinen Zusammenhang mit
den anderen Domänen des Kurfürstentums Mainz ha-
ben, ist der Vorschlag Seiner Majestät für beide Kur-
fürstentümer gleich annehmbar; und damit dieser
Tausch auch allen hohen Alliierten angenehm und
der allgemeinen Eintracht zum grössten Nutzen und
Halt gereiche (da Seine Majestät Grund hat zu glau-
ben, dass der grösste Teil der dem König von Preus-
sen in Westfalen abgenommenen Gebiete dem Pfalz-
grafen von Sulzbach zugesprochen werden könnte,
für das, was, sei es direkt oder indirekt, im Wege der
Übertragung, der Indemnität oder der Kompensation
abgetrennt würde oder abgetrennt werden könnte,
um die Entschädigung des Kurfürsten von Mainz für
die Abtretung der Städte und Gebiete an das Kur-
285
fürstentum Sachsen leichter durchzuführen), könnte
Seine Majestät für seinen Teil, für seine Erben und
Rechtsnachfolger in der gültigsten Form auf die An-
sprüche und Rechte seines kurfürstlichen Hauses auf
die ganze Erbschaft von Cleve und Jülich verzichten,
die ihm sowohl auf Grund der Anwartschaft zustehen,
die Kaiser Maximilian I. dem Kurfürsten von Sach-
sen i486 verlieh, die am 8. April i52Ö bei der Ver-
mählung Sibyllas, der Tochter Johanns, Herzogs von
Cleve, mit dem Kurfürsten Johann Friedrich bestä-
tigt wurde und in zweiter Linie durch den Kaiser
Ferdinand I. am 16. Mai 1 644? nach dem Tode des
letzten Herzogs von Cleve, ferner durch die Investi-
tur, welche im Jahre 1 6 1 o durch Kaiser Rudolf dem
Kurfürsten Christian II. verliehen wurde, und haupt-
sächlich als Nachkomme Sibyllas, der Schwester Wil-
helms, Herzogs von Cleve, und Tante Johann Wil-
helms, des letzten Herzogs.
„Es ist zu diesem Gegenstande zu bemerken, dass
die einst kaiserliche Stadt Erfurt, als sie unter dem
Protektorat des Kurfürstentums Sachsen stand (dem
sie hierfür tributpflichtig war), diesem 1 663 nur durch
Beihilfe französischer Truppen und nur dank der be-
sonderen Protektion, welche Kaiser Leopold Anselm
von Umstadt, damals Kurfürsten von Mainz, bezeugte,
entrissen wurde, um dem Gebiet von Mainz ange-
gliedert zu werden.
„Dieses alte Recht des Kurfürstentums Sachsen
auf die Stadt und das Gebiet von Erfurt wurde bei
jeder Gelegenheit wieder dargelegt, insbesondere beim
letzten Kongress in Aachen, 1748.
„6. Dass die Besitzungen des Königs von Preussen,
die in der Niederlausitz Enklaven bilden und allge-
286
mein die Bezeichnung böhmische Lehen führen, das
sind: Kottbus, Peitz, Storkow, Beeskow und Sommer-
feld, mit den dazugehörigen Distrikten und ferner
das Fürstentum Krossen und Züllichau in Schlesien
gleichfalls der brandenburgischen Herrschaft entzo-
gen werden, um auf ewig mit dem Kurfürstentum
Sachsen vereint und ihm einverleibt zu werden.
„7. Dass das Traktat von Dresden vom Jahre 1745
und die Konvention, die hernach am . . . geschlossen
wurde und die Steuerangelegenheiten betraf, annul-
liert und kassiert werden; dass alle dort aufgenom-
menen Bestimmungen als nichtig und gänzlich auf-
gehoben angesehen werden; dass also infolgedessen
die ganze Artillerie und andere Militäreffekten, wel-
cher Art sie auch sein mögen, die aus dem Kurfür-
stentum Sachsen und der Stadt Dresden während der
Invasion, die dem besagten Traktat von i'J^S vor-
angegangen ist, weggeführt wurden, an S. M. den
König von Polen zurückgegeben werden; dass ihm
weiterhin die Million Taler zurückerstattet werde,
die in dem Artikel III des besagten Traktats abge-
macht und stipuliert war und zu Ostern 1746 auf
der Leipziger Messe mit fünf vom Hundert Zinsen,
vom 23. Dezember i'jiS an gerechnet, bezahlt wer-
den sollte.
„8. Sei es, dass der gegenwärtige Umstand der
Waffenerfolge 1. M. der Kaiserin und Königin und
der Hilfsheere der hohen Alliierten den König von
England, Kurfürsten von Hannover, zu einer gerechte-
ren Auffassung bringen werde, was er den alten
Pakten der Verbrüderung zwischen seinem Hause
und dem Hause Sachsen schulde und den im Ver-
trag von Warschau 1^4$ eingegangenen Verpflich-
287
tungen eines Bündnisses und gegenseitiger Verteidi-
gung und schliesslich den kaiserlichen Reskripten,
so dass er die Verpflichtungen rückgängig machen
würde, die er mit dem Brecher des öffentlichen Frie-
dens eingegangen ist; sei es, dass er bis zuletzt mit
eigensinniger Beharrlichkeit die Sache des Königs von
Preussen teilen und mit diesem Fürsten abwarten und
erst dann um Frieden bitten werde, wenn er hierzu
in jeder Weise gezwungen sein würde.
„S. M. der König von Polen, Kurfürst von Sachsen,
verlangt ausdrücklichst, dass in dem einen oder dem
anderen der oben erwähnten Fälle die hohen Alliier-
ten (in Anbetracht der Gefahren, welche die gemein-
same Sache durch die Zusammenziehung der Obser-
vationsarmee unter dem Befehl des Herzogs von Cum-
berland laufen konnte und in erster Linie durch den
Zeitverlust, den diese Armee der Wirksamkeit der
Hilfsaktion S. K. u. K. Majestät zugefügt hat, die als
Garantin des westfälischen Friedens eine Hilfsarmee
in Deutschland einmarschieren Hess, speziell um die
kurfürstlichen Gebiete Seiner Majestät zu befreien)
von S. M. dem König von England, Kurfürsten von
Hannover, fordern, es solle die Summe von dreiein-
halb Millionen Taler, welche dem Kurfürsten von
Sachsen aus dessen Privatschatulle geliehen wurde,
mit allen Zinsen annulliert werden und das Gebiet
von Schleusingen, welches von S. M. dem König von
Polen dem Kurfürsten von Hannover als Hypothek
der besagten Schuld von dreieinhalb Millionen Ta-
lern übergeben wurde, gleichfalls in rechtsgültiger
Form von allen auf ihm ruhenden Lasten befreit
werden.
„9. Dass zur Erleichterung des Kurfürstentums
288
Kaiserin Elisabeth
(Original im Herzogl. Anhalt. Schlosse Zerbst)
Sachsen, das infolge des gegenwärtigen Krieges so
lange Zeit verschuldet sein werde, und um einen Teil
dieser Verpflichtungen zu verringern, die die Steuer
überlasten, bei der eventuellen Verteilung der dein
König von Preussen in Westfalen, Geldern und
Ostfriesland abgenommenen Gebiete, Städte und Für-
stentümer ein Teil dieser Besitzungen dazu bestimmt
werde (auf dem Wege einer Zession, einer Verpfän-
dung, Hypothek oder auf irgend eine andere Art, die
man für besser oder angemessener halten würde), Ka-
pital und Zinsen abzulösen, welche die Untertanen
der holländischen Republik von den öffentlichen
Fonds der Steuer zu fordern haben. Die Missgeschicke
des letzten Krieges vom Jahre 1 74^ haben die Ein-
künfte des Kurfürstentums auf mehrere Jahre hinaus
absorbiert; die unschätzbaren Verluste, die der ge-
genwärtige Krieg durch Zerstörung von Häusern,
durch Entwertung der Länder, durch den Ruin der
Manufakturen, die Versprengung der Einwohner ver-
ursacht hat; die Zugeständnisse, die S. M. der König
von Polen seinen alten Untertanen wird machen
müssen, vor allem den Einwohnern von Leipzig, die
mit so exorbitanten Abgaben belastet worden sind;
und was er an Zeit und Einkünften wird opfern
müssen, um das Unglück der Feuersbrunst von Zittau
wieder gutzumachen, der nach Leipzig bedeutend-
sten Handelsstadt seines Reiches, — dies alles würde
Seine Majestät der unheilvollen Notwendigkeit aus-
setzen, die ausserordentlichen Finanzoperationen zu
mehren, falls man nicht das Kurfürstentum des gröss-
ten Teiles seiner früheren Schulden entledigen, es
sozusagen kurrent machen und ihm hierdurch die
Möglichkeit bieten würde, nach feststehenden Regeln
19 Poniatowski 2$9
zu handeln, die seinen wahren Interessen und auch
denen der ganzen Allianz entsprechen würden.
„Auf diesen Prinzipien fussend und bei einer Ge-
legenheit, wo S. M. der König von Polen einen so
eklatanten Beweis der Freundschaft seiner hohen Al-
liierten erlangen kann, schlägt er ein Arrangement
mit den Generalstaaten von Holland vor, um die ge-
samte Amortisation von Kapital und Zinsen herbei-
zuführen, welche die Untertanen der holländischen
Republik von den öffentlichen Fonds der Steuer zu
beanspruchen haben, sei es durch eine Zession oder
eine' Verpfändung der Stadt und der Grafschaft
Emden oder eines Teils von Geldern, sei es durch
eine Art der Abrechnung, die allgemein als die
entsprechendste für alle hohen Alliierten erachtet
werden würde, um die besagte Amortisation durch-
zuführen.
„10. Was den Herzog von Sachsen-Gotha anlangt,
den nur die Aussichten auf eine illegitime Vergrösse-
rung auf Kosten des kurfürstlich-sächsischen Hauses
bewogen haben können, entgegen den Reskripten des
Kaisers und den Konstitutionen des Reichs der Kon-
föderation mit dem König von Preussen beizutreten,
und der durch die Vereinigung seiner Truppen mit
der Armee des Herzogs von Cumberland ganz we-
sentlich zur Verlängerung der Bedrückung beigetra-
gen hat, unter der das Kurfürstentum Sachsen seit
Beginn dieser Kampagne zu leiden gehabt hat (indem
er den Vormarsch der französischen Hilfsarmee ver-
zögerte), so überlässt Seine Majestät es den hohen
Alliierten, die Unrechtmässigkeit und Indezenz dieses
Vorgehens zu beurteilen sowie sich über die Art der
Entschädigung auszusprechen, die Seine Majestät von
290
ihm zu erwarten berechtigt ist, um hiermit die Not
seiner Untertanen zu lindern.
„ii. S. M. der König von Polen erhofft im Hin-
blick auf die beständigen Freundschaftsbande, die seit
unvordenklichen Zeiten sein Haus mit Österreich einen,
im Hinblick auf die Anhänglichkeit, die er dessen
Interessen stets bezeugt hat, und endlich im Hinblick
auf die unverbrüchliche Treue, mit der er seinen
Verpflichtungen trotz der grössten Missgeschicke
nachgekommen ist, und weil es für S. M. den König
von Polen fast eine unbedingte Notwendigkeit ist, un-
behindert zwischen seinem Kurfürstentum und sei-
nem Königreich zu verkehren (welcher Umstand für
die Kaiserin und Königin nur von geringer Bedeu-
tung ist und sein muss), — so hofft also S. M. der
König von Polen, dass Ihre K. und K. Majestät die
Zession des Distrikts von Schwiebus in Schlesien der
Lostrennung des Fürstentums Krossen und Züllichau
folgen lassen wird, das unter von Ihren Majestäten
früher beschlossenen und stipulierten Bedingungen
dem König von Preussen abgenommen ward, auf
Grund der besonderen Konvention von 1745, nach
dem Traktat von Warschau.
„12. Von diesem selben Prinzip unwandelbarer
Freundschaft geleitet und von dem aufrichtigen
Wunsche beseelt, in Gegenwart und Zukunft alles
aus dem Wege zu räumen, was Grund zu der gering-
sten Meinungsverschiedenheit abgeben könnte, hofft
S. M. der König von Polen und Kurfürst von Sach-
sen, dass durch das zukünftige Traktat des allgemei-
nen Friedens im Namen Ihrer K. u. K. Majestät end-
gültig der Verzicht auf die vorgeblichen Hoheitsrechte
über die Prinzen und Fürsten von Schwarzburg,
19* 291
Reuss, Schwenburg (?), Liechtenstein und der Mark
Asch statuiert werden wird.
„i3. Wie auch über den völligen Verzicht auf das
vorgebliche Feudalrecht der Krone Böhmens auf
Sonnewalde in der Lausitz und einige Gebiete des
Vogtlandes.
„Das sind die Hauptpunkte, die Seine Majestät
seinen Alliierten vorlegen wollte und deren Beant-
wortung er im Namen der Freundschaft und der Ge-
rechtigkeit verlangt, zur besseren Klärung seiner
Sache und zur Sicherung seines Staates, welche Ant-
wort klar und mit gegenseitiger Aufrichtigkeit pro-
visorisch erteilt werden möge, in Erwartung des
feierlichen Friedenstraktats; andererseits verpflichtet
sich Seine Majestät, seinerseits gleichfalls mit völliger
Offenherzigkeit auf ein anderes Arrangement oder
einen Vorschlag, der von einem seiner hohen Alliier-
ten vorgebracht werden könnte, zu erwidern.
„Die offensichtlichen Beweise beständiger Freund-
schaft, die Seine Majestät von den Fürsten seiner
Allianz empfangen hat, gestatten ihm keine Zweifel
an der x^ufrichtigkeit, mit der sie gegenseitig ihre gu-
ten Dienste aufbieten werden, um alle Hindernisse
und alle Schwierigkeiten zu beseitigen, die die völlige
Durchführung eines zur Wiederherstellung Sachsens
so wesentlichen und für das allgemeine Wohl und
die Buhe von ganz Deutschland so nützlichen Pro-
jektes verzögern könnten."
Ich übergab dieses Schriftstück am 19. September
1757. Als Erwiderung wurde mir am 7. (18.) Okto-
ber folgende Note überreicht:
„Um dem Verlangen des Herrn bevollmächtigten
Ministers zu entsprechen, das in einer Note vom 1./12.
292
dieses Monats bekundet wurde, es möge ihm ein
Auszug der Schriftstücke an die Gesandten dieses
Hofes in Wien und in Paris übergeben werden, durch
die sie veranlasst werden sollen, die Schritte der Ge-
sandten S. M. des Königs von Polen betreffs seiner
Entschädigungsansprüche für die erlittenen Verluste
zu unterstützen, wird ihm hierdurch der Inhalt einer
diesbezüglichen Depesche an den Herrn Botschafter
Grafen von Kaiserling zur Kenntnis gebracht und
ihm zugleich bekannt gegeben, dass ein gleichlau-
tendes Schriftstück an Se. Exz. den Herrn Grafen von
Bestuschew-Riumin, Gesandten in Paris, abgegan-
gen ist.
Auszug aus einer Depesche an den Herrn Grafen von
Kaiserling, Gesandten Russlands.
„St. Petersburg, den 3o. September 1757.
„Graf Poniatowski, bevollmächtigter Minister S. M.
des Königs von Polen an unserem Hofe, hat bei un-
serem Ministerium neue Schritte unternommen, um
unsere Einwilligung zu der Entschädigung zu erlan-
gen, welche sein königlicher Herr für die Verluste
zu erhalten wünscht, die das kurfürstlich-sächsische
Haus bereits erlitten hat und noch ei leidet, und um
uns zu bewegen, diese Entschädigungsansprüche an
den Höfen von Wien und Frankreich zu befürworten.
„Worauf wir dem besagten Grafen Poniatowski
haben durch unser Ministerium wissen lassen, Seine
Majestät der König könne unserer unwandelbaren
Freundschaft für ihn versichert sein und unseres so
aufrichtigen Wunsches, seine Interessen zu fördern;
dass wir nicht allein eine genügende Kompensation
für die Schäden des Kurfürstentums Sachsen gerecht-
293
fertigt finden, sondern sogar diesen Wunsch schon
nachdrücklich geäussert haben, so dass Seine Maje-
stät damit rechnen könne, dass der Zuwachs seiner
Besitzungen uns nur im höchsten Masse angenehm
sein werde und dass wir infolgedessen unseren Mi-
nistern an den Höfen von Wien und Frankreich In-
struktionen geben werden, auf dass sie die Verhand-
lungen der Minister S. M. des Königs von Polen un-
terstützen, soweit es nötig und angemessen sein
wird; so befehlen wir denn, dass Sie, sobald Sie
durch den Minister an jenem Hof, an dem Sie sich
befinden, von dem Stand der Verhandlungen infor-
miert und gebeten werden, diese zu unterstützen, Sie
dies nicht ablehnen, sondern im Gegenteil die Ver-
handlungen so dirigieren, dass trotz unserer Erklä-
rung vom 6. Mai dieses Jahres, in der wir eingewil-
ligt haben, dass das Fürstentum Magdeburg und der
Saalekreis dem König von Polen zugesprochen wür-
den, nicht daraus gefolgert werden könne, diese Er-
klärung beraube den König von Polen des Rechts
einer weitgehenderen Reparation der erlittenen Schä-
den; und dies um so mehr, als sie auf Kosten eines
Fürsten geschehen soll, der schon sozusagen alle Ar-
ten der Grausamkeit erschöpft hat, um Sachsen zu
bedrücken und zu ruinieren, während andererseits die
Beständigkeit, mit der der König von Polen alles ge-
opfert, und die Grossherzigkeit, mit der er alle Frie-
densvorschläge abgelehnt hat, sicherlich besondere
Anerkennung verdienen und wir infolgedessen von
der Gerechtigkeit I. K. u. K. Majestät erwarten dür-
fen, dass der König von Polen seine Verhandlungen
in befriedigender Weise wird zu Ende führen kön-
nen."
294
Ich habe alle Ursache zu glauben, dass diese
Sprache aufrichtig war, aber die Talente des Königs
von Preussen und vor allem sein Glück überwogen
den vereinten Willen der grössten Mächte Europas,
obwohl sie es weder an Mühen, Kräften noch Aus-
gaben fehlen Hessen.
295
VIERTES KAPITEL
PORTRÄT VON MONSIEUR L'HÖPITAL. — POR-
TRÄT DES GRAFEN DE RROGLIE. — BRIEF DES
KANZLERS KAÜNITZ AN ESTERHAZY, MEINE PER-
SON BETREFFEND. — TRAKTAT ZWISCHEN DEM
WIENER HOF UND DEM GROSSFÜRSTEN VOM i5.
JULI 1757. — MEMORIAL BROGLIES GEGEN
MICH. — MEINE ABBERUFUNG. DAS SCHREIBEN
DES KÖNIGS. — MEINE ANTWORT. — BRIEF
MEINES VATERS. — BBIEF AN MEINE FAMILIE
VOM 2. DEZEMBEB. — ROSSBACH. — LETZTE ZU-
SAMMENKUNFT MIT WILLIAMS. — WIEDEREIN-
SETZUNG IN MEIN AMT. — APRAXIN IN UN-
GNADE. — RILLETTS DER GROSSFÜRSTIN UNTER
APRAXINS PAPIEREN. — NIEDERKUNFT DER
GROSSFÜRSTIN. — SCHLITTENUNFALL.
■ IIIIIIIIIIIIIIIIIIUIIII
] Frankreich glaubte den Augenblick gekommen, wo
_ es den Einfluss wiedergewinnen konnte, den es
eine Zeitlang auf Elisabeth ausgeübt hatte.
Marquis de THopital wurde zum Gesandten am
russischen Hofe ernannt, mit zahlreicher Suite und
einem prunkvollen Apparat, mit dem man offenbar
Eindruck machen wollte und auf den Monsieur de
THopital selbst die Aufmerksamkeit lenkte. Er liess
ein Bild malen, auf dem der Übergang seiner drei-
undzwanzig Karossen über die Karpathen dargestellt
war, und zeigte es mit Emphase.
Er war Gesandter in Neapel gewesen, als Karl III.,
der jetzige König von Spanien, dort regierte. Er war
mit ihm in Velletri gewesen, vor allem aber war er in
Versailles gealtert, in der Eigenschaft eines Stallmei-
sters von Mesdames de France1), den Töchtern Lud-
wigs XV. Er vermeinte den Ton des Hofes Lud-
wigs XIV. anzuschlagen und dessen hochmütige Höf-
lichkeit zu beherrschen, indem er gar hochtrabend
Phrasen und Maximen vortrug, welche für die Höf-
linge des grossen Königs ganz besonders charakteri-
stisch waren; im Grunde genommen war er jedoch
ein recht ungebildeter Mensch (wie Madame Geof-
x) Die vier unverheirateten Töchter Ludwigs XV., Adelaide,
Victoire, Sophie, Louise. Anm. d. Herausg.
298
frin es mir bereits gesagt hatte), dessen Allüren mehr
an einen alten Komödianten denn an einen Seigneur
gemahnten. Er hat, so gut er konnte, zu meinem
Schaden gearbeitet, weil auf seiner Durchreise in
Warschau der Gesandte Frankreichs bei August III.
ihn mit Vorurteilen gegen mich erfüllt hatte.
Dieser Gesandte war Graf de Broglie l). Als er seine
Ernennung für Dresden erhielt, fragte man sich in
Paris unter Lachen: „Will denn unser König dem
König von Polen den Krieg erklären?" In der Tat,
er war ein kleiner Brausekopf, stolz, herrschsüchtig,
zänkisch, masslos unruhig, was er schliesslich zu sei-
nem eigenen Schaden und dem seiner Familie bewiesen
hat, jedoch voll Geist und arbeitsam, obgleich er das
Vergnügen liebte; er wollte Polen und Sachsen ganz
allein regieren und es erfüllte ihn mit Unwillen, dass
Russland am Hofe Augusts III. einen so bedeutenden
Einfluss hatte. Er bemühte sich um meine Abberu-
fung, weil er glaubte, ich sei englandfreundlich, und
weil er verhindern wollte, dass infolge meiner An-
wesenheit in Russland an die in Polen residierenden
russischen Minister Weisungen erteilt würden, welche
den Einfluss meiner Familie hätten heben können,
die er für antifranzösisch hielt. Dennoch widerstand
Brühl fast während des ganzen Jahres 1 767 seinem
Drängen, aus Furcht, er könnte Bestuschew und die
Grossfürstin verärgern, und weil ich den Wiener Hof
für mich gewonnen hatte durch einen Dienst, der in
damaliger Zeit wichtig erscheinen mochte.
*) Charles Francois Comte de Broglie (1719 — 1781) ward
1 752 Gesandter Frankreichs am Hofe Augusts III. Er bemühte
sich im geheimen Auftrag Ludwigs XV., dem Prinzen von Conti
den Weg zum polnischen Thron zu bahnen. Anm. d. Herausg.
299
Da ich es für meine Pflicht hielt, soweit es in
meinen Kräften stand zum Besten der gemeinsamen
Sache die Vorurteile zu zerstören, die der Grossfürst
dem Grafen Esterhazy und dessen Hofe entgegen-
brachte, benützte ich hierzu jede Gelegenheit des Zu-
sammenseins mit diesem Fürsten, und seit dem Früh-
jahr des Jahres 1707 gelang es mir so gut, dass dies
den Anlass gab zu einem Brief des Fürsten Kaunitz an
den Grafen Esterhazy, der folgendermassen lautete:
„Wien, den 26. Mai 1757.
„Mit doppelter Genugtuung haben Ihre Majestät
und das Ministerium vernommen, was Ihnen uns mit-
zuteilen beliebte, dass Herr Graf Poniatowski sich
aufrichtig und erfolgreich bemüht hat, den Gross-
fürsten von dem schlechten Eindruck und der Ab-
neigung abzubringen, die man ihm gegen Ew. Ex-
zellenz eingeflösst hat, und eine mündliche Aus-
sprache über diesen Punkt herbeizuführen.
„Denn einerseits wird die Denkungsart Ew. Exzel-
lenz hierdurch um so gerechter und leidenschafts-
loser erscheinen, und andererseits wird nicht der
mindeste Zweifel darüber bestehen bleiben, was Ew.
Exzellenz uns so oft über die freundschaftliche und
vorsichtige Konduite des Herrn Grafen Poniatowski
versichert haben.
„Das Vorurteil, das man anfänglich gegen oben
genannten Grafen nährte, war in Wirklichkeit sehr
stark und schien auch nicht ungerechtfertigt und un-
begründet zu sein; aber da unser Hof gewöhnt ist,
eher das Gute als das Schlechte von einem Minister
anzunehmen, der scharfsichtig und auf seine Ehre be-
dacht ist, war man hier sehr erfreut, eines besseren
belehrt zu werden, und Ew. Exzellenz werden die
3oo
Intensionen unseres Hofes erfüllen, wenn Sie dem
Herrn Grafen Poniatowski unbedingtes Vertrauen
entgegenbringen und in Übereinstimmung mit ihm
handeln.
„Ich habe die Ehre, usw."
Am i5. Juli wurde folgendes Traktat unterzeich-
net:
„Wir geben kund, dass die Kaiserliche Majestät
der Königin von Ungarn und Böhmen, nachdem sie
es unter diesen Umständen für gut befunden hat, mit
Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Grossfürsten aller
Reussen und regierenden Herzog von Schleswig-Hol-
stein bezüglich seiner holsteinischen Truppen zu kon-
ferieren und sich gleichzeitig mit ihm in seiner Ei-
genschaft als Fürst des Reiches enger zu liieren, und
nachdem S. K. Hoheit gemäss seinen Gefühlen der
Freundschaft und des Patriotismus, sowohl als Gross-
fürst des russischen Imperiums als auch als Glied des
Römischen Reiches, sich in der einen wie in der an-
deren Beziehung gleich geneigt gezeigt hat, — hat
I. K. u. K. Majestät ihren wirklichen geheimen Rat
und Kammerherrn Grafen Nikolaus Esterhazy, Pala-
tin der ungarischen Krone und zur Zeit Gesandten
am Kaiserlich russischen Hofe, Ritter des Skt. An-
dreas- und des Alexander Newski-Ordens, ernannt
und autorisiert, um auf dieser Grundlage eine Kon-
vention vorzubereiten, wogegen S. K. Hoheit seiner-
seits seinen wirklichen Konferenzrat und Kammer-
herrn Gottlieb Georg Heinrich Baron von Stambke,
Ritter des Skt. Annen-Ordens, ernannt hat; nach
Beratung und Austausch ihrer Vollmachten haben
diese beiden beschlossen :
„i. Seine K. Hoheit der Grossfürst verpflichtet
3o i
sich, nicht nur seine holsteinischen Truppen stets
vollzählig und auf der jetzigen Höhe zu halten son-
dern auch in einem solchen Zustand, dass sie jeder-
zeit bereit seien, sich unter den Befehl Ihrer Majestät
der Kaiserin und Königin zu begeben, für den Fall,
dass Ihre Majestät je nach den Umständen es für gut
befinden sollte, davon Gebrauch zu machen und sich
mit S. K. Hoheit ins Einvernehmen zu setzen.
„2. Ebenso verspricht S. K. Hoheit und verpflich-
tet sich feierlichst, während der jetzigen Wirren im
Reich stets die Interessen I. M. der Kaiserin und Kö-
nigin im Auge zu behalten, sowohl in seiner Eigen-
schaft als russischer Grossfürst — in Anbetracht der
Konformität der Absichten beider kaiserlicher Höfe,
und der hieraus folgenden engen Union zwischen
diesen — als auch besonders in seiner Eigenschaft
als Glied des Römischen Reiches, und wird deshalb
seinen Ministern im .Landtage und in den Bezirken
des Reichs anordnen, stets im besten Einvernehmen
mit den Ministern I. K. u. K. Majestät zu verharren
und es stets als ihre vornehmste Pflicht anzusehen,
immerdar und in allen Angelegenheiten ihre Stim-
men zugunsten I. K. u. K. Majestät abzugeben.
„3. Hierfür und vor allem, um S. K. Hoheit einen
in bezug auf die Equipierung seiner oben erwähnten
holsteinischen Truppen entsprechenden Vorschuss
zuteil werden zu lassen, verspricht und verpflichtet
sich I. K. u. K. Majestät, vom Tage der Unterzeich-
nung dieser Konvention ab S. K. Hoheit in Ham-
burg jährliche Subsidien von hunderttausend Flo-
rins (oder fünfzigtausend kaiserlichen Talern) in bar
in zwei Raten von sechs zu sechs Monaten und im
voraus auszahlen zu lassen, und zwar derart, dass die
J02
erste Zahlung erst nach Austausch der Ratifikationen
erfolgen soll.
„4- Die'se Konvention soll in allen Punkten so
lange in Kraft bleiben, als der gegenwärtige Krieg
dauern wird, und noch ein Jahr nach dem Frieden;
nach Ablauf dieser Frist bleibt es den beiden hohen
Kontrahenten vorbehalten, sie entweder zu annullie-
ren oder für einige Jahre zu erneuern.
„5. Die vorliegende Konvention, von der zwei
gleichlautende, von beiden Bevollmächtigten unter-
zeichnete und gesiegelte Exemplare ausgefertigt wer-
den, soll von den beiden hohen Kontrahenten ratifi-
ziert und die betreffenden Ratifikationen so schnell
als möglich und spätestens in einem Zeitraum von
zwei Monaten ausgetauscht werden.
„St. Petersburg, den i5. Juli 17.^7."
Wer je Peter III. und seinen preussischen Fanatis-
mus gekannt hat, den wird es nicht wundernehmen,
welchen Wert der Wiener Hof damals dem Dienste
beimass, den ich ihm erwiesen, indem ich den Gross-
fürsten zu diesem Schritte bewog; später hat man es
wohl vergessen, aber in jener Zeit hat es mir die auf-
richtige Zuneigung des Grafen Esterhazy eingetragen,
und diese hat mir geholfen, mich während einiger
Monate des Jahres 1766 und des Jahres 1 767 gegen
die Manöver Frankreichs zu verteidigen; dennoch
wurde meine Abberufung beschlossen, als Broglie
folgendes Memorial in Warschau vorlegte1):
*) Anmerkung des Königs: Dieses Schriftstück sowie alle fol-
genden befinden sich in dem Manuskriptenbuch der Akten,
die sich auf meine Mission beziehen ; es wird im Archiv ver-
wahrt.
3o3
„Den 25. Oktober 1767.
„Se. Exzellenz der Herr Gesandte von Frankreich
hat bei seiner gestrigen Unterredung mit Sr. Exzel-
lenz dem Herrn Grafen von Brühl mit grosser Genug-
tuung festgestellt, dass die Eröffnungen, die er be-
züglich der Mission des Herrn Grafen Poniatowski
am russischen Hofe vorzubringen die Ehre hatte, ihn
von den Gefahren überzeugt haben, die daraus resul-
tieren können, und dass er entschlossen war, S. M.
dem König von Polen die unumgängliche Notwendig-
keit sofortiger Abberufung vorzustellen. Dem Herrn
Gesandten wird es ein Vergnügen sein, zur Kenntnis
seines Hofes zu bringen, welches Entgegenkommen
Herr Graf von Brühl in dieser Sache bezeugt hat,
und weil er ihm dieses Verdienst nicht schmälern
wollte, hat er ihm bei dieser Unterredung keine Kennt-
nis der Orders gegeben, die er vom König, seinem Herrn,
erhalten hatte und die folgend ermassen lauteten:
„Dass der Aufenthalt des Grafen Poniatowski am
Petersburger Hofe äusserst gefährlich sei, sowohl we-
gen der Bevorzugung Englands, um die er sich dort
noch bemühe, als auch wegen der Instruktionen, die
ihm von seiner Familie zuteil werden könnten, und
dass infolgedessen der Herr Gesandte seine Rückbe-
rufung bewerkstelligen müsse, wodurch er Seiner
Majestät einen grossen Dienst erweisen werde; dass er
die Wichtigkeit der Angelegenheit verstehen müsse;
dass die Art, wie Herr Graf von Brühl diesen Vor-
schlag aufnehmen werde, als Prüfstein seiner Gesin-
nung dienen solle; des ferneren, dass Mylord Stor-
mond1) gewiss versuchen werde, diese Unterhand-
x) David Murrav Viscount ofStormond, nachmals Lord Mans-
field (1727 — 1796), hatte damals seine politische Karriere be-
3o4
ALEXY'COMES -DJ>BESTÜSCHEF*RIUMIN
CAXC E LU \ RIÜ S • KTC KTC -
MDCCLV
lung beim Herrn Grafen von Brühl zu durchkreuzen,
sowohl um nicht in Petersburg den Agenten seines
Hofes zu verlieren, als auch wegen meiner Beziehun-
gen zu dem Hause Czartoryski; es sei wünschens-
wert, dass auch dieser Minister Englands Polen ver-
lasse."
So wurde mir denn auch mein Abberufungsschrei-
ben durch einen französischen Kurier zugestellt.
Am selben Tage erhielt ich auf anderem Wege
folgendes Schreiben des Königs:
„Mein lieber Herr Stolnik1) von Litauen.
„Ich habe so oft Veranlassung gehabt, mit der bis-
herigen Art der Ausübung Ihres Amtes am russischen
Hofe zufrieden zu sein, wo Sie sich mit allem er-
denklichen Eifer für meine Interessen eingesetzt ha-
ben, dass ich im gegebenen Zeitpunkt mich Ihnen
hierfür erkenntlich erweisen werde. Da jedoch der
König von Frankreich Sie im Verdacht hat, dass Sie
eine besondere Neigung für England hegen und ein
geheimes Einverständnis unterhalten, welches die
Interessen dieser Krone im selben Masse begünstigt,
als es für ihn selbst und die gemeinsame Sache
im allgemeinen schädlich ist, so hat er mich instän-
digst bitten lassen, Sie unverzüglichst abzuberufen,
und er will darin einen Beweis der Aufrichtigkeit
meiner Freundschaft für ihn erblicken. Demnach
werden Sie verstehen, dass es uns, vor allem unter
gönnen, die er später in Wien und Versailles fortzusetzen ver-
mochte. Sein angeborenes Taktgefühl ermöglichte es ihm,
während des ganzen Siebenjährigen Krieges in Warschau aus-
zuhalten. Anm. d. Herausg.
*) Truchsess.
20 Poniatowski 3o5
den gegenwärtigen Umständen, unmöglich war, ihm
diesen Gefallen zu versagen. Also schicke ich Ihnen
beifolgend Ihre Abberufung, von der Sie möglichst
rasch Gebrauch machen werden; Sie werden Ihre
Abreise beschleunigen, da jede Verzögerung nur An-
lass zu neuen Klagen und Unzufriedenheiten geben
kann. Ich bete zu Gott, er möge Sie, mein lieber Herr
Stolnik von Litauen, in seinem Schutz und seiner
heiligen Obhut bewahren.
„Gegeben zu Warschau, den 3o. Oktober 1767.
„August, König."
Meine Antwort hierauf lautete :
„Sire,
Mit tiefster Ehrfurcht habe ich den Brief und die
Befehle Ew. Majestät vom 3o. Oktober entgegenge-
nommen; ich fühle mich vollauf belohnt, da Ew.
Majestät meinen Eifer und meine Dienste anerkennen.
Die Billigung Ew. Majestät ist mein grösstes Lob, ich
strebe nach nichts anderem. Hätte ich die Ehre ge-
habt, Ew. Majestät im Kriege zu dienen, so hätte ich
willig Blut und Leben für die Sache Ew. Majestät
hingegeben, weil sie gerecht ist und ich Ew. Maje-
stät ergebener Diener bin ; um so mehr ist es meine
Pflicht, von hier abzureisen, und ich werde mit dem
stolzen Bewusstsein reisen, dass ich auch dadurch
Ew. Majestät diene. Im übrigen bin ich unbesorgt,
da ich mich unschuldig weiss, und ich glaube mich
über jede Rechtfertigung erhaben, solange nur mein
Fürst keinen Verdacht gegen mich hegt.
„Ich habe die Kopie meines Abberufungsschrei-
bens vorgestern im Ministerium vorgelegt, eine
Stunde nachdem ich es erhalten, und sobald die
3o6
Kaiserin mir Audienz gewährt haben wird, werde ich
meine Rückkunft beschleunigen, — soweit diese un-
erwartete Abreise und meine häuslichen Massnahmen
es gestatten werden, — um Ew. Majestät die Ver-
sicherung meines tiefsten Respekts, meiner eifrigen
Anhänglichkeit und meiner grenzenlosen Ergeben-
heit zu Füssen zu legen, mit der ich die Ehre habe,
Ew. Majestät untertänigster, ergebenster und ge-
treuester Diener zu sein.
„St. Petersburg, den 11. November 1757."
Zur selben Zeit schrieb mir mein Vater unter dem
3o. Oktober folgendes:
„Deine unerwartete Abberufung hat mich veran-
lasst, den König um eine Audienz zu bitten, bei der
ungefähr folgendes erörtert wurde:
„Ich habe Seiner Majestät gesagt, es schmeichle
mir das Bewusstsein, dass meine Ehrfurcht und An-
hänglichkeit für die Person des Königs ihm bekannt
sei, da ich nicht einen Augenblick von ihr abgewichen
bin. Ich habe den König daran erinnert, dass nicht
ich ihn um deine Mission gebeten, sondern dass ich,
sobald ich erfahren, dass Se. Majestät dich für fähig
halte, ihm zu dienen, sofort meine Einwilligung zu
deiner Mission erteilt habe, alle Erwägungen beiseite
lassend, du könntest auf deine Person und auf unsere
ganze Familie den Hass der Mächte herabziehen, die
Russlands Einmischung in die europäischen Ange-
legenheiten nur ungern sehen, und den Hass eines
grossen Teiles unserer Landsleute, die auf Antrieb
der Fremden den Einzug der Russen in Polen im
schlechtesten Licht darzustellen versuchen; dass
Brühl mir gestern durch den Rat Schmidt sagen liess,
20* 307
du seiest auf Frankreichs Ersuchen abberufen wor-
den ; dass ich fürchtete, du hättest dir die Ungnade
Sr. Majestät zugezogen; deshalb wäre ich gekom-
men, Se. Majestät anzuflehen, wenn dem nicht so sei,
möge er es mir selbst sagen. Daraufhin geruhte der
König mir zu antworten : Er habe stets allen Grund
gehabt, sich meiner Anhänglichkeit an seine Person und
seine Sache zu rühmen, er entsinne sich genau, dass du
einzig und allein au f seinen Wunsch, und ohne dass ich
darum ersucht hätte, nach Russland gegangen seiest: er
sei so mit dir zujrieden, dass er dem Lob über dein Ver-
halten nur beistimmen könne und dir stets sein Wohl-
ivollen und seine Gnade beweisen werde.
„Ich ergriff wieder das Wort um zu sagen, ich sei
nicht gekommen, deine neuerliche Berufung oder
deinen Verbleib in Petersburg zu erbitten, ich müsse
aber Se. Majestät untertänigst anflehen in Betracht
zu ziehen, dass das Publikum und vor allem unsere
Feinde deine Abberufung als Ungnade ansehen oder
als solche ausgeben werden, und ich müsse infolge-
dessen Se. Majestät bitten zu veranlassen, dass mein
Sohn unter Ehren und Beweisen seiner Huld aus
diesem Amte scheide.
„Ich weiss sehr wohl, so sagte ich, dass ja nicht je-
derzeit eine Vakanz zu besetzen ist; aber die Bewilli-
gung einer Pension von 6000 Talern bis zum Zeit-
punkt irgend einer Vakanz hängt nur vom Willen
Ew. Majestät ab. Ich denke, Ew. Majestät werden es
nur gerecht finden anzuordnen, dass die Schulden,
die er in Petersburg hat machen müssen, bezahlt
werden; und Schulden müssen vorhanden sein, da
der Stand meiner Angelegenheiten mir nicht erlaubt
hat, genügend zu seinem Unterhalt beizutragen, und
3o8
ausser von mir hat er kein Geld erhalten, um sich zu
equipieren und seine Auslagen zu decken.
„Daraufhin geruhte der König zu antworten: ich
müsse doch seine Lage verstehen and dass er in die Not-
wendigkeit versetzt worden sei, dich abzuberufen, da
Frankreich es sogar zu Drohungen kommen Hess, es
werde ihn im Stiche lassen, wenn er dich nicht abberufe;
dass nur die Subsidiär Frankreichs und Russlands ihm
die Existenz ermöglichten, ohne diese hätte er auch
nicht ein Stuck Brot, weder für sich, noch für die Kö-
nigin; dass er nach dem Fauxpas des Herrn Apraxin
sich nicht mehr auf diesen verlassen könne und folglich
genötigt sei, sich an Frankreich als letzte Hilfsquelle zu
halten; seine Börse sei so leer, dass es ihm trotz der
Notlage, in der er dich sieht, unmöglich sei, dir diese
Pension zuzuweisen, — er werde jedoch versuchen, dir
etwas Geld zukommen zu lassen; er sei durchaus nicht
gegen mich oder gegen unsere Familie eingenommen
und noch weniger gegen dich, der ihm so vortrefflich
gedient, woran er sich stets mit Dankbarkeit entsinnen
werde. Während dieser ganzen Unterredung herrschte
eine solche Rührung, dass es beinahe zu Tränen ge-
kommen wäre."
Man kann sich wohl denken, dass die Grossfürstin
nicht verfehlte, Bestuschew zu veranlassen, in dieser
Sache seinen Einfluss geltend zu machen; der da-
malige Günstling Iwan Iwanowitsch Schuwalow hatte
solche Achtung vor ihr, dass nicht nur er mir bei
dieser Gelegenheit seinen guten Willen bezeugte, son-
dern dass sogar die Kaiserin Elisabeth, anstatt mir die
Abschiedsaudienz zu gewähren, um die ich nachge-
sucht hatte, mir vor allen Leuten ihr Bedauern über
meine Abreise ausdrückte und zwar in äusserst gnä-
3o9
diger Weise, und dies fiel um so mehr auf, als es
sonst nicht üblich war, dass sie an Hoftagen an Mi-
nister zweiten Ranges auch nur ein Wort richtete.
Welche Wirkung dies hatte, kann man aus mei-
nem Brief an meine Familie vom 2. Dezember er-
sehen.
„Vor ungefähr drei Wochen hat der Kanzler Be-
stuschew an Brühl geschrieben, meine Abberufung
sei eine gegen ihn gerichtete Feindseligkeit, für die
er Genugtuung fordere; er verlange, dass ich zum
Kommissär und bevollmächtigten Minister der Re-
publik ernannt und nach Petersburg zurückbeordert
werde, für alle Differenzen mit Russland bezüglich
der Grenzen, Hajdamakenüberfälle und alles, was
zwischen den beiden Staaten zu regeln sei, und ins-
besondere bezüglich der litauischen Beschwerden aus
Veranlassung des russischen Durchzugs; ich hoffe,
dass die Antwort günstig sein wird, und so werde ich
denn dem Verlangen Frankreichs vorläufig entspre-
chen und nach Polen kommen und werde dann wie-
der nach Petersburg zurückkehren können, aber nicht
mehr als Gesandter Sachsens, sondern als ein Mini-
ster meines Vaterlandes und mit weit mehr Annehm-
lichkeiten."
Kurz nach meiner Abberufung traf die Nachricht
von der Niederlage der Franzosen bei Rossbach1) ein,
was zu jenem Zeitpunkt den Einfluss Frankreichs in
der grossen Allianz natürlich verminderte; Monsieur
de FHöpital war so niedergeschlagen und beklagte
dieses Unglück in so affektierter und lächerlicher
*) Am S.November 1 707 besiegte Friedrich der Grosse bei Ross-
bach die Franzosen und die Reichsarmee. Anm. d. Herausg.
3 I O
Weise, dass es den Anschein hatte, er bitte das Pu-
blikum wegen der Ungeschicklichkeit seiner Lands-
leute um Verzeihung.
Dies half mit, den Schlag abzuschwächen, den
Broglie mir hatte versetzen wollen.
Da jedoch der Leser fragen könnte, ob ich den
Franzosen durch eine gewisse Anglomanie nicht
wirklich berechtigten Grund zum Argwohn geliefert
hatte, so muss er erfahren, dass kurz vorher Williams
mir hatte sagen lassen, er habe sein Abberufungs-
schreiben erhalten und die Abschiedsaudienz sei ihm
gewährt worden, daher bitte er mich, ihn bis zu sei-
ner Abreise freundschaftlich zu besuchen, da dies
nunmehr weder falsch gedeutet werden noch ver-
dächtig erscheinen könne.
Ich teilte diese Meinung und ging ihn besuchen ;
der Zufall führte jedoch verschiedene Umstände her-
bei, die seine Abreise einige Wochen hindurch von
Tag zu Tag verzögerten, und meine Besuche waren
für das, was man von ihnen hielt, vielleicht zu häu-
fig, obgleich zwischen Williams und mir hierbei nie
die Rede von Geschäften war und ich ihn fast nie
allein sah. Meine Freundschaft und Dankbarkeit für
ihn trugen den Sieg über die Vorsicht davon als ich
sah, in welchem Zustand körperlicher und geistiger
Niedergeschlagenheit sich dieser Mann befand, den
ich während so vieler Jahre als überlegenen und
sprühend-geistreichen Menschen gekannt hatte.
Einige Befehle, die Bestuschew dem Prinzen Wot-
konski erteilt hatte, der damals sich erst seit kurzem
in Polen aufhielt, und die am Hofe Augusts III. trotz
der Gegnerschaft Mniszechs und der französischen
Partei manche Begünstigung meiner Familie zur
3il
Folge hatten, verstärkten Broglies Besorgnisse, der
mit Unwillen sah, wie Mylord Stormond von meiner
ganzen Familie herzlich aufgenommen und ziemlich
allgemein ihm vorgezogen wurde, jedoch mehr noch
als Mensch denn als Minister.
Das alles zusammen hatte die Franzosen gegen
mich aufgebracht.
In mein Amt wiedereingesetzt, übte ich es noch
einige Monate aus, jedoch inmitten der heftigsten
Stürme. Einer der ersten war jener, der Apraxin hin-
wegfegte.
Man hat gesehen, wie seine Unfähigkeit und seine
Fehler auf mein Schicksal zurückgewirkt hatten; sie
veranlassten schliesslich die Kaiserin Elisabeth, Gene-
ral Fermor an Apraxins Stelle zu setzen und diesen
sogar verhaften und als Staatsgefangenen nach Pe-
tersburg bringen zu lassen, wo er sich wegen der ge-
gen ihn erhobenen Anklage des Hochverrats verant-
worten sollte. Das Haus Österreich glaubte ihn der
Kollusion mit dem König von Preussen überführen
zu können; Esterhazy hegte sogar den gleichen Ver-
dacht gegen den Grosskanzler Bestuschew, Apraxins
Beschützer. Der französische Hof dachte, durch Auf-
rollung dieser Angelegenheit nicht allein einen Schlag
gegen Bestuschew zu führen, dessen durchaus anti-
gallikanische Gesinnung ihm bekannt war, sondern
er hoffte sogar die Grossfürstin zu treffen, die er der
Anglomanie beschuldigte.
Die Beschlagnahme der Papiere Apraxins brachte
Bestuschews Privatbriefe an Apraxin zutage, worin
er ihn als Freund beschwor, mit grösster Energie die
Befehle auszuführen, die er ihm als Minister in den
offiziellen Depeschen erteilte, und den König von
3 I 2
Preussen möglichst empfindlich heimzusuchen; es
wurden in dieser Korrespondenz auch drei Billetts
von der Hand der Grossfürstin vorgefunden, worin
sie A praxin ermunterte, seine Pflicht zu erfüllen und
auf Kosten des Königs von Preussen der russischen
Armee Ehre zu machen.
Es schien, dass diese Entdeckungen den Kredit des
Kanzlers bei Elisabeth stärken und seine Feinde de-
mütigen sollten; diese waren auch tatsächlich im er-
sten Augenblick recht bestürzt; doch bald verstan-
den sie es, sogar hieraus neue Waffen gegen Bestu-
sehew zu schmieden. Sie sagten der Kaiserin, es sei
schon eine schwerwiegende Übertretung, die Gross-
fürstin veranlasst zu haben, in Staatssachen heimlich
an Apraxin zu schreiben ; sie betonten den äusserst
lebhaften Stil dieser Billetts der Grossfürstin; sie
machten Elisabeth darauf aufmerksam, dass die
Grossfürstin an Apraxin wie an eine ihr ergebene
Kreatur schrieb und als würde die Fortdauer ihrer
Gunst und infolgedessen seiner Zukunftshoffnungen
von seinem Verhalten im gegenwärtigen Kriege ab-
hängen. Dann gingen sie dazu über, der Kaiserin vor-
zustellen, dass eine mächtige Partei bereits existiere,
oder doch im Begriff sei sich zu bilden, deren Ziel
die Entthronung Elisabeths wäre und die Einsetzung
des Grossfürsten, in dessen Namen seine Frau regie-
ren würde, gestützt auf Bestuschews Rat, dessen Ehr-
geiz und Kühnheit allgemein bekannt waren. Dieses
Thema wurde mit allen Schlichen und Verleumdun-
gen verbrämt, deren die Schlechtigkeit der Höflinge
und die Politikder Höfe fähig ist, besonders wenn —
wie damals in Russland — Furcht sie anspornt, wie es
bei den Schuwalows und Woronzows, den Franzosen
3i3
und Esterhazy der Fall war, die befürchteten, Russ-
lands sämtliche Angelegenheiten alsbald in Bestu-
schews Händen zu sehen, der aus verschiedenen
Gründen ihnen allen gefährlich werden konnte.
Elisabeth verfiel damals bereits häufig in Krank-
heiten und man konnte ihr kein langes Leben pro-
phezeien. Die Grossfürstin war zu jener Zeit mit einer
Tochter niedergekommen, die 1 769 starb. Ich sah sie
oft, Narischkin brauchte ich hierzu nicht mehr. In
einem Wagen oder einem Schlitten begab ich mich in
die Nähe des Schlosses und ging dann zu Fuss allein
über jene kleine Treppe, über die Narischkin mich
das erste Mal geführt hatte; die dort postierte Schild-
wache (anscheinend wurde sie vorher verständigt)
stellte mir keine Frage und legte mir kein Hindernis
in den Weg. Manchmal kam die Grossfürstin als
Mann verkleidet zu festgesetzter Stunde auf dem glei-
chen Wege zu meinem Schlitten, und ich führte sie
in mein Haus. Eines Tages, als ich auf sie im Schlit-
ten wartete, kam ein Korporal herbei, beobachtete
mich und sprach mich sogar an. Ich hatte eine grosse
Mütze aufgesetzt und war ganz in einen grossen Pelz
gehüllt. Ich tat als schliefe ich, wie ein Diener, der
auf seinen Herrn wartet. Ich gebe zu, dass es mich
trotz des herrschenden furchtbaren Frostes heiss über-
lief; endlich entfernte sich der Fragesteller und die
Prinzessin kam; aber es sollte die Nacht der Aben-
teuer sein. Mein Schlitten stiess so heftig gegen einen
Stein, dass sie, mit dem Gesicht zu Boden, einige
Schritt weit aus dem Schlitten herausgeschleudert
wurde. Sie rührte sich nicht; ich dachte schon, sie
wäre tot; ich sprang herzu, um sie aufzuheben; sie
kam mit einigen Kontusionen davon; als sie jedoch
3i4
heimkehrte, hatte ihr Kammerfräulein infolge eines
Missverständnisses die Tür des Zimmers nicht offen
gelassen; sie lief die grösste Gefahr, bis schliesslich
ein glücklicher Zufall es herbeiführte, dass die Tür
durch eine andere Person geöffnet wurde.
D i o
FÜNFTES KAPITEL
NOTE ANS MINISTERIUM VOM i3. FEBRUAR 1758
ÜBER DIE AUSNUTZUNG DER EROBERUNG PREUS-
SENS ZUGUNSTEN SACHSENS. — NOTE VOM 1 7.
MÄRZ ÜBER DIE APPROVISIONIERUNG DES HEE-
RES UND ÜBER DIE SCHONUNG DER BEWOHNER
POLENS. — RRIEF AN DEN GRAFEN BRÜHL VOM
7. MÄRZ ÜBER ELRING UND DANZIG. BESTÜSCHEW
IN UNGNADE. — BRIEF AN BRÜHL VOM 14. MÄRZ
WEGEN EINER VERZÖGERUNG DER REISE DES
PRINZEN KARL. DIE OKKUPATION VON ELBING.
— BRIEF AN BRÜHL VOM 17. MÄRZ. DIE REISE
DES PRINZEN KARL SOLL VERSCHOBEN WERDEN ;
IWAN TSCHERNISCHEW WIRD ZU SEINEM PER-
SÖNLICHEN DIENST BESTIMMT. MEINE ERKRAN-
KUNG. — BRIEF AN BBÜHL VOM 21. MÄRZ.
BESUCH WORONZOWS. GENERALLEUTNANT
TSCHERNISCHEW AN STELLE SALTYKOWS BE-
FEHLSHABER DES NEUEN KORPS. RUSSLAND,
ÖSTERREICH UND FRANKREICH SOLLEN POLEN
DIE RESTITUTION ELBINGS UND SEINER RECHTE
GARANTIEREN. — BRIEF AN BBÜHL VOM 24.
MÄBZ. SCHBEIBEN DES K ANZLEBS M ALACHOWSKI
UND DES BISCHOFS VON KIEW SOLTYK. JEDEN
SAMSTAG AUDIENZTAG BEI WORONZOW. DIE
REGIMENTER VON INGERMANLAND UND ASTRA-
CHAN MARSCHBEREIT. RÜCKZUG DER FRANZO-
SEN AUS HANNOVER. PROJEKT EINER VERTEI-
DIGUNG DER OSTSEE GEMEINSAM MIT SCHWE-
DEN. PROJEKT MIT DÄNEMARK BEZÜGLICH HOL-
STEINS. BROCKDORF WIRD BEGÜNSTIGT.
Inzwischen setzte ich nicht nur meine Bemühun-
gen für die persönlichen Interessen Augusts III. als
Kurfürsten von Sachsen fort, sondern auch jene für den
polnischen Hof, je nachdem die Vorfälle es erheisch-
ten; man wird es aus den nachstehenden Dokumen-
ten ersehen.
Note ans Ministerium vom i3. (2.) Februar 1758.
„ Sr. M. dem König von Polen ist die erfreuliche Nach-
richt von der Okkupation Brandenburgisch-Preussens
mit der Stadt Königsberg durch kaiserlich-russische
Truppen zugegangen; Seine Majestät war darüber
ausserordentlich erfreut, wie auch über die Ordnung
und Disziplin, die diese Truppen auf ihrem Marsche
eingehalten haben, was ihnen nicht nur zur Ehre ge-
reicht, sondern auch zu ihrem Vorteil ausschlägt, da
sie sich hierdurch das Wohlwollen der Einwohner
zugezogen haben, die sich um so williger unterwer-
fen und alles zu ihrem Unterhalt Nötige herbeischaf-
fen. Dieser glückliche Anfang, zu dem der König
I. M. die Kaiserin beglückwünscht, lässt in ihm
gleichzeitig die Hoffnung erstehen, dass man hierbei
nicht stehen bleiben, sondern sich die guten Wege
zunutze machen und die Truppen auf Pommern
vorrücken lassen wird, während das besondere, für
Schlesien bestimmte Korps sich auf einem anderen
3i8
Wege nach den Ufern der Weichsel begeben wird.
Man kann im übrigen versichert sein, dass auf diesen
Märschen nirgends ein Mangel an Lebensmitteln ein-
treten wird, falls die Aufträge rechtzeitig erteilt wer-
den und das zum Ankauf der Vorräte nötige Geld be-
reit gestellt wird. Der Herr Baron von Stein, der sich
augenblicklich in Warschau befindet, erwartet beides
mit Ungeduld, da er ohne Auftrag und prompte Be-
zahlung nicht imstande ist, das Korn, das er bereits
in ziemlich grossen Mengen aufgekauft hat, nach den
Magazinen zu schaffen; zu diesem Transport muss
man die beste Jahreszeit benützen, ehe sie vorbei ist.
„Die Eroberung Preussens durch die Armeen I. M.
der Kaiserin versetzt die erhabene Fürstin, deren
Grossherzigkeit sich bei jeder Gelegenheit offenbart,
um so leichter in die Lage, dem König ihre guten
Intensionen und ihre wahrhafte Freundschaft zu be-
zeugen, als sie dort die Mittel finden wird, ihren
Grossmut zur Unterstützung Sachsens und im beson-
deren der Stadt Leipzig zu betätigen.
„Es ist bekannt, dass der König von Preussen die
Einwohner dieser Stadt bereits zur Zahlung einer
Summe von über anderthalb Millionen Talern in ba-
rem Gelde gezwungen hat, abgesehen von den ande-
ren immensen Lieferungen, die man für seine Armee
zur Verfügung stellen musste; neuerdings nun ver-
langt er wieder achthunderttausend Taler Kontribu-
tion, welche Summe sie unmöglich auftreiben kön-
nen; dies lässt den völligen Ruin der Stadt befürch-
ten, deren Handel schon in den letzten Zügen liegt.
Es würde zu weit führen, auf die Details der Bedräng-
nisse einzugehen, unter denen dieses Land im allge-
meinen zu leiden hat und deren Ende unglücklicher-
3 19
weise noch gar nicht abzusehen ist. I. K. Majestät
könnte diesen Gewalttaten ein Ende machen, wenn
sie geneigt wäre zu erklären, sie werde gegen die
Einwohner Preussens und vor allem gegen die Stadt
Königsberg Repressalien anwenden für alles, was der
König von Preussen den Einwohnern Leipzigs antun
wird, und wenn der Vollzug dieser Erklärung ohne
Aufschub exekutiert würde.
„In voller Anerkenntnis der Beweise der Freund-
schaft, welche die Kaiserin ihm bezeugt hat, und der
grossen Ausgaben, welche ihr durch den Krieg be-
reits erwachsen sind, würde der König keine neuen
Bitten vorbringen, wenn nicht durch diesen glückli-
chen Umstand der Eroberung Preussens der Plan,
den er I. K. Majestät vorschlägt, leicht auszuführen
und auch für das allgemeine Wohl der Allianz von
Vorteil wäre.
„Der König hat gegenwärtig bereits 12 — i3ooo
Mann eigener sächsischer Truppen, davon ein Drittel
gute Kavallerie. Diese Zahl setzt sich zusammen aus
jenen Kavallerieregimentern, welche während der
ganzen verflossenen Kampagne mit so grosser Aus-
zeichnung in der österreichischen Armee Dienste ge-
leistet haben, und aus über 9000 Sachsen, früheren
Soldaten des Königs, denen es gelungen ist, aus der
preussischen Sklaverei zu flüchten, und die in Un-
garn gesammelt worden sind. Dieses so formierte
Korps, an dessen Spitze der König S. K. Hoheit den
Prinzen Karl *), seinen Sohn, zu setzen beabsichtigt,
würde sich mit der Armee der Kaiserin unter dem
*) Karl Prinz von Sachsen (1 j33 — 1796), dritter Sohn Au-
gusts III.; 1758 erhielt er mit Einwilligung der Kaiserin Elisa-
heth das Herzogtum Kurland, das er 1763 nach einer Belage-
3 20
Oberbefehl des Herrn Generals Fermor vereinigen und
gemäss den Dispositionen vorgehen, welche man für die
Operationen dieser Kampagne gemeinsam beschlies-
sen wird, wenn es I. K. Majestät belieben würde, an
diesem Projekt Gefallen zu finden und ihrerseits das
einzige dazu beizutragen, woran es dem König fehlt,
um das Korps mobil zu machen und es zu unterhal-
ten, und was natürlich aus den Kontributionen ge-
deckt werden könnte, die man von Brandenburgisch-
Preussen fordern und von denen 1. K. Majestät einen
für diesen Zweck genügenden Teil zu bestimmen ge-
ruhen würde.
„Das ist der Plan, den der Unterzeichnete, bevoll-
mächtigter Minister S. M. des Königs von Polen, die
Ehre hat vorzulegen und von dem er zu hoffen wagt,
dass I. K. Majestät ihm zustimmen werde, angesichts
der bewährten Freundschaft für den König und sei-
ner den wirklichen Interessen der Alliierten so för-
derlichen Intentionen."
Note ans Ministerium vom 17. (6.) März 1758.
„Dem Unterzeichneten, bevollmächtigten Mini-
ster S. M. des Königs von Polen, ist kürzlich die
Mitteilung zugegangen, dass Offiziere der russischen
Truppen, die zu den Magazinen abkommandiert wa-
ren, welche man zum Unterhalt der Truppen in je-
nem Königreich errichtet hat, geäussert hätten, man
würde die Schiffe mit Kornladungen für Danzig fest-
halten ; dieser Umstand muss unverzüglich zur Kennt-
nis des Ministeriums I. K. Majestät gelangen, weil
rung Mitaus durch die Russen wieder herausgeben musste.
Eine Zeitlang wurde er als Kandidat auf den polnischen
Thron genannt. Anm. d. Herausg.
2 1 Poniatowski 32 1
schon allein das Gerücht dieser Massnahme einen
grossen Aufruhr im Lande verursacht hat und weil
ihre Durchführung jene ruinieren würde, die ihre
Erzeugnisse nach Danzig verschiffen, was einen Teil
der Nation sehr kränken und auf alle den schlechte-
sten Eindruck machen würde.
„Sollte dies eine Vorsichtsmassregel sein, die man
ergreifen will, damit die russischen Truppen nicht
der Subsistenzmittel ermangeln, so ist sie gewiss über-
flüssig; der gute Wille der Einwohner genügt hier-
für. Man braucht bloss zu bestimmen, welche Quan-
titäten an Lebensmitteln für jedes Magazin nötig sind,
dann werden die Einwohner der Umgegend willig
alles liefern, was man nur verlangen wird, vorausge-
setzt, dass man den üblichen Marktpreis in bar be-
zahlt und dass die Unternehmer oder andere, die mit
der Approvisionierung der Magazine beauftragt wer-
den, keine willkürlichen Taxen zu eigenem Profit
auferlegen und die Verkäufer nicht gezwungen wer-
den, sich diesen zu unterwerfen.
„Der Unterzeichnete ist überzeugt, dass auch in
diesem Falle, wie sonst stets, von Seiten Russlands
alles vermieden werden wird, was den leisesten An-
schein der Gewalt gegen einen befreundeten und al-
liierten Staat hervorrufen könnte; indessen hat die
Furcht vor der Festhaltung dieser Schiffe, obgleich
wenig begründet, die Gemüter dennoch so gepackt,
dass der Fürst-Grosskanzler Czartoryski und der
Grossschatzmeister von Litauen Graf Flemming für
alle Fälle Pässe zu erhalten wünschen, der erstere
für zehn seiner Schiffe, letzterer für zwanzig. Der Un-
terzeichnete kann nicht umhin die prompteste Zustel-
lung derselben zu erbitten, da die Schiffahrt bald ge-
322
öffnet wird und er sie ihnen rechtzeitig zustellen
möchte, um ihre Befürchtungen zubeschwichtigen."
Brief an den Grafen Brühl vom 7. März 1758.
„Mit vorgestriger Post habe ich das Schreiben Ew.
Exzellenz vom 22. d. M. erhalten und habe mich
vorerst zu dem Herrn Vizekanzler begeben, um mit
ihm über die Nachricht zu sprechen, die Ew. Exzel-
lenz mir zukommen Hessen, es habe der General Fer-
mor die Absicht, sich nicht allein Elbings zu bemäch-
tigen, sondern auch Danzigs, und letzteren Platz so-
gar zu bombardieren, wenn man sich dem Einzug
der Truppen widersetzen würde.
„Was Danzig betrifft, so erwiderte er mir, es sei
nichts Wahres daran, und der General habe niemals
einen ähnlichen Befehl erhalten; sollten jedoch sich
Umstände ergeben, die seine Besetzung erheischten,
so würde man nichts unternehmen, ohne sich vor-
her mit unserem Hofe ins Einvernehmen gesetzt zu
haben.
„Was Elbing betrifft, so desavouierte er nicht
völlig das Projekt von dessen Besetzung, jedoch nur
im Falle äusserster Notwendigkeit und um dem Kö-
nig von Preussen zuvorzukommen, falls er Lust be-
zeugen sollte, sich seiner zu bemächtigen; denn es
wäre doch besser, diese Festung würde von ihren
Truppen geschützt, als dass sie in die Hände der
Preussen fiele; übrigens habe die Republik nichts zu
fürchten und man werde alle erdenklichen Rücksich-
ten auf ihre Rechte nehmen.
„Da ich mich mit dieser Antwort nicht begnügen
konnte, führte ich noch sämtliche Gründe an, die
mir geeignet schienen, dieses Unglück abzuwenden,
21* 323
und vor allem den äusserst schlechten Eindruck, den
die Ausführung eines solchen Projektes bei uns her-
vorrufen würde, wo es nicht an Parteigängern des
Königs von Preussen mangelt, die diese Gewalttätig-
keit an die grosse Glocke hängen würden; dass im
übrigen auch nicht der geringste Anschein der Not-
wendigkeit einer Okkupation dieser beiden oben ge-
nannten Städte vorhanden wäre, auch nicht für eine
Bedrohung durch den König von Preussen; sollten
wider jede Erwartung die Konjunkturen sich so än-
dern, dass dieser Fürst die eine oder andere dieser
Städte besetzen wollte und dazu in der Lage sein
würde, so dürfte ihm dies nicht leicht fallen, denn
die Stadt Danzig besitze ihre eigene Garnison, die
erst im Vorjahr verstärkt wurde, und Elbing sei durch
Truppen der Republik genügend geschützt.
„Ich glaubte dies um so mehr betonen zu müssen,
da dieser Minister zwei Tage früher als er mir mit-
teilte, dass man bereits ganz Preussen besetzt habe
und Anstalten treffe, um einen Kordon von Thorn
ab längs der Weichsel zu ziehen, auch von der Not-
wendigkeit sprach, Elbing zu besetzen, dass man die-
sen Platz besser befestigen könnte und dass die
Kriegsraison diese Vorsichtsmassregel erheischen
dürfte. Darauf hatte ich dasselbe erwidert wie dies-
mal und mit aller erdenklichen Anschaulichkeit, um
Eindruck zu machen.
„Laut den Rapporten des Generals Fermor sind
bereits Abteilungen russischer Truppen nach Pom-
mern entsandt worden, um Kontributionen zu holen ;
sie sind bis nach Brükow vorgedrungen, und der
Herr Vizekanzler hat mir gesagt, er glaube, sie be-
fänden sich augenblicklich bereits in Stolp."
3^4
Brief an den Grafen Brühl vom 14. März 1758.
„In Beantwortung der Depesche Ew. Exzellenz
vom 27. vergangenen Monats, die ich am 9. d. M.
abends erhalten habe, beehre ich mich mitzuteilen,
dass ich den Herrn Vizekanzler erst vorgestern, Sonn-
tag, sprechen konnte, als ich durch die an jenem
Tage angelangte Post erfahren, dass S. H. Prinz Karl
am I. d. M. einen Fieberanfall hatte; ich teilte dem
Minister diesen Umstand mit und zugleich auch die
Nachricht, dass S. K. Hoheit beabsichtige, seine Reise
hierher am 7. anzutreten, es sei denn, dass der Zwi-
schenfall seiner Unpässlichkeit ihn aufhalte. Zunächst
gab er mir zur Antwort, es sei bereits Ordre für fünf-
zig Pferde erteilt, und als ich zu insinuieren begann,
dass ich in Wirklichkeit keinen Auftrag hätte, ein
Logement für den Prinzen zu fordern, liess mich der
Herr Vizekanzler gar nicht ausreden und sagte, dar-
an sei bereits gedacht worden; ich habe Grund zu
glauben, dass der Kammerherr Schuwalow sein Haus
anbieten wird. Jedoch bin ich aus sehr guter Quelle
darüber unterrichtet, dass man wegen dieser Reise
hier in grösster Verlegenheit ist; dieser leichte Fie-
beranfall S. K. Hoheit könnte einem Aufschub als
Vorwand dienen und später könnte diese Reise ganz
fallen gelassen werden, weil S. K. Hoheit unbedingt
an allen Operationen dieser Kampagne teilnehmen
wolle; wenn es aber durchaus sein muss, dass S. K.
Hoheit hierher kommt, so wäre es gut, wenn die An-
kunft möglichst bis nach dem russischen Osterfeste
verschoben würde.
„Der Herr Vizekanzler teilte mir gestern mit, ein
Kurier des Generals Fermor habe die Nachricht über-
bracht, dass die Garnison von Elbing diesen Platz
325
verlassen habe und dass die russischen Truppen ihn
am 7. d. M. (11. St.) okkupiert haben, nach Stimulierung
gewisser Bedingungen seitens der Stadt. Da man mir
einige Tage früher versichert hatte, man würde nur
im Falle einer Niederlage jenseits der Weichsel an
diesen Stützpunkt denken und würde diesbezüglich
nichts unternehmen, ohne sich vorher mit unserem
Hofe ins Einvernehmen gesetzt zu haben, so über-
raschte mich diese unerwartete Neuigkeit dermassen,
dass ich nur fragte, wie die Artikel lauteten, die die
Stadt Elbing stipuliert hatte, und was mit der polni-
schen Garnison geschehen wäre. Der Herr Vizekanzler
gab mir zur Antwort, diese Artikel seien in deutscher
Sprache niedergelegt und noch nicht übersetzt, des-
halb seien sie ihm noch unbekannt, und was die pol-
nische Garnison anlange, so glaube der Kurier, dass
sie sich auf Marienburg zurückgezogen habe. Offen-
bar hatte der Herr Vizekanzler keine Lust, sich aus-
führlicher zu explizieren, denn er versteht und spricht
Deutsch und könnte den Inhalt der erwähnten Arti-
kel sehr wohl verstehen, obgleich sie in deutscher
Sprache niedergelegt sind."
Brief an den Grafen Brühl vom 17. März 1758.
„Da ich mich so unwohl fühle, dass es mir un-
möglich ist auszugehen, hat sich Herr Ogrodzki ge-
stern in meinem Auftrag zu dem Herrn Vizekanzler
begeben, sowohl um ihm den Brief Ew. Exzellenz
betreffs der Reise S. K. Hoheit des Prinzen Karl ein-
zuhändigen, als auch um ihm das Wesentliche der
mir zugegangenen Mitteilungen über die Okkupation
Elbings zur Kenntnis zu bringen, bis ich selbst in
der Lage sein werde, ihm die Umstände dieses un-
326
angenehmen Zwischenfalles detailliert bekannt zu
geben .
„Den Brief fand er äusserst verbindlich, und um
das Vertrauen, das man ihm erwies, sogleich zu er-
widern sagte er, die Kaiserin habe, sobald sie den
zur Abreise des Prinzen festgesetzten Tag erfahren,
sofort allerorts Anordnungen für die Bequemlichkeit
seiner Reise erlassen sowie für seinen Empfang; hier
am Orte habe sie das Haus des Kammerherrn Schu-
walow für sein Logement bestimmt und den Kam-
merherrn Tschernischew 1) zum Dienst bei ihm wäh-
rend seines hiesigen Aufenthaltes ernannt. Da er je-
doch hinzusetzte, eine so weite Reise werde zweifel-
los viel Zeit erfordern, auch werde der Prinz bei der
Durchreise durch Königsberg wahrscheinlich die
Truppen sehen wollen, was einen neuen Aufenthalt
bedeuten würde, so sei infolgedessen anzunehmen,
dass er erst in der dritten oder vierten Woche der
russischen Fastenzeit hier ankommen werde — und
obgleich er, ich glaube aus Höflichkeit, versicherte,
alles würde bereit sein, auch wenn der Prinz morgen
ankäme (und da der Kammerherr Schuwalow es mir
noch deutlicher zu verstehen gab, indem er mir po-
sitiv sagte, man wünsche, dass der Prinz erst in der
sechsten oder gegen Ende der fünften Woche an-
komme, weder früher noch später), glaubte ich es
auf mich nehmen zu können, S. K. Hoheit sofort eine
Stafette entgegenzuschicken, um den Prinzen zu bit-
ten, das Tempo der Reise zu verlangsamen und erst ge-
gen den 14. April (n. St.) hier anzukommen, oder nur
*) Graf Iwan Tschernischew, unter Katharina II. russischer
Marinemir.ister, jüngerer Bruder des Generals Sachar Tscher-
nischew. Anni. d. Heraus«.
32
7
kurz vorher, und zwar aus oben erwähnten Gründen.
Ferner fragte der Herr Vizekanzler, unter welchem
Namen der Prinz herzukommen gedenke, und da ich
erwiderte, er beabsichtige unter seinem eigenen Na-
men herzukommen, so sagte er, man werde ihn als
Königssohn empfangen. (Jedoch fürchte ich in dieser
Hinsicht Schwierigkeiten und irgend einen unange-
nehmen Zwischenfall, vor allem mit den zwei Ge-
sandten, die übermässig viel von der Etikette spre-
chen.)
„Es würde mich ausserordentlich verdriessen, wenn
meine Unpässlichkeit (ein Fieberanfall, von dem ich
fürchte, dass er in eine ernsthafte Krankheit aus-
schlägt) mich verhinderte, S. K. Hoheit entgegenzu-
reisen; ich werde jedoch mein Möglichstes tun, um
dieser Ehrfurchtspflicht zu genügen.
„(Was die Affäre von Elbing anlangt, so wird al-
les, was ich hier darüber vorbringen werde, nur ein
Schlag ins Wasser sein. Diesem Übel könnte einzig
und allein abgeholfen werden, wenn der König selbst
an die Kaiserin schreiben und als gerechter Fürst
und guter Vater sich für das Schicksal seiner Unter-
tanen und seiner Kinder interessieren würde.)"
Brief an den Grafen Brühl vom 21. März 1758.
„Am Samstag hat Graf Esterhazy mir den Brief Ew.
Exzellenz vom 10. d. M. geschickt, den sein Kurier
für mich mitgebracht hat.
„Ich begab mich hierauf zum Vizekanzler, um ihm
den Beschluss des Wiener Hofes betreffs des neuen
Hilfskorps von 3oooo Mann mitzuteilen; gestern
abend nun erwies er mir die Ehre, bei mir vorzu-
328
sprechen, da meine Krankheit mich nötigt, das Zim-
mer zu hüten.
„Er sagte mir, man sei hier über diesen Beschluss
sehr erfreut und darüber einig, den zweiten Vor-
schlag anzunehmen, um dieses Korps dem bereits in
Preussen stehenden anzugliedern, welches laut ihrem
eigenen Zugeständnis kaum den Effektivstand von
f>oooo Mann erreicht; infolgedessen wird diese Ver-
stärkung nur die Zahl von 80 ooo auffüllen, zu der
sich der hiesige Hof im letzten Traktat mit dem Wie-
ner Hof verpflichtet hat. Was das Geld betrifft, so
hofft er noch ein Mittel ausfindig zu machen, um die
Bitte fallen zu lassen, vor allem erhofft er sich einen
Erfolg bei der Kaiserin selbst, sobald er mit ihr wird
darüber sprechen können.
„Im übrigen hat er mir zu verstehen gegeben, ich
solle in dieser Angelegenheit keinerlei Schritte mehr
unternehmen und nicht einmal verlauten lassen, dass
er mir den Entschluss seines Hofes mitgeteilt, wor-
über ich wirklich sehr froh bin; denn je weniger wir
im Augenblick bitten und verhandeln müssen, desto
besser ist es, und der vernünftigste Ausweg ist, uns
still zu verhalten, bis wir uns über die Stimmung und
Geneigtheit derjenigen, die augenblicklich am Ruder
sind, mehr im klaren sein werden.
„Den Oberbefehl über dieses Korps von 3oooo
Mann wird nicht General Saltykow erhalten; er hat
Schwierigkeiten gemacht, es zu übernehmen, sei es im
Glauben, es mangle an gar vielem, sei es dass er keine
Truppen anführen will, die er nicht kennt, sei es aus
Faulheit und Hang zur Bequemlichkeit oder aus irgend
einem anderen Grunde. So will man ihn denn hier-
von entbinden und sucht nach einem Ausweg, damit
329
er sich dieser Verpflichtung ehrenvoll entledigen kann.
Demnach wird Generalleutnant Tschernischew1) mit
diesem Kommando betraut werden, und da dieses
Korps mit den Truppen Fermors vereinigt werden
soll, ist es um so weniger nötig, an seine Spitze einen
general en chef zu stellen.
„Diesen Morgen übersandte mir Graf Esterhazv
ein Reskript mit dem Beschluss über dieses Korps;
ich fand darin einen Artikel, der sich auf die vier
sächsischen Regimenter und die zwei Ulanen-Abtei-
lungen bezieht; der Wiener Hof schlägt vor, sie den
30 000 Mann anzugliedern, an Stelle der geforderten
österreichischen Kavallerie, die, wenn sie Polen be-
treten würde, Aufregung verursachen könnte, was
bei den eigenen Truppen des Königs ausgeschlossen
wäre; ich nehme an, dass Graf Flemming2) Ew. Ex-
zellenz bereits hierüber unterrichtet hat.
„Derselbe Gesandte, endlich überzeugt von dem un-
gerechtfertigten Vorgehen des hiesigen Hofes bei der
Okkupation Elbings, hat mit dem Vizekanzler ernst-
haft darüber gesprochen, der das Unrechtmässige
dieses Vorgehens dann zugestanden hat; um dem ab-
zuhelfen und um die Gemüter in Polen zu beruhigen,
hat er übereinstimmend mit dem Gesandten Frank-
reichs vorgeschlagen, die Kaiserin solle schriftlich
eine bindende Versicherung der Restitution dieser
Stadt abgeben, und ausserdem solle dieser Hof an die
2) Graf Sachar Tschernischew (1722 — 1784), dem Peter III.
im Mai 1762 befahl, sein Korps den Preussen zuzuführen.
Unter Katharina II. Kriegsminister und später Reichsfeldmai -
schall.
2) Karl Flemming, der sächsische Gesandte am Wiener Hof.
Anm. d. Herausg.
33o
Höfe von Versailles und Wien das Ersuchen richten,
dass sie gemeinsam die Rechte, Prärogativen, Immu-
nitäten und Freiheiten der Republik garantieren.
Dennoch wiederhole ich, was ich bereits in meinem
letzten Rrief Ew. Exzellenz zu sagen die Ehre hatte,
dass ein eigenhändiger Brief des Königs an die Kai-
serin zweifellos den besten Erfolg haben würde.
„Was den Artikel der Kapitulation von Königsberg
anlangt, der dem König von Preussen einen neuen
Vor wand liefern könnte, zu Repressalien in Sachsen
zu greifen und die Güter der abwesenden Einwohner
zu sequestieren oder derjenigen, die gegen ihn direkt
oder indirekt Dienste tun, so hat, da mich eine Krank-
heit am Ausgehen verhindert, Herr Prasse l) es über-
nommen, gemäss den Befehlen Ew. Exzellenz Schritte
zur Revozierung dieses Artikels zu unternehmen.
„Apraxin soll in einigen Tagen hier ankommen;
man hat seinen Sohn hergebracht, von dem seine Frau
vergangenes Jahr in Riga entbunden wurde; auch
ein Teil seiner Equipage ist bereits angekommen. c;
Brief an den Grafen Brühl vom 24. März 1758.
„Mit gestriger Post habe ich den Brief erhalten,
den Ew. Exzellenz mir am i3. d. M. zu schreiben
geruhten.
„Ich werde erst morgen die Briefe des Kron-Gross-
kanzlers 2) und des Bischofs von Kiew 3) (von denen ich
*) Johann Moritz Prasse, sächsischer Legationssekretär und
später Resident.
2) Jan Malachowski (1698 — 1768), Kron-Grosskanzler, An-
hänger der sächsischen Partei und Russophile.
s) Kajetan Soltyk(i7i5 — 1788), bald hernach Bischof von
Krakau. Anm. d. Herausg.
33 1
gewünscht hätte, Kopien zu erhalten) dem Herrn
Vizekanzler Grafen Woronzow übergeben, denn die-
ser Minister Hess mich sowie alle anderen ausländi-
schen Minister wissen, dass er uns jeden Samstag von
9 Uhr bis Mittag Audienz erteilen werde; wenn man
ihn ausserhalb dieser Zeit zu sprechen wünsche,
müsse man um Festsetzung einer Stunde nachsuchen.
So will ich mich denn, vor allem dies erste Mal, an
diese neue Ordnung halten, da mein' Gesundheits-
zustand mich ohnedies hierzu zwingt und ich sogar
bezweifle, dass meine Krankheit es mir morgen ge-
statten wird, in welch letzterem Falle ich Herrn
Ogrodzki mit der Mission betrauen werde. So werde
ich erst mit nächster Post Ew. Exzellenz informieren,
wie diese Briefe aufgenommen wurden, welche Wir-
kung sie erzielten und über alles, was auf diese un-
angenehme Elbinger Sache Bezug hat.
„Was das Korps von 3oooo Mann betrifft, so wis-
sen wir nichts weiter, als was ich letzthin darüber
berichtet habe, doch bestätigt folgende Anordnung
die Absicht eines energischen Vorgehens.
„Die Regimenter von Ingermanland und Astra-
chan, die mit den vier Garderegimentern immer hier
in Garnison bleiben und nur im Falle äusserster Not-
wendigkeit ins Feld rücken, haben bereits zwei Be-
fehle erhalten, marschbereit zu sein. Man behauptet,
dass sie zusammen mit einem dritten Regiment, des-
sen Namen ich nicht weiss, eingeschifft werden sollen.
„Die Nachricht vom Rückzug der Franzosen über
die Weser, unter Aufgabe von ganz Hannover, wurde
hier vor 8 oder io Tagen bekannt, und alle späteren
Meldungen bestätigen dies in einer für sie äusserst
ungünstigen Weise.
332
„Man hat dem schwedischen Gesandten eine
Schrift überreicht, betitelt , Deklaration'; in Wirk-
lichkeit ist es jedoch nur das Projekt einer Kon-
vention, worin Russland vorschlägt, im Falle Eng-
land es wagen sollte, eine Eskader in die Ostsee
zu schicken, an einer gewissen Stelle diesseits des
Sunds 16 Linienschiffe und 4 Fregatten zu postieren
unter der Bedingung, dass Schweden 10 Linien-
schiffe und 4 Fregatten hinzubringe, das Kommando
an jenen der Admiräle von gleichem Rang über-
geben werde, dessen Patent das älteste ist und man
es vermeide, sich in zu grosser Nähe einer dänischen
Festung aufzustellen, und diese Schrift von den bei-
derseitigen Ministern unterschrieben und hernach
von beiden Höfen ratifiziert werde.
„Der hier residierende dänische Minister1) wird
tagtäglich mehr umschmeichelt; man verspricht ihm,
die Kaiserin werde sich jetzt bemühen, den Gross-
fürsten zum Tausch zu bestimmen, und gibt ihm zu
verstehen, diese Affäre sei der Kaiserin widerwärtig
gewesen, solange der vorige Kanzler sie betrieben. So
schiebt man denn alles auf das Konto dieses unglück-
lichen Ministers, obgleich keine Beweise vorhanden
sind, und man belastet ihn nicht nur mit Dingen,
mit denen er nichts zu tun gehabt hat, sondern es
werden sogar solche Dinge falsch interpretiert, bei
denen er dem Staat wirkliche Dienste erwiesen hat.
„Graf Esterhazy hat neue Ordres erhalten, nicht
das geringste Versprechen betreffs Ostfrieslands los-
zulassen, solange die Sache des Tausches nicht gere-
gelt ist, welche Regelung gewiss noch in weiter Ferne
liegt. Dies ist durchaus nicht erstaunlich, seitdem —
*) Adolf Siegfried von der Osten, 1726 — 1 797.
333
der Widerspruch ist unbegreiflich — tagtäglich jene
Personen mehr begünstigt werden, die den Grossfür-
sten von jedem vernünftigen Gedanken abhalten.
Seinem Oberkammerherrn Brockdorf1) wurde so-
eben von der Kaiserin eine monatliche Pension von
200 Rubel zugebilligt, obwohl er stets und auch jetzt
noch seinen Herrn in den preussenfreundlichen Ge-
fühlen bestärkt. Aber die Feinde des Alten glaubten
ihm diese Belohnung verschaffen zu müssen, weil es
ihm gelungen ist, den Grossfürsten so zu beeinflus-
sen, dass er jetzt ihre Pläne unterstützt.
a) Christian August Brockdorf, holsteinischer Generalleutnant.
Anm. d. Herausg.
334
SECHSTES KAPITEL
BRIEF AN DEN GRAFEN BRÜHL VOM 28. MÄRZ.
ANKUNFT SEINES SOHNES. ELBING, DANZIG. DER
KÖNIG SOLL EINEN BRIEF AN ELISABETH SCHBEI-
BEN. — BRIEF AN BRÜHL VOM 3 1 . MÄRZ. SEQUE-
STRATION DER GÜTER DER ABWESENDEN PREUS-
SISCHEN MINISTER. REITRITT SCHWEDENS ZUR
GROSSEN ALLIANZ. ELISABETH WILL KEINE
NEUEN ÖSTERREICHISCHEN SUBSIDIEN UND WILL
DIE EROBERUNGEN IN DEUTSCHLAND IN EIGE-
NEM NAMEN UND NICHT IM NAMEN ÖSTERREICHS
MACHEN. OLSUWJEF REIST DEM PRINZEN KARL
ENTGEGEN. ESTERHAZY UND VOR ALLEM L'HÖ-
PITAL VERLANGEN GLEICHSTELLUNG MIT IHM.
— BRIEF AN BBÜHL VOM 4. APBIL. SEQUESTRA-
TION DER GÜTER DER PREUSSISCHEN MINISTER.
GENERAL YORKE SOLL ZUM KÖNIG VON PREUS-
SEN GESANDT WERDEN. — BRIEF AN BRÜHL
VOM 7. APRIL. ERKLÄRUNG FRANKREICHS, DER
RÜCKZUG AUS HANNOVER BEDEUTE KEINEN AB-
FALL. BELAGERUNG VON SCHWEIDNITZ. — BBIEF
AN BRÜHL VOM 14. APRIL. DAS ZEREMONIELL
DER GESANDTEN. SCHLIMME UNPÄSSLICHKEIT
ELISABETHS. LANGSAMKEIT DER MILITÄRISCHEN
HILFE RUSSLANDS. DIE AFFÄRE BESTUSCHEW.
— BRIEF AN BRÜHL VOM 19. APBIL. DER PRINZ
MACHT RESUCHE. BÜTÜRLIN UND IWAN TSCHER-
NISCHEW BEGLEITER DES PBINZEN. PLÄTZE IN
DER KAROSSE. STREIT ZWISCHEN LA CHINAL,
LUBOMIRSKI UND RZEWUSKI. AUSWECHSLUNG
DER SCHWEDISCHEN RATIFIKATIONEN. ABREISE
DES JONGEN L'HÖPITAL. STAMBKE IST AM 18.
ABGEREIST. WESTPHAL KOMMT NICHT. BROCK-
DORF; QUOD TIBI HODIE, MIHI CRAS. ZWEI REI-
SEBETTEN FÜR BESTUSCHEW.
*iMMiHii!iiiinmi!itiiriiiMiijiiitiiiiiiiii!iiiiiiiiim
Brief an den Grafen Brühl vom 28. März 1758.
^W7orgestern, den 26., habe ich den Brief erhalten,
j ■> T mit dem Sie mich am i5. zu beehren geruhten.
An jenem Tage ging ich zum ersten Mal nach mei-
ner ziemlich heftigen Erkrankung aus, um den Herrn
Starosten von Warschau1), der am Abend des ib.
hier angekommen ist, dem Herrn Vizekanzler vorzu-
stellen; bei dieser Gelegenheit sprach ich mit ihm
auch über Elbing, händigte ihm die fünf Briefe aus,
die Ew. Exzellenz mir übersandt haben, und die Ko-
pie der Note des Kron-Grosskanzlers hinsichtlich der
Erklärung, die Herr Benoit, der Legationssekretär
des Königs von Preussen, beim Kron-Grosshetman ab-
gegeben hat.
„Gestern sprach ich wieder mit ihm darüber,
und er teilte mir mit, der König habe an General
Fermor wegen der Evakuation dieser Stadt geschrie-
ben, dieser General jedoch erkläre in seinem Rapport
die Sache aus Gründen der Kriegsraison für absolut
unmöglich. Da er mir einige Augenblicke früher ge-
sagt hatte, dass die verschiedenen Abteilungen, die
der General auf Kundschaft ausgesandt hatte, nichts
Neues über den Feind erfahren konnten, wollte ich
*) Friedrich Alois Brühl (1739 — 179-*), Sohn des Ministers
Brühl. Anm. d. Herausg.
336
fi/i/ L 01 nie
ViihL ;
I
unbedingt wissen, worin denn diese unumgängliche
Kriegsraison bestehe, da doch vom Feinde nichts zu
hören sei. Also in die Enge getrieben, antwortete er,
man habe Kunde erhalten, dass der König von Preus-
sen ein mächtiges Korps bei Stolp zusammenziehe.
Wir hatten allerdings gehört, dass er bei Küstrin
Truppen zusammenziehe, doch im Augenblick brauch-
ten sie ihn in Stolp, und so wurde er nach Stolp ver-
pflanzt. Ich bemühte mich, den Herrn Vizekanzler
zu bewegen und zu rühren, damit man wenigstens
in bezug auf Danzig nachgab, und ich entwarf ihm
ein möglichst ergreifendes und trauriges Bild von
Polen, wie es aussehen würde, wenn der König von
Preussen seine Drohungen wahr machte. Jetzt end-
lich sagte er, es habe von Anfang an nicht in seiner
Absicht gelegen, die Festungen in unserem Preussen
zu besetzen, und er werde all meine Gründe im Con-
seil vorlegen; doch gleichzeitig eröffnete er mir, dass
er an der Möglichkeit einer Änderung der Mass-
nahmen zweifle. Ich stellte ihm vor, dass, wenn
die russische Armee Preussen verlassen und in die
feindlichen deutschen Provinzen einbrechen würde,
all diese fatalen Vorsichtsmassnahmen überflüssig
wären. Darauf bekam ich nur die Antwort, die
Truppen müssten doch ausruhen und die ganze
Division Browne sei noch nicht einmal eingetrof-
fen.
„Um die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, —
man hat solche Angst vor einem Zusammenstoss mit
einer preussischen Armee im offenen Felde, dass man
nie wird genug Vorsichtsmassregeln treffen und nie
genug Vorsicht walten lassen können; unglücklicher-
weise glaubt man auch, Polen ungestraft schädigen
2 2 Poniatowski 3 3 1
zu können. Besonders im gegenwärtigen Augenblick,
da es entschieden ist, dass das neue Korps von 3o ooo
Mann mit jener Armee in Preussen vereint werden
soll, um endlich die durch die Konvention mit dem
Wiener Hof stipulierte Zahl von 80000 aufzufüllen,
kann man wetten, dass man Preussen nicht verlassen
wird, bevor die 3oooo Mann angelangt sind. Gott
weiss, wann das zu erwarten ist. Da ich also von
Esterhazy wenig oder fast gar nicht unterstützt werde
(denn er hat erklärt, das Verlangen nach Danzig sei
die gerechteste Sache der Welt, und die Art, wie es
bewerkstelligt werde, durchaus vernünftig) und da
ich von PHöpital sogar grausam verspottet werde,
der alles dem einen Wunsche opfert, diesem Hof zu
gefallen, den er beherrschen will, — sehe ich wirk-
lich nur den einen Ausweg, dass der König an die
Kaiserin selbst einen Brief schreibt, worin er darlegt:
welchen Gefahren Polen und seine eigene geheiligte
Person ausgesetzt sein wird, wenn er nicht einmal
mehr in Warschau selbst sicher ist; dass Danzig so-
wohl wie auch Elbing für die Russen von keinerlei
Nutzen sein können in Anbetracht der Entfernung
des Feindes von dieser Gegend; wie nichtswürdig und
unrechtmässig dieser Schritt ist und welche notwen-
digen Folgen er im Königreich zeitigen muss; haupt-
sächlich aber und als geeignetstes Mittel, um all die-
sen eingebildeten Gefahren vorzubeugen, gegen die
man so viele Vorsichtsmassnahmen ergreift, und zu-
gleich auch als nützlichstes Mittel für die gemein-
same Sache und für die Befreiung Sachsens im be-
sonderen muss der König vorschlagen, die Armee
Fermors solle so rasch als möglich ins Herz der
Staaten des Königs von Preussen vordringen, be-
338
vor dieser Zeit findet, eine besondeie Armee gegen
die Russen aufzustellen.
„Soeben erhalte ich die beifolgende neue Note in
französischer Sprache, worin gesagt wird, der Ma-
gistrat von Danzig habe bereits beschlossen, die rus-
sischen Truppen in der Stadt zu empfangen. Was das
Verlangen betrifft, ich solle, um Zeit zu gewinnen,
direkt an den Residenten des Königs in dieser Stadt
schreiben, so werden Ew. Exzellenz es sicherlich für
gut befinden, dass ich es nicht getan, und ich bin in
der Tat sogar überrascht, dass man überhaupt daran
denken konnte, mich zu einem solchen Schritte ver-
anlassen zu wollen.
„Apraxin soll heute Nacht in einem wenige Werst
von hier entfernten Landhaus eintreffen, Monsieur
de lHöpital hat mir diese Nachricht überbracht und
ich übermittle sie als von ihm stammend. Er über-
schüttet den Herrn Starosten von Warschau mit
Zärtlichkeiten, ich wünschte, sie wären aufrichtig."
Brief an denselben vom 3i. März 1768.
„In Beantwortung des Briefes, mit dem Ew. Ex-
zellenz mich am 20. d. M. beehrt haben, teile ich
mit, dass der Herr Vizekanzler sich bereits den
Vorstellungen wegen Sequestration der Güter jener
Preussen, die ausser Landes sind und gegen Russ-
land und dessen Alliierten dienen, geneigt gezeigt
hat; ich werde diesen Anschein der Bereitwilligkeit
ausnützen und morgen nochmals mit ihm darüber
sprechen, da dieser Tag für die Audienzen der aus-
ländischen Minister festgesetzt ist, und ich werde ihm
die berechtigten Befürchtungen darlegen, die man
für die Diener des Königs, unseres Herren, hegt, nicht
22* 33g
nur für jene, die sich augenblicklich in seiner Umge-
bung befinden, sondern auch für so viele andere säch-
sische Untertanen, die sich ausser Landes begeben ha-
ben, um so mehr als Nachrichten verlauten, man wolle
sogar Besitzungen der preussischen Minister konfis-
zieren und ihre Möbel und Effekten versteigern.
„Ich hoffe, dass es mir endlich wieder möglich sein
wird, auszugehen ohne meiner Gesundheit zu scha-
den, obgleich mein letzter Versuch, den ich unter-
nahm, um den Herrn Starosten von Warschau vorzu-
stellen, mir sehr schlecht bekommen ist. Bei dieser
Gelegenheit kann ich es mir nicht versagen, Ew. Ex-
zellenz zu einem solchen Sohne zu beglückwünschen.
Es scheint mir unmöglich, dass jemand aus seinen
Reisen und hauptsächlich aus einer Kampagne besse-
ren Nutzen ziehen könnte als er.
„ Es wäre äusserst betrüblich, sollte sich die Nach-
richt vom Einfall der Preussen in Gross-Polen bewahr-
heiten. Ich werde nicht ermangeln, es dem Herrn
Vizekanzler mitzuteilen, zugleich mit allem, was über
die Vorbereitungen des Königs von Preussen verlau-
tet, zwecks Ansammlung verschiedener Korps seiner
Truppen sowohl in Schlesien, an den Grenzen von
Polen, wie auch in Pommern. Sollte das neue Trak-
tat dieses Fürsten mit England — von dem Esterhazy
nichts zu wissen behauptet — wirklich existieren, so
sind, wie ich in meiner Depesche vom 24. v. M. Ew.
Exzellenz mitzuteilen die Ehre hatte, von seiten Russ-
lands bereits Gegenmassnahmen ergriffen worden,
durch einen Vorschlag an Schweden betreffs Verei-
nigung seiner Eskader mit jener dieses Reiches. Zur
Ratifikation des Beitritts Schwedens zur grossen Al-
lianz fehlt nur noch die Unterschrift der Kaiserin.
34o
„Dem Grafen Esterhazy wurde eine schriftliche Ant-
wort zuteil auf die Resolution seines Hofes bezüglich
des neuen Hilfskorps von 3oooo Mann. Man gibt die
Zustimmung zu einer Vereinigung mit der Armee
Fermor; sobald dieser General all seine Truppen bei-
sammen haben wird, soll er mit 5o — 60000 Mann
losmarschieren, um sich, gemäss dem Wiener Projekt,
zwischen Warthe und Netze aufzustellen, den Rest
wird er nach Pommern senden, wohin auch alle Ga-
leeren geschickt werden sollen. Im übrigen verlangt
man hier nunmehr weder Lieferung von Subsistenz-
mitteln für die Armee noch irgend eine Geldhilfe und
insbesondere tritt die Kaiserin auch von dem frühe-
ren Vorschlag einer Zahlung von 5ooooo Taler zu-
rück, die sie, wenn sie hierzu in der Lage wäre,
der Kaiserin und Königin sogar am liebsten selbst
anbieten würde. Zum Schluss bemerkt man jedoch,
die Kaiserin und Königin werde wohl auch nicht
darauf bestehen, dass man in ihrem Namen von den
deutschen Provinzen des Königs von Preussen Besitz
ergreife, die die Russen erobern werden, da die Kai-
serin von Russland nicht mehr als Hilfskraft ange-
sehen zu werden wünscht, sondern als kriegführende
Partei, und dies infolge einer Deklaration, die der
König von Preussen kürzlich veröffentlicht haben soll
und die als Kriegserklärung angesehen werden muss.
„Da der Zeremonienmeister Monsieur Olsuwjef
nach Narwa abgereist ist, um Seine Hoheit den Prin-
zen Karl zu erwarten, so halte ich mich bereit, S. K.
Hoheit entgegenzureisen, — falls meine Gesundheit
es mir gestattet — sobald wir die Nachricht von sei-
ner bevorstehenden Ankunft erhalten. Alle Vorbe-
reitungen zu seinem Empfang sind nunmehr getrof-
34i
fen und man ist hier wegen seiner Ankunft nicht
mehr in Sorge; jedoch wäre es für den Prinzen selbst
am angenehmsten, wenn er zu dem vom Kammer-
herrn Schuwalow angegebenen Zeitpunkt hier an-
käme. Er würde dadurch der unaussprechlichen
Langweile der hiesigen Fastenzeit teilweise aus dem
Wege gehen, deren Zwang sogar die Kaiserin sich
unterwerfen muss.
„Das ganze Zeremoniell ist bereits festgelegt und
soll für den Prinzen sehr vorteilhaft sein, aber die
Ambassadeurs, besonders Marquis de l'Hopital, reden
beständig von der vollständigen Gleichberechtigung
und behaupten, sie könnten von keinem ihrer Rechte
zugunsten des Prinzen — einem Sohne des Königs
von Polen und Kurfürsten von Sachsen — zurück-
treten, ohne eine Rüge ihres Hofes zu riskieren, da-
gegen wären sie vor dem Grafen von der Lausitz in
gar mancher Beziehung zurückgetreten (weil dies
keine Konsequenzen nach sich ziehen würde), hätte
der Prinz sich diesen Namen zugelegt."
. Brief an denselben vom 4- April 1758.
„Es betrübt mich aufs äusserste, dass ich nicht in
der Lage bin, Ew. Exzellenz gute Nachrichten be-
treffs der Sequestration des Eigentums jener Preus-
sen zu geben, die sich ausser Landes begeben haben.
Da mein Zustand es mir am Samstag nicht gestattete
auszugehen, so habe ich Herrn Ogrodzki beauftragt,
mit dem Vizekanzler darüber zu sprechen; dieser hat
in jeder Weise die Richtigkeit der Meldung geleug-
net, die Ew. Exzellenz aus Königsberg erhalten ha-
ben, dass man dort sogar die Besitzungen der abwe-
senden preussischen Minister konfiszieren und ihre
342
Möbel und Effekten versteigern will, denn es sei nie-
mals ein solcher Befehl ergangen; was jedoch die Se-
questration betrifft, so sagte er, man könnte hiervon
nicht abstehen und wäre im Recht, dies zu tun, denn
diese Minister hätten ihre Posten feige verlassen und
wären feige geflohen; zwischen ihnen und jenen, die
dem Könige, unserem Herren, dienen, sei ein grosser
unterschied und der König von Preussen werde kei-
nen Grund haben, deshalb in Sachsen Repressalien
anzuwenden. Worauf ihm vorgestellt wurde, dass
dieser Fürst keinen Unterschied machen würde,
weil der geringste Vorwand ihm genügt, um die un-
glücklichen und unschuldigen Sachsen durch neue
Steuern völlig zu Boden zu drücken, — als Beweis
hierfür die Zahlung, die er von Dresden für Halber-
stadt fordert — und dass sogar bereits verlautet, er
habe die Güter Ew. Exzellenz dem General Finken-
stein gegeben, dem Kommandanten von Dresden,
und zwar ausdrücklich als Folge der Sequestrationen
in Preussen; hierauf wurde die Antwort zuteil, dage-
gen wäre nichts zu machen. Herr Ogrodzki erwiderte,
wir hofften, es wäre doch noch etwas zu machen,
und der Artikel der Kapitulation von Königsberg
könnte redressiert werden; Herr Prasse hat uns näm-
lich mitgeteilt, dass, als er mit dem Vizekanzler dar-
über sprach, dieser seinen Vorstellungen anscheinend
zugänglich war; doch ist auch dies wie alles andere
ohne Wirkung geblieben.
„Auf die Nachricht vom Einfall der Preussen in
Gross-Polen sagte er, mau habe soeben durch eine
Stafette Briefe von General Fermor erhalten, die be-
sagten, dies sei ein blinder Lärm; was jene Massnah-
men des Königs von Preussen zwecks Zusammenzie-
343
hung verschiedener Truppenkorps betreffe, so könne
er sie mit seinen Kräften gar nicht durchführen, und
er prahle hiermit einzig und allein, um die Gemüter
in Polen einzuschüchtern.
„Die Meldung eines neuen Traktats des Königs
von Preussen mit England hielt er für verfrüht ; man
wisse, dass dieser Fürst sich in keiner Weise enga-
gieren wolle, alle Geldsubsidien ablehne und nur ver-
lange, dass ein Korps englischer Truppen nach
Deutschland geschickt werde, wogegen das britische
Ministerium opponiere; General Yorke1) sei vom
Haag nach London berufen, weil man beabsichtige,
ihn zum König von Preussen zu schicken ; im übrigen
habe man Massnahmen ergriffen für den Fall, dass
England eine Eskader in die Ostsee schicken sollte."
Brief an denselben vom 7. April 1758.
„Ich erhielt gestern, fast gleichzeitig, die beiden
Briefe Ew. Exzellenz vom 27. und 29. v. M., den er-
sten durch die Post, den zweiten durch den Kurier
des französischen Gesandten, der vorerst mit seinen
Depeschen ausserordentlich beschäftigt zu sein schien,
da sie zum grossen Teil chiffriert waren. Er ist zuerst
zum Grafen Esterhazy gegangen und hat mit ihm
beinahe eine ganze Stunde gesprochen, hernach be-
gab er sich zum Vizekanzler, mit dem er eine sehr
lange Konferenz hatte. Was darüber verlautet und
was die Kavaliere der französischen Gesandtschaft
mitzuteilen geruht haben beschränkt sich darauf,
dass der französische Hof diesen Kurier mit einer sehr
*) Josef Yorke, der Sohn Lord Hardwicks, von dem im ersten
Buch bereits die Rede war. Anm. d. Herausg.
344
entschiedenen Erklärung bezüglich des Rückzugs
ihrer Armee aus dem Kurfürstentum Hannover her-
gesandt hat, um zu versichern, dies dürfte durchaus
nicht als Abfall angesehen werden, sondern wäre le-
diglich eine Vorsichtsmassnahme, die getroffen wurde,
um neue Kraft zu sammeln.
„Eine Stafette, die gestern beim Grafen Esterhazy
ankam, überbrachte ihm die Nachricht, dass die Lauf-
gräben vor Schweidnitz bereits am 17. v. M. aufge-
worfen waren. Aus seinen Reden und den Reden sei-
ner Hausgenossen zu schliessen, scheint diese Festung
sogar bereits gefallen zu sein; denn sie betonen im-
mer wieder, es sei besser, eine schlechte Festung zu
verlieren, als eine Schlacht zu wagen, um sie zu
retten J). Wir könnten über die Neuigkeiten von aus-
sen bedeutend besser unterrichtet sein, wenn es Ew.
Exzellenz belieben würde anzuordnen, dass sie uns
mitgeteilt werden sollen. Denn FHöpital sagt mir fast
nie etwas, und der Wiener Hof ist gegen seinen Ge-
sandten hinsichtlich militärischer Neuigkeiten äus-
serst lakonisch.
„Die Unterschrift der Ratifikation des Beitritts
Schwedens wird hier noch immer hingezogen. Apra-
xin befindet sich noch immer in dem gleichen Land-
haus auf halbem Wege von hier nach Zarskoje Sielo."
Brief an denselben vom 14. April 1758.
„Der Brief, mit dem Ew. Exzellenz mich am 3o.
v. M. beehrten, wurde mir durch die gestrige Post
zugestellt; da er keine Antwort erfordert, gehe ich
sogleich zu den Informationen betreffend Seine Ho-
*) Schweidnitz wurde im April 1758 von den Preussen zu-
rückerobert. Anm. d. Ilerausg.
345
heit den Prinzen Karl seit seiner Ankunft hier am
Orte über.
„Um dem vorgeschriebenen Zeremoniell zu genü-
gen, hat S. K. Hoheit, kurz nach seiner Ankunft, den
Herrn Grafen Einsiedel 1) zum Herrn Vizekanzler und
den Herrn Generalmajor de la Chinal2) zum Herrn
Grafen Alexander Schuwalow gesandt. Nach ihrer
Rückkehr kam der Herr Kammerherr Iwan Iwano-
witsch Schuwalow seitens der Kaiserin ; Seine Hoheit
der Grossfürst wie auch Ihre Hoheit die Grossfürstin
Hessen den Prinzen durch ihren Hofmarschall Mon-
sieur Golowkine begrüssen. Auch der Herr Vizekanz-
ler kam am selben Tage und teilte dem Prinzen mit,
I. K. Majestät werde ihn wissen lassen, wann sie ihm
Audienz gewähren könne, augenblicklich leide sie an
einer kleinen Unpässlichkeit am Auge.
„ Am darauffolgenden Tage, dem 1 2. d. M., statte-
ten die beiden Ambassadeurs dem Prinzen gemeinsam
ihren Besuch ab; er empfing sie ohne irgendwelche
Zeremonien und unterhielt sich stehend mit ihnen
ungefähr eine halbe Stunde. Am Abend vorher bin
ich beim Grafen Esterhazy gewesen, wo ich den Mar-
quis de l'Höpital antraf; gesprächsweise teilte ich
ihnen mit, — wie ich es mit dem kaiserlichen Ge-
sandten vereinbart hatte — dass der Prinz angekom-
men war und sich freuen würde, sie zu begrüssen;
der französische Ambassadeur hielt mir darauf eine
*) Graf Johann Georg Friedrich Einsiedel (iy3o — 181 1),
Kammerherr, zuletzt Kabinettsminister des Königreichs Sach-
sen.
2) Generalmajor Georg de la Chinal wurde später zum Re-
sidenten des Prinzen Karl in Petersburg ernannt (1759 bis
1762). Anm. d. Herausg.
346
weitschweifige Rede, worin er behauptete, es sei nö-
tig, dass der Prinz ihnen dies formell mitteile; aber
schliesslich blieb es dabei; jetzt regen sie sich dar-
über auf, dass der Prinz ihren Besuch noch nicht er-
widert hat; aber er kann es nicht tun, ehe er nicht
die Kaiserin gesehen hat, und aus diesem Grunde hat
er beim Herrn Vizekanzler nochmals um seine Au-
dienz nachgesucht oder um die Erlaubnis I. K. Maje-
stät, inzwischen die Gesandten und andere Privat-
personen aufzusuchen, die ihm gemäss den Vorschrif-
ten des Zeremoniells ihren Besuch bereits abgestattet
haben. Den Ministern zweiten Ranges wurde keine
Mitteilung gemacht; die Minister von Schweden und
Dänemark haben ohnedies bereits gestern ihren Be-
such abgestattet.
„Da die Infanterie-Kompagnie, die beim Prinzen
die Wache bezieht, keine Fahne hat und die Trom-
mel nicht gerührt wurde, als S. K. Hoheit ankam,
sind hierüber dem Herrn Vizekanzler Vorhaltungen
gemacht worden, jedoch erfolglos. Betreffs einiger
anderer strittiger Punkte des Zeremoniells, wie z. B.
betreffs der öffentlichen Soupers an grossen Gala-
tagen, hat dieser Minister mir gesagt, dass der Prinz
und die Gesandten um den Platz bei Tische losen
werden; was den Ball betrifft, so hofft man S. K. Ho-
heit durch den Ausweg zufriedenzustellen, dass er,
um jeder Auseinandersetzung mit den Gesandten aus
dem Wege zu gehen, erst zu kommen braucht, wenn
der Tanz bereits begonnen hat; da ich ihm aber vor-
stellte, dass der Prinz sich hiermit durchaus nicht zu-
frieden geben könne und, ganz im Gegenteil, diesen
Ausweg als für ihn sehr ungünstig ansehen müsse,
weil er also hinter den Gesandten rangiere, so erwi-
347
derte er, man werde mit ihnen darüber sprechen,
das Zeremoniell sei ihnen bereits mitgeteilt, man
könne nichts daran ändern, ohne sie vorher zu be-
nachrichtigen, und man müsse abwarten, was sie da-
zu sagten. Was die Besuche des Prinzen bei den Per-
sönlichkeiten ersten und zweiten Ranges anlangt, so
wird S. K. Hoheit sie einigen abstatten, bei anderen
sich jedoch hiervon dispensieren.
„Übrigens ist die Unpässlichkeit der Kaiserin nicht
derart, wie man es angegeben, sondern ein recht bö-
ser Unfall; einige der hierbei Anwesenden wurden
sogar zu Tränen gerührt.
„S. K. Hoheit der Prinz hat mir den Brief Ew.
Exzellenz gezeigt; er hat sowohl zum Herrn Vize-
kanzler wie auch zum Herrn Kammerherrn Schuwa-
low viel über die neuen Bedrückungen des Königs
von Preussen in Sachsen gesprochen und über die
Schmach, die er der königlichen Familie fortgesetzt
antut. Sie haben versprochen, es der Kaiserin in den
lebhaftesten Farben vorzustellen.
„Bei meinen Unterredungen mit dem Vizekanzler
gab dieser mir zu verstehen, man würde den Prinzen
gerne bis zum Monat Juni hier festhalten; als ich ihm
sagte, dies sei ein recht ferner Zeitpunkt und S. K.
Hoheit verzehre sich vor Ungeduld, so bald als mög-
lich bei der Armee einzutreffen, da S. K. Hoheit
annehme, die Truppen würden nicht mehr lange
müssig bleiben, so erwiderte er mir, er wage nicht
einmal mit der Kaiserin über die Kriegsoperationen
zu sprechen, denn ihre Güte und Menschlichkeit
fühle sich durch das sie begleitende Unheil schmerz-
lich berührt und sobald sie erfahre, dass einige hun-
dert Menschen getötet wurden, sei sie aufs schmerz-
348
lichste betroffen. Ich setzte meine Fragen fort und
wollte wissen, ob Fermor noch vor Vereinigung mit
dem Korps der 3oooo Mann handeln würde? Er gab
ausweichende Antworten, sagte weder ja noch nein,
aber schliesslich musste er doch gestehen, dass man
nichts unternehmen werde, ehe man nicht durch die
Ankunft dieses neuen Korps über genügend Kräfte
verfüge.
„Das Los des früheren Kanzlers ist noch nicht ent-
schieden; jedoch sagt man, die Entscheidung werde
bald fallen, und zwar in einer für ihn ziemlich gün-
stigen Weise, obgleich er sich ziemlich geschadet hat,
indem er die Angelegenheit Stambkes leugnete, als
man ihn fragte, ob er an der Verleihung des weissen
Adlerordens an letzteren teilgenommen hätte. Diese
Bagatelle wäre ihm beinahe teuer zu stehen gekom-
men."
Brief an denselben vom 19. April 1758.
„Seit der Audienz am Sonntag hat der Prinz bis-
her noch keine Einladung zu Hofe erhalten; am
gleichen Tage ist er zu den beiden Ambassadeurs und
zum Vizekanzler gegangen, aber man war so zuvor-
kommend, ihm die Mühe zu ersparen, aus der Ka-
rosseauszusteigen, und Hess sagen, man wäre nicht an-
wesend; als der Vizekanzler mit mir hierüber sprach,
erklärte er mir, er wüsste die Ehre, die der Prinz
ihm erwiesen, sehr wohl zu schätzen, wäre jedoch
nicht in der Lage gewesen, ihn in seinem Hause zu
empfangen, jedoch würde er sich die Freiheit neh-
men, S. K. Hoheit zu sich zum Diner zu bitten. An
den beiden darauffolgenden Tagen hat der Prinz noch
einige andere Besuche gemacht.
349
„Graf Esterhazy hat mich voller Eifer gefragt,
wann die geeignetste Zeit sei, um S. K. Hoheit die
Cour zu machen, denn er wünsche den Prinzen mög-
lichst oft zu sehen, um ihm seinen Respekt zu be-
zeugen, und er ist auch gleich gestern gekommen.
„Obwohl ich keinen Zweifel hege, dass Ew. Exzel-
lenz aufs genaueste über alle Umstände des Aufent-
halts S. K. Hoheit am hiesigen Orte informiert wer-
den, darf ich es dennoch nicht unterlassen, den pein-
lichen Zwischenfall zu vermerken, der bei der ersten
Ausfahrt S. K. Hoheit, um sich an den Hof zu bege-
ben, unterlaufen ist. Es war Vorschrift, dass Kammer-
herr Tschernischew und Kammerjunker Buturlin,
die von der Kaiserin zur Begleitung des Prinzen be-
stimmt wurden, mit ihm in der gleichen Karosse Platz
nehmen sollten; es gab hierüber keine Meinungs-
verschiedenheit, weil angenommen wurde, dass der
Prinz allein im Fond sitzen würde und die beiden
Kavaliere auf dem Rücksitz; da jedoch Monsieur de
Tschernischew unbedingt neben dem Prinzen sitzen
wollte und dieser es nicht für angebracht hielt, ihm
den Gefallen zu versagen, so musste der vierte Platz
auf dem Rücksitz besetzt werden, und S. K. Hoheit
bestimmte den Generalmajor de la Chinal. Darauf-
hin waren der Fürst- Woiwode von Lublin *) und der
Herr Kronsekretär2) der Ansicht, dies bedeute eine
Bevorzugung, und sie wollten nicht mit zu Hofe ge-
hen und lieber ein andermal, allein, als ausländische
Reisende vorgestellt werden, als Monsieur de la Chinal
mit dem Prinzen in einer Karosse zu sehen, indes
a) Anton Lubomirski (171 9 — '782), Hofmarschall des Prin-
zen Karl.
2) Franz Rzewuski. Anm. d. Herausg.
35o
sie in einer zweiten folgen sollten. Sie liessen sich je-
doch bald beschwichtigen als man ihnen erklärte,
dass der vierte Platz in der prinzlichen Karosse, nach
den Herren Tschernischew und Buturlin, durchaus
kein Ehrenplatz wäre und weder eines Fürst- Woi-
woden noch des Herrn Kronsekretärs würdig, und
Monsieur de la Ghinal wäre hierzu nur als erster Die-
ner des Prinzen ausersehen worden, um das Loch zu
stopfen, weil es besser war, den Platz zu besetzen, als
Herrn Tschernischew neben S. K. Hoheit im Fond
und Herrn Buturlin allein auf den Rücksitz zu setzen ;
dies wäre also durchaus nicht der Beweis einer Be-
vorzugung und täte diesen beiden Seigneurs keinen
Abbruch, denn sie würden unmittelbar nach dem
Prinzen den Hof betreten und als erste durch ihn
vorgestellt werden. Übrigens ist es eine Distinktion,
dass man S. K. Hoheit mit seinem ganzen Gefolge
empfangen hat; denn die Ambassadeurs begeben sich
für gewöhnlich allein zur ersten Audienz und die
Mitglieder der Gesandtschaft werden erst bei einer
öffentlichen Assemblee an einein Hoftage vorgestellt.
„Der Prinz amüsiert sich zu Hause so gut es geht,
von Zeit zu Zeit gibt es Musik, da die Musikanten
der Kaiserin hierzu befohlen sind. Gestern zeigte man
S. K. Hoheit die Elefanten; man führte sie in den
Hof des Hauses, dessen Besitzer, der Herr Kammer-
herr Schuwalow, mit S. K. Hoheit dinierte.
„Die Ratifikationen des Beitritts Schwedens zur
grossen Allianz, die in vergangener Woche von der
Kaiserin unterzeichnet wurden, sind vorgestern aus-
gewechselt worden; aber man stiess noch auf Hin-
dernisse, denn Schweden hatte nur ein Exemplar ge-
schickt, anstatt der drei erforderlichen, und auf jenen
35i
Frankreichs stand durch ein Versehen der Kanzlei
Russland in allen dreien an erster Stelle. Der Ge-
sandte Frankreichs schickt morgen seinen Neffen, den
Baron de FHöpital, nach Frankreich, um dem dorti-
gen Hofe das ihm zukommende Exemplar zu über-
bringen.
„Baron Stambke ist gestern nach Holstein abge-
reist, wo man ihm seinen Platz im Conseil nicht ent-
zogen hat; S. K. Hoheit der Grossfürst hat ihm sein
Wohlwollen bezeugt, als er sich von ihm verabschie-
dete. Es ist noch un gewiss, ob Herr Westphal an
seine Stelle kommen wird, man glaubt, er werde aus
Rücksicht auf sein Alter ablehnen. Inzwischen erle-
digt Herr Brockdorf die Angelegenheiten, aber er
wiederholt stets, dass auch er nicht lange hier blei-
ben werde, dass er sich zurückziehen wolle, jedoch
nicht nach Holstein. Solange Stambke sein Haus
nicht verlassen durfte, ging er ihn oft besuchen und
hörte nicht auf ihm zu sagen : quod tibi hodie, mihi
aas; dies ist zum Teil mit Ursache, dass Stambke
nicht härter behandelt wurde; obgleich seine Frau
eine Nichte Brockdorfs ist, haben sie sich nie verstan-
den; jedoch hat sich der Onkel mit dem Triumph be-
gnügt, die Entfernung Stambkes bewirkt zu haben,
ohne ihm grösseres Übel zuzufügen.
„Bestuschews Angelegenheit ist noch immer un-
entschieden; man hat mir gesagt, er habe bei sei-
nem Tischler zwei Reisebetten bestellt; das würde be-
deuten, dass er mit der Abreise von hier rechnet,
dass es jedoch nicht nach Sibirien gehen wird, denn
die Reisen, die man Staatsverbrecher nach jenem
Lande unternehmen lässt, gehen nicht mit solchen
Bequemlichkeiten vonstatten."
352
Grossfürst Peter
(von Rotari um iy58)
(Original im Herzogl. Anhalt. Schlosse Zerbst)
SIEBENTES KAPITEL
BRIEF AN DEN GRAFEN BRÜHL VOM 21. APRIL.
DER AUSTAUSCH VON OSTFRIESLAND UNMÖG-
LICH. GEHEIME FELDZUGSPLÄNE. — BBIEF AN
BRÜHL VOM 22. APRIL. MILITÄRISCHE MASSNAH-
MEN UND PROJEKTE. ANKUNFT DES TÜRKISCHEN
GESANDTEN. — BRIEF AK BRÜHL VOM 25. APRIL.
ERHÖHUNG DES RUBELKUBSES AUF 19 SZOSTAKS.
EINE KAMMERFRAU DER GROSSFÜRSTIN WIRD
ARRETIERT. EINE UNTERREDUNG MIT DER KAI-
SERIN SOLL ALLES IN ORDNUNG BBINGEN. —
BRIEF AN BRÜHL VOM 28. APRIL. DIE RUSSEN
BBAUCHEN DIE SÄCHSISCHE KAVALLERIE. DAN-
ZIG. MIR WIRD EIN URLAUB BEWILLIGT. ICH ER-
BITTE DAS AMT EINES LANDBOTEN VON LI VLAND.
ICH BEDANKE MICH FÜR EINEN WECHSEL ÜBEB
4ooo BUBEL. — BRIEF AN BBÜHL VOM 2. MAI.
SÄCHSISCHE KAVALLEBIE SOLL ZUR RUSSISCHEN
ARMEE STOSSEN. DANZIG SOLL NICHT MIT GE-
WALT EINGENOMMEN WERDEN. DER KÖNIG SOLL
SELBST AN ELISABETH SCHBEIBEN. DIE DANZI-
GER SOLLEN AUFDER ABLEHNUNG EINER GAR-
NISON BESTEHIiN. ANKAUF VON PFERDEN IN
PREUSSEN. VERZÖGERUNG DER BEZAHLUNG DES
IN POLEN ANGEKAUFTEN GETREIDES. LOB DES
PRINZEN KARL. ELISABETH BESCHENKT IHN. —
BBIEF AN RRÜHL VOM 5. MAI. DANZIG KÖNNTE
EINE POLNISCHEGARNTSON ERHALTEN,UM KEINE
ANDERE AUFNEHMEN ZU MÜSSEN. VERSUCH,
BBOCKDORF DAS BLAUE BAND DES POLNISCHEN
ORDENS ZUKOMMEN ZU LASSEN. — BRIEF AN
BBÜHL VOM 9. MAI. VERSÖHNUNG DER GENE-
RÄLE FERMOR UND BROWNE. KÜSTRIN SOLL
NICHT BELAGERT WERDEN. STATT DES ORDENS
SOLL BROCKDORF EINE PENSION ERHALTEN.
Brief an den Grafen Brühl vom 21, April 1758.
Zwei Stunden, nachdem ich dem Grafen Ester-
hazy den Brief gesandt, den ich vorgestern an
Ew. Exzellenz zu schreiben die Ehre hatte und der
durch seinen Kurier befördert werden sollte, erhielt
ich Ihren Brief vom 7. durch den Kurier, der beim
Marquis de lHöpital eintraf; die Post, die heute von
Riga ankam, hat mir jedoch kein Schreiben von Ew.
Exzellenz überbracht, die Warschauer Post scheint
sich infolge der schlechten Wege verspätet zu haben.
„Wenn die Absicht des Wiener Hofes, dem Gross-
fürsten Ostfriesland anzubieten, von den Verhand-
lungen über den Austausch von Schleswig abhing,
wodurch dieses Angebot ungewiss und in weite
Ferne gerückt wurde, so steht es jetzt damit noch
viel schlimmer, da die Preussen einen Teil dieser
Provinz zurückgewonnen und die Franzosen sie auf-
gegeben haben. Der Hof von Versailles hatte es sei-
nerseits dem König von Dänemark angeboten, um
diesem Fürsten ein Objekt in die Hand zu geben,
womit er den Grossfürsten hätte zufrieden stellen
können, indem er ihn durch dieses Lockmittel dort-
hin brächte, wo er ihn haben wollte. Durch die ver-
änderten Umstände sind jedoch all diese Pläne hin-
fällig geworden; Esterhazy denkt nicht mehr daran,
354
da er überzeugt ist, dass die Franzosen nicht im-
stande sein werden, während dieser Kampagne dem
Haus Österreich noch grosse Dienste zu leisten.
„Man hat hier einen Operationsplan entworfen, der
dem Könige durch die russischen Minister an seinem
Hofe direkt übermittelt werden soll. Man hat mir
keine Kenntnis davon gegeben, aber ich habe im ge-
heimen erfahren, dass er in folgendem besteht: Ge-
neral Fermor hat Befehl erhalten, i5 — 17000 Mann
von seiner Armee abzuzweigen und sie unverzüglich
vorzuschicken, um jenen berühmten Posten zwischen
Warthe und Netze einzunehmen, sich dort zu befesti-
gen und die Ankunft der übrigen Truppen abzuwar-
ten. Neben dieser Ordre eine Anfrage an denselben
General, er solle seine Meinung über den weiteren
Verlauf der Operationen äussern, was hinwieder eini-
germassen befürchten lässt, er könnte die Ausführung
für zu schwierig oder sogar für unmöglich haken, ob-
gleich der Befehl ganz ausdrücklich und sehr dring-
lich sein muss, weil er den guten Willen dieses Hofes
markieren soll und seine Bereitschaft, rasch und
energisch zu handeln. Im übrigen wird hier aus die-
ser Anordnung ein solches Geheimnis gemacht, dass
man sogar den Grafen Esterhazy inständigst gebeten
hat, dem Grafen Sternberg nichts hiervon zu schrei-
ben.
„S. Hoheit Prinz Karl macht täglich einige Besuche,
jedoch ohne sich die Mühe nehmen zu müssen, seine
Karosse zu verlassen, mit Ausnahme von zwei oder
drei Häusern, unter anderen beim Herrn Vizekanz-
ler, wo er gestern an einer Quadrille teilgenommen
hat. Nach Ostern wird es, wie verlautet, viele Fest-
lichkeiten und Bälle geben, abgesehen von den bei-
23* 355
den Galatagen, von denen der eine auf den 21. a. St.,
den Geburtstag der Grossfürstin, und der zweite auf
den 2 5., den Jahrestag der Krönung I. K. Majestät
fällt."
Brief an denselben vom 22. April 1758.
„Obgleich ich die Ehre hatte, Ew. Exzellenz ge-
stern durch die gewöhnliche Post zu schreiben, er-
greife ich, da der Herr Ambassadeur von Frankreich
mir mitgeteilt hat, dass sein Neffe heute abreisen
wird, diese Gelegenheit, um Ihnen zu berichten, was
ich beim Herrn Vizekanzler erfahren habe, als ich
ihm heute vormittag meinen gewöhnlichen Minister-
besuch abstattete.
„Die letzten Nachrichten von General Tscherni-
schew waren, er werde unverzüglich mit IOOOO
Mann aus Wilno ausmarschieren, um 20 OOO anderen
Platz zu machen, von denen er mir jedoch nicht sa-
gen konnte, wo sie sich augenblicklich befänden,
General Romanzow rekrutiere, reformiere und exer-
ziere die Überreste ihrer Kavallerie in Stolp und an
einem anderen Orte in Litauen, an dessen Namen er
sich nicht mehr entsinnen könne. General Fermor
habe bereits bei Marienwerder eine Brücke über die
Weichsel schlagen lassen, um die Armee überzu-
setzen; diese soll — so versicherte er mir — 59000
Mann stark sein, abgesehen von dem Observations-
korps; das muss den König von Preussen in die
schlimmste Verlegenheit setzen, falls man nur mit
etwas Energie vorgeht, wie zu erhoffen ist.
„Der Herr Vizekanzler glaubt nicht, dass Eng-
land ernsthaft daran denkt, eine Eskader in die Ost-
see zu entsenden, dies könne auch nicht der Zweck
356
des Auslaufens der Flotte General Hawkes sein, denn
keiner ihrer Minister habe es ihnen berichtet, die
doch in der Lage seien, dies zu erfahren, und nicht
ermangeln würden, es ihrem Hofe sogleich mitzu-
teilen.
„Im übrigen wird in Kronstadt mit aller Anstren-
gung gearbeitet, »im die russische Flotte so rasch als
möglich instand zu setzen, die mit neunzehn Segeln
auslaufen soll. Die Regimenter Ingermanland und
Astrachan haben zum dritten Mal den Befehl erhal-
ten, marschbereit zu sein, man hat ihnen jedoch noch
nicht gesagt, wohin sie gehen werden, auch nicht ob
sie, wie man vermutete, auf den Galeeren eingeschifft
werden sollen.
„Der türkische Gesandte ist vor zwei Tagen im Klo-
ster St. Alexander Newski angekommen, einige Werst
von hier, und soll morgen in die Stadt einziehen."
Brief an denselben vom id. April 1768.
„Die gewöhnliche Post, die vorgestern hier ankom-
men sollte, ist erst heute angekommen, infolgedessen
kann ich erst heute den Empfang des Briefes bestäti-
gen, mit dem Ew. Exzellenz mich am 1 9. d. M. be-
ehrten und der sich mit der vorletzten Warschauer
Post verspätet hat.
„Ich werde nicht ermangeln, den Herrn Vizekanz-
ler auf den bedeutenden Schaden aufmerksam zu
machen, der Polen durch die beabsichtigte Änderung
des Rubelkurses erwachsen würde, das heisst wenn
man ihn von 6 Tymphen auf 19 Szostaks erhöhen
würde; und welcher Unterschied zwischen dem
eigentlichen Wert der Münzen der Republik und
jenen Brandenburgisch-Preussens besteht.
35,
„Seine Hoheit Prinz Karl hat bei der Kaiserin völ-
ligen Beifall gefunden, sie äussert sich sehr lobend
über ihn, S. K. Hoheit gewinnt alle Herzen und den
Beifall und Bespekt eines jeden. Ich habe gehört, —
kann es jedoch nicht mit Bestimmtheit versichern
— dass I. K. Majestät ihm ein Geschenk von 60 bis
80000 Bubel zu machen gedenkt. •
„Man hat mir auch gesagt, dass Bestuschews Sache
heute erledigt werden soll. Was ich mit einer gewis-
sen Bestimmtheit versichern kann ist, dass wrir in der
kommenden Woche wissen werden, was wir über
den Stand des hiesigen Hofes zu denken haben.
„Vor einigen Tagen ist eine Kammerfrau der Gross-
fürstin verhaftet worden; gestern hatte die Grossfür-
stin mit der Kaiserin eine sehr wichtige Unterredung,
welche, allem Anschein nach, sämtliche Angelegen-
heiten einer guten Lösung entgegenführen wird."
Brief an denselben vom 28. April 1758.
„Da ich soeben erst den Brief Ew. Exzellenz vom
17. d. M. erhalten habe, beantworte ich ihn in aller
Eile und behalte mir alles übrige für die nächste
Post vor.
„Es ist sozusagen unmöglich, von hier aus im Au-
genblick mehr Kavallerie zur Armee des Generals
Fermor zu schicken. Hier in der Residenz steht das
Reitergarderegiment und ein Kürassierregiment, in
der Ukraina gibt es einige Dragonerregimenter, diese
sind aber so fern, dass sie erst gegen Ende der Kam-
pagne ankommen könnten. Es ist daher sehr zu
wünschen, dass an der Bestimmung der sächsischen
Karabinier- und leichten Reiterregimenter, die der
russischen Armee angegliedert werden sollen, nichts
358
geändert werde, denn hier sind sie am nötigsten, in-
des die Österreicher ohnehin über genügend eigene
Kavallerie verfügen.
„Ich habe mich gestern beim Herrn Vizekanzler
nach Nachrichten von General Tschernischew erkun-
digt; er hat mir geantwortet, seit dessen letztem
Briefe aus Wilno sei nichts verlautet, auch nicht von
General Romanzow, von dem ich Ew. Exzellenz mit-
geteilt habe, dass er die Überreste der russischen Ka-
vallerie in Litauen reformiere und einexerziere, was
ein weiterer Beweis der Notwendigkeit einer Kaval-
lerie für sie ist und wie nützlich ihnen jene des Kö-
nigs sein würde.
„Was den Entschluss dieses Hofes anlangt, im
eigenen Namen von den in Deutschland eroberten
Provinzen des Königs von Preussen Besitz zu ergrei-
fen, so sehe ich kein anderes Mittel, als durch den
Grafen Flemming den Wiener Hof darauf aufmerk-
sam zu machen, falls diese Klausel, die in der Ant-
wort Russlands (über die Esterhazy sich so gefreut
hat) angefügt war, nicht bereits die Aufmerksamkeit
des österreichischen Ministeriums erweckt hat.
„Was Apraxin anlangt, so spricht man schon
nicht mehr über ihn, denn sein Los kann in keiner
Weise das Los Bestuschews beeinflussen, da es ausser
Zweifel steht, dass jener keinerlei Anteil an dem
schmachvollen Rückzug hatte, den der andere im
verflossenen Jahre mit seinen Truppen ausführte;
im Gegenteil, er hat am lautesten dawider gespro-
chen, obgleich er mit Apraxin befreundet war, denn
er stellte das öffentliche Wohl über seine persön-
lichen Beziehungen. Deshalb ist auch von dieser
Sache gar nicht mehr die Rede; Ew. Exzellenz sind
•359
die anderen Yorwände bekannt, die herangezogen
wurden, um diesen Minister zu stürzen.
„Bezüglich der Verhandlungen mit der Stadt Dan-
zig hat mir der Herr Vizekanzler gesagt, der russische
Resident sei beauftragt, dem Magistrat ein zweites
Memorial zu überreichen, und er hoffe, die Stadt
werde endlich auf seine Vorstellungen hin nachgeben.
„Als ich mir die Freiheit nahm, Ew. Exzellenz zu
schreiben, ich sei der Ansicht, dass ein Brief des
Königs an die Kaiserin das einzige Mittel wäre, wel-
ches bezüglich der Okkupation von Elbing und Thorn
noch eine Wirkung ausüben könnte, so war es meine
Überzeugung, die sich auch jetzt nicht geändert hat,
denn es steht fest, dass man an diesem Hofe nichts
erreicht, wenn man die Sachen nicht nachdrücklichst
vorstellt und betreibt; die persönlichen Briefe Ew.
Exzellenz an den Herrn Vizekanzler, die ich diesem
übermittelt habe, genügten nicht und hatten nicht
genug Autorität.
„Ich danke Ew. Exzellenz, dass Sie mir vom Kö-
nig die Erlaubnis erwirkt haben, mich nach Polen zu
begeben, um mich zum nächsten Reichstag als Land-
bote wählen zu lassen; ich werde gemäss dem Wil-
len Sr. Majestät im gegebenen Zeitpunkt von dieser
Erlaubnis Gebrauch machen; inzwischen bitte ich
Ew. Exzellenz inständigst, mir unter den livländi-
schen Landboten einen Platz zu sichern und mir hier-
über eine Antwort zuteil werden zu lassen.
„Des ferneren, da Sie mir nichts von dem Wech-
sel über 4000 Rubel geschrieben haben, der mir zu-
gegangen ist und den ich einzig und allein dem
Wohlwollen des Königs und Ihrem Eintreten für
mich verdanken zu müssen glaube, so bitte ich Sie,
36o
CA&03L375 Eil rSEO-^Ol^^IMi
LSÄX.=CUHL.€-t SEI
:3BB|
—
Karl, Herzog von Kurland, Sohn König Augusts III.
von Polen
Seiner Königlichen Majestät meinen untertänigsten
Dank zu Füssen zu legen, und den Dank, den ich Ihnen
schulde, freundlichst entgegennehmen zu wollen."
Briet' an denselben vom 2. Mai 1758.
„Ich habe Seiner Königlichen Hoheit mitgeteilt,
was Ew. Exzellenz mich am 17. d. M. wissen Hessen,
dass der Wiener Hof die Bestimmung der Verwen-
dung der sächsischen Kavallerieregimenter ändern
wolle in der Annahme, die grosse russische Armee
des Generals Fermor verfüge bereits über genügend
Kavallerie. S. K. Hoheit hat es für gut befunden, von
den beiden Ambassadeurs zu verlangen, dass sie nach
Wien schreiben, um diese Abänderung zu verhindern.
Graf Esterhazy, mit dem ich darüber gesprochen
habe, war über diese Nachricht um so mehr erstaunt,
als sein Hof ihm nichts bekannt gegeben und, ganz
im Gegenteil, Graf Kaunitz ihm sogar mitgeteilt
hatte, dass diese sächsische Kavallerie sich bereits auf
dem Marsche nach Polen befände. Er gab zu, dass es
eine falsche Massnahme wäre, wenn man sie der
russischen Armee entzöge, die ihrer notwendig be-
dürfe, sowohl wegen des schlechten Zustands ihrer
eigenen dort vorhandenen Kavallerie, als auch weil
man von hier aus keine Kavallerie hinschicken kann
und das Observationskorps nur aus Infanterie be-
steht; er will auch an seinen Hof schreiben, um die
Gründe und die Notwendigkeit des Festhaltens am
ursprünglichen Plan darzulegen.
„Was die Affäre von Danzig betrifft, die den Ge-
genstand des letzten Briefes Ew. Exzellenz bildet, so
habe ich mich zuerst zu den beiden Gesandten be-
geben, um ihnen die Details mitzuteilen. Marquis
36i
de THopital sprach sehr viel über die Grossherzigkeit
der Kaiserin, über die guten Absichten Russlands,
von dem man nicht annehmen dürfe, dass es Gewalt-
massnahmen plane, da es sich doch nur auf den Weg
der Unterhandlungen begeben wolle, die durch die
Garantien der alliierten Höfe unterstützt würden;
nach einer äusserst langen Rede konnte ich nichts
weiter aus ihm herausziehen, als dass er sich dem
Vorgehen Esterhazys anschliessen werde. Dieser sagte
mir, ohne so weitschweifig zu werden, der Resident
Russlands in Danzig, Monsieur Puschkin, habe einen
grossen Fehler begangen, als er bei Übergabe seines
Memorials an den Magistrat nicht auch die von der
Kaiserin unterzeichnete Deklaration vorwies, worin
— in Erwartung der Garantien der Höfe von Wien
und Versailles — aufs nachdrücklichste alle Befürch-
tungen zerstreut wurden, die bei den Bürgern der
Stadt Danzig auftauchen konnten angesichts des von
Puschkin zu unterbreitenden Vorschlags, eine rus-
sische Garnison dort einzusetzen; er sei deshalb ge-
tadelt worden und man habe ihm ausdrücklich be-
fohlen, dieses wesentliche Schreiben im Original vor-
zulegen; dass man sicherlich an keine Gewaltmass-
nahmen denke, dass man nicht einmal in der Lage
sei, eine Belagerung durchzuführen, da es an Ka-
nonen mangele; dass man noch hoffe, die Bewoh-
ner würden sich endlich den freundschaftlichen Vor-
stellungen der alliierten Mächte fügen ; er persönlich
erhoffe sich ganz besonders viel davon, dass General
St. Andre1) beauftragt sei, in einer Sondermission
*) Friedrich Daniel Saint-Andre, österreichischer Feldmar-
schalleutnant und Attache der russischen Armee. Anm. d.
Herausg.
362
nach Danzig zu gehen und dort im Namen seines Ho-
fes vorstellig zu werden; auch habe gleichzeitig Mon-
sieur de Stainville *) an den französischen Residenten
in Danzig, Monsieur Dumont, geschrieben, da er
nicht daran zweifelte, letzterer würde bald vom
allerchristlichsten König direkte Ordre erhalten, die-
sen General und den Residenten Russlands zu unter-
stützen, um die ganze Angelegenheit einem guten
Ende zuzuführen.
„Der Herr Vizekanzler, mit dem ich heute dar-
über gesprochen habe, erwiderte mir, er könne mir
nur wiederholen, was er bereits gesagt, nämlich das*
er — die Klagen und Misslichkeiten, welche die Ok-
kupation Danzigs nach sich ziehen würde, voraus-
sehend — von Anbeginn sich dieser Massnahme wi-
dersetzt habe, dass aber die bei der Konferenz anwe-
senden Militärs so sehr auf der Notwendigkeit der
Besetzung Danzigs bestanden (einer angeblich uner-
lässlichen Massnahme), dass er endlich gezwungen
war, nachzugeben ; er habe aber beständig der Mei-
nung widersprochen, man solle alle Schwierigkei-
ten, denen man bei der Ausführung dieses Planes be-
gegnen werde, gewaltsam hinwegräumen und habe
stets zu verhindern gewusst, dass diese Ansicht die
Oberhand bekam, aus Rücksicht auf ein freund-
schaftliches Nachbarverhältnis, das die Kaiserin mit
der polnischen Republik unverbrüchlich aufrecht
zu erhalten entschlossen sei; dass infolgedessen die
präzisesten Ordres an den General Fermor abgegan-
gen seien, sich aller Gewaltmassnahmen zu enthal-
ten, der General den Empfang dieser Ordres bereits
a) Etienne Francois Comte de Stainville, der spätere Herzog
von Choiseul. Anm. d. Herausg.
363
bestätigt habe und solchermassen sie sicherlieh nicht
übertreten könne, — er müsste sonst wahnsinnig
sein (so lauteten die Worte des Vizekanzlers) ; Pusch-
kin sei ernstlich getadelt worden, weil er nicht zuerst
die von der Kaiserin unterzeichnete Deklaration vor-
gelegt hat, von der oben die Rede war; gestern habe
man im Conseil eine sehr freundschaftliche Antwort
an die Danziger beschlossen, auf jenen Brief, den sie
an die Kaiserin geschrieben ; unserem Hofe werde
man davon Mitteilung machen, mit dem Ausdruck
des Dankes für die Art und Weise, wie er in dieser
Angelegenheit gehandelt habe; man verspreche sich
sehr viel von den Verhandlungen des Generals St.
Andre ; und er wiederholte, dass man in dieser Sache
nur auf dem Wege der Verhandlungen vorgehen und
sich jeder Gewaltmassregel enthalten werde.
„Durch diese günstige Antwort ermutigt, unter-
stützte ich die Idee, keine Besatzung in die Stadt zu
legen und sie nur mit einem Korps von 10 — [2000
Mann zu decken. Darauf bekam ich nur eine ganz
vage Antwort. In Wirklichkeit glaube ich jedoch be-
haupten zu können, dass, wenn die Schwierigkeiten
von Seiten der Danziger aufrecht erhalten und durch
stichhaltige Gründe gestützt werden, man endlich
vielleicht doch von der Idee, eine Garnison hineinzu-
legen, ablassen wird. Im allgemeinen wage ich zu
sagen, dass jede Opposition, jedoch vor allem jene,
die der König bei dieser oder einer anderen Gelegen-
heit zu machen für richtig befinden würde, hier im-
mer Eindruck machen wird, und besonders, wenn
Se. Majestät selbst an die Kaiserin schreiben wollte.
„Ich ging dann zu der Frage der Pferdeankäufe in
den beiden Preussen für die russische Kavallerie über.
364
Der Herr Vizekanzler sagte mir, die entsprechenden
Ordres seien erteilt und man kaufe bereits zu 10, 12
und 20 Stück, finde jedoch nicht so viel, als nötig
wäre. Ich benützte die Gelegenheit um anzudeuten,
man hätte Grund zu glauben, es sei um ihre Militär-
kasse schlecht bestellt, da die Bezahlung des Getrei-
des, worüber Herr von Stein mit Privatleuten Ver-
träge abgeschlossen hat, auf sich warten lasse und
manchmal ganz ausbleibe. Darauf gab er seiner Ver-
wunderung Ausdruck und beteuerte, dass der Armee
gerade zu diesem Zweck anderthalb Millionen Rubel
in bar zur Verfügung ständen und dass die Schuld
vielleicht an Herrn von Stein läge; er werde die
Angelegenheit untersuchen lassen, weil es den Ab-
sichten und den Ordres der Kaiserin entspreche,
dass in diesem Punkte wie auch sonst den Unter-
tanen der Republik gegenüber mit der grössten
Milde und mit der exaktesten Gerechtigkeit verfah-
ren werde.
„Da Graf Esterhazy mich persönlich gebeten hatte
und hierauf mit S. K. Hoheit dem Prinzen Karl und
dem Gesandten Frankreichs übereingekommen war,
es sollte dem hiesigen Ministerium noch nichts von
der Abänderung der Verfügung bezüglich der sächsi-
schen Kavallerieregimenter gesagt werden, sowohl
deshalb, weil er hierüber Weisungen hatte, die den
unsrigen entgegengesetzt schienen, als auch um den
hiesigen Hof nicht zu erschrecken, der auf dieses für
seine Armee so notwendige Kavalleriehilfskorps mit
Gewissheit zählt und sich bereits zur Naturalverpfle-
gung für dasselbe entschlossen hat, — so habe ich
dem Vizekanzler nichts hiervon erwähnt, um so mehr,
als sie hier wirklich ausserstande sind, sich auf irgend
365
einem Wege mit guter Kavallerie zu versehen, we-
nigstens für die jetzige Kampagne.
„Was meinen Aufenthalt hier betrifft, so kann ich
Ew. Exzellenz nur nochmals dafür danken, dass es
Ihnen beliebte mir mitzuteilen, Se. Majestät wünsche,
ich solle am nächsten Reichstage als Landbote teil-
nehmen. Ich beabsichtige, von dieser Erlaubnis des
Königs, eine Reise nach Polen zu unternehmen, erst
gegen Ende Juli Gebrauch zu machen und es erst dann
hier bekannt zu geben, zu welchem Zeitpunkt alle
Angelegenheiten hier wohl bereits geklärt sein wer-
den und ich Ew. Exzellenz bereits mit Gewissheit
werde informieren können, ob es im Interesse des
Königs ist, dass Baron Sacken *) mein Nachfolger wird.
Ich wiederhole indes Ew. Exzellenz meine Bitte, mir
das Amt eines Landboten von Livland unter Zustim-
mung Sr. Majestät zu sichern.
„Obgleich ich Ew. Exzellenz durch meinen Brief
vom 25. v. M. mitgeteilt habe, dass die Entscheidung
in der Sache des früheren Kanzlers an jenem Tage
fallen sollte, schleppt sie sich noch immer hin. Die
Grossfürstin sollte eine zweite persönliche Unterre-
dung mit der Kaiserin haben, doch diese hat noch
nicht stattgefunden und zwar (wie die Kaiserin ihr
sagen Hess) infolge der Erkrankung ihres Auges, die
sie sogar verhindert hat, sich in der Osternacht un-
serem Prinzen zu zeigen, der zu Hofe ging, um sich
die Resurrektion nach griechischem Ritus anzusehen ;
diese Erkrankung nennt man Fluxion, es soll aber
ein Bluterguss sein, der von ihrem letzten Unfall vor
*) Karl von der Osten-Sacken (1725 — 1 794)> der spätere
sächsische Rabinettsminister und Staatssekretär für auswär-
tige Angelegenheiten. Anm. d. Herausg.
366
drei Wochen herrührt. Sie hat jedoch der Gross-
fürstin sagen lassen, sie solle ganz unbesorgt sein, es
werde sich bald alles zum besseren wenden.
„Ich bin überzeugt, dass S. Hoheit Prinz Karl Seine
Majestät sowohl über das Geschenk, das er von der
Kaiserin empfangen hat, wie auch über alles, was ihn
persönlich betrifft, informieren wird, so dass ich eine
Wiederholung für überflüssig halten darf, die im
Vergleich mit dem, was S. K. Hoheit schreiben wird,
ja nur unvollkommen sein könnte. Ich will mich
darauf beschränken zu sagen, dass I. K. Majestät so-
wie alle anderen, ihrem Beispiel folgend, die grösste
Befriedigung über die Konduite und die Person des
Prinzen äussern, der sicherlich dazu geschaffen ist,
von aller Welt geliebt -zu werden."
Brief an denselben vom 5. Mai 1758.
„Da die letzte Post sich verspätet hat, bin ich erst
heute in den Besitz der Briefe Ew. Exzellenz vom
22. und 24. v. M. gelangt.
„Auch wir wissen noch nichts Näheres über Dan-
zig, aber man kann zum mindesten mit Bestimmt-
heit darauf rechnen, dass General Fermor nicht ge-
waltsam vorgehen wird, weil er hierüber präziseste
Ordre erhalten hat und anzunehmen ist, dass er
nicht wagen wird, dawider zu handeln; ich habe
dies bereits in meinem letzten Briefe berichtet und
der Herr Vizekanzler hat es mir heute nochmals wie-
derholt, infolgedessen darf man hoffen, dass diese An-
gelegenheit nicht solch üble Folgen haben wird, wie
man befürchten musste. Was Ew. Exzellenz andeu-
ten, dass die Stadt Schwierigkeiten wegen Aufnahme
russischer Truppen mache, sich jedoch bei Truppen
367
der Republik weniger besinnen würde, so wäre dies
nur geeignet, die Gemüter bei uns zu beruhigen, und
die Alliierten könnten darüber gleichfalls zufrieden
sein.
„Man hat mir berichtet, dass der Grossfürst auf
dem Ball am vergangenen Dienstag mit S. K. Hoheit
dem Prinzen Karl über das blaue Band gesprochen
hat, das ich noch in Händen haue, da es Stambke
nicht übergeben werden konnte, und dem Prinzen
andeutete, dass er glaube, der König werde keine
Schwierigkeiten machen, es einem seiner ältesten
Staatsräte zu verleihen. Da ich aber mit völliger Ge-
wissheit erfahren habe, dass der Grossfürst wünscht,
wir möchten ihm das blaue Band einhändigen, damit
er es hernach Brockdorf übergeben könne (denn er
hat Alexander Schuwalow beauftragt, die Kaiserin
dieserhalb zu sondieren), so habe ich S. K. Hoheit
dem Prinzen noch einen mir zu gleicher Zeit bekannt
gewordenen Umstand mitgeteilt, nämlich dass Iwan
und Peter Schuwalow sich bereits wegen des steigen-
den Einflusses Brockdorfs auf seinen Herrn beunru-
higen und daran denken, ihn früher oder später von
hier zu entfernen; solchermassen wären wir nicht
nur lächerlich, wenn wir uns zum Narren halten
Hessen und diesen Mann auszeichnen würden, der
ganz offensichtlich der Anwalt des Königs von Preus-
sen und unser Feind ist und auch im übrigen durch-
aus kein achtungswerter Mensch, sondern wir wür-
den uns vielleicht sogar mehr schaden als nützen.
„Einer von Bestuschews Richtern hat geäussert,
da man nichts Schwerwiegendes gegen ihn finden
könne, werde man die ältesten Sachen ausgraben,
sozusagen das ganze Leben dieses Ministers. Kayser-
368
ling und Panin haben ihre Geheimkorrespondenz mit
ihm hergeschickt, man muss abwarten, wie sie be-
nutzt werden wird. Im Palast herrscht noch Unge-
wissheit, denn Iwan und Peter Schuwalow behaup-
ten, ihre guten Absichten stössen auf Hindernisse sei-
tens Alexander Schuwalows. Das ist nicht leicht zu
verstehen, aber so ändern sich nun einmal alle Dinge,
und sie werden sich vielleicht noch mehr ändern."
Brief an denselben vom 9. Mai 1758.
„Die vorgestrige Post hat mir keinen Brief von Ew.
Exzellenz gebracht. Am Samstag ist ein Kurier von
der russischen Armee angekommen mit der ebenso
erfreulichen als wichtigen Nachricht, dass General
Fermor und General Browne1) bei Graudenz zu-
sammengekommen sind, um sich in aller Freund-
schaft über die Gründe auszusprechen, die ihre Ent-
fremdung herbeigeführt hatten; nach dieser Aufklä-
rung haben sie sich vollständig versöhnt und habeu
einander zugesagt, in allem nach Übereinkommen
und im besten Einvernehmen vorzugehen und der
Kaiserin mit gemeinsamem Eifer zu dienen. Diese
glückliche Versöhnung, die beiden Generälen den
Austausch ihrer Kenntnisse und Meinungen ermög-
licht, lässt für die Zukunft alles Gute erhoffen, um so
mehr, als sie den ihnen zugestellten Feldzugsplan
durchaus gebilligt haben; nach genauer Kenntnis-
nahme des Terrains von Stolp bis unterhalb Küstrins
x) Georg Reichsgraf von Browne (1698 — 1792) entstammte
einer irländischen Familie, trat 1730 in russischen Kriegs-
dienst. Bei Zorndorf wurde er schwer verwundet. Peter III.
ernannte ihn zum Feldmarschall. Später wurde er Statthalter
von Livland und Estland. Anm. d. Herausg.
24 Poniatowski 36o
haben sie beschlossen, sich nicht mit der Belagerung
des letzteren aufzuhalten, — weil man in Anbetracht
seiner starken Befestigungen und der es umschliessen-
den Moräste hierbei mit einem grossen Zeit- und
Menschenverlust rechnen müsste, — statt dessen aber
all ihre Kräfte zu einem direkten Vorstoss gegen Ber-
lin zu vereinen.
„Die Recherchen gegen den vorigen Kanzler sind
nunmehr beendet, ihr Resultat ist der Kaiserin un-
terbreitet worden, jetzt erwartet man ihren endgülti-
gen Beschluss. Sobald diese Sache entschieden sein
wird, wird auch die Entscheidung über das Los der
anderen Gefangenen fallen und man wird am Hofe
endlich wieder wissen, woran man ist. Seit meiner
letzten Depesche ist absolut nichts Wichtiges vorge-
fallen. Herr Brockdorf muss gemerkt haben, dass es
mit ihm abwärts geht, denn seit einigen Tagen be-
kundet er eine sehr grosse Unruhe. Peter und Iwan
Schuwalow geben ihn auf, letzterer hat zweimal ganz
ausdrücklich gesagt, er würde ihn entfernen; jedoch
Alexander hält ihn immer noch, und infolgedessen
hat der Herr Vizekanzler vorgestern, an welchem
Tage S. K. Hoheit bei ihm dinierte, zu unserem Prin-
zen gesagt, der Grossfürst wünsche, dass S. K. Ho-
heit vom König das blaue Band für Brockdorf er-
bitte. Der Prinz fragte, ob die Kaiserin damit einver-
standen sein werde, der Vizekanzler antwortete, der
Prinz könne ganz unbesorgt schreiben, — so laute-
ten wenigstens die Worte, die S. K. Hoheit mir wie-
derholt hat. Nach der Art zu urteilen, wie die Kaise-
rin kürzlich über diesen Mann gesprochen hat, ge-
stattet sie zwar, dass der Grossfürst ihm seine Gunst
erweist, sobald die Schuwalows sie darum bitten, um
3^0
beim Grossfürsten etwas durchzusetzen, aber sie ge-
stattet es nur widerwillig. Es wäre auch beinahe un-
glaublich, dass ein anderer Grund sie veranlassen
sollte, einen unwissenden und schlechten Menschen
auszuzeichnen, der hier vor vier oder fünf Jahren so-
zusagen als Hofnarr des Grossfürsten debütierte, da
doch der Grossfürst selbst sich am meisten über ihn
lustig machte, und der nur dadurch sich in Gunst zu
setzen verstanden hat, dass er den Grossfürsten zu
allerlei Ausschweifungen verführte; seit er in Gunst
steht, vor allem jedoch seit dem Kriege ist er der
hitzigste Advokat des Königs von Preussen, und die
höchsten Gnadenstufen konnte er nur erklettern, in-
dem er den russischen und ausländischen Feinden
des früheren Kanzlers als Werkzeug diente, um die-
sen Minister zu verderben.
„Daher wage ich zu behaupten, dass wenn wir
uns weigern würden, Herrn Brockdorf diesen Orden
zu geben, wir uns all jene verpflichten könnten, de-
nen dieser Mensch Böses getan hat, — und deren
Zahl und Rang ist recht ansehnlich ; wir könnten so-
gar seine Entfernung beschleunigen, wenn der König
in seiner Antwort an den Prinzen noch bemerken
wollte, wie erstaunt er sei, dass man von ihm eine
solche Auszeichnung für einen Mann von ganz offen-
sichtlich preussischer Gesinnung verlange, und dass
in Anbetracht der Art, wie der Grossfürst die Höf-
lichkeit zurückgewiesen hat, die der König ihm in
der Person seines früheren Ministers Stambke erwei-
sen wollte, Seine Majestät nicht mehr geneigt sei,
seinen Orden an irgend eine Person des Hofes S.
Kaiserlichen Hoheit zu verleihen; dies scheint mir
auch die günstigste Gelegenheit zu sein, unsere ge-
24* 371
rechtfertigte Empfindlichkeit über dieses Vorgehen
zu äussern.
„Es würde noch angehen, wenn man Brockdorf
durch diese Auszeichnung umstimmen könnte; aber
dieser Mann ist ein viel zu niedriger Schmeichler und
viel zu nichtswürdig, um jemals einer Neigung seines
Herren entgegenzutreten, auch könnte so ein Stück
Band bei ihm niemals die pekuniären Vorteile aus-
stechen, die er zweifellos vom preussischen Könige
erhält, und es hiesse unserem sonstigen Unglück noch
die Schmach hinzufügen, dass wir uns narren Hessen,
indem wir einen Menschen mit einem Gunstbeweis
auszeichneten, der stets unser Feind war und es auch
ferner sein wird. Meiner Ansicht nach wäre eine
Rente für Brockdorf viel verlockender und für uns
von weit besserer Wirkung, und die beste Art sie
ihm anzubieten wäre, indem der Prinz selbst zum
Grossfürsten sagte, es gäbe Gründe (die dem Prinzen
angeblich unbekannt wären), die den König verhin-
derten, dem Herrn Brockdorf diesen Orden zu ver-
leihen, dagegen biete er ihm eine Rente von 4000
oder 5ooo Talern an; auchmüsste der Prinz alle meine
obigen Ausführungen dem Vizekanzler wiederholen,
damit sie zur Kenntnis der Kaiserin gelangen. Es
könnte zwar sonderbar scheinen, dass ich den Rat
gebe, einem Fürsten vorzuschlagen, man wolle sei-
nem Günstling eine Rente aussetzen, aber es gibt
Fürsten, die eine Ausnahme von jeder Regel bilden."
372
ACHTES KAPITEL
BRIEF AN DEN GRAFEN BRÜHL VOM 14. MAI.
DIFFERENZ MIT DEM TÜRKISCHEN GESANDTEN
WEGEN DER ETIKETTE. IWAN SCHUWALOW BE-
SUCHT KEITH. PBINZ KARL SOLL DEN AUSTAUSCH
VON HOLSTEIN NAHELEGEN. — BBIEF AN BRÜHL
VOM 16. MAI. DIE VEREINIGUNG DER SCHWE-
DISCHEN ESKADER MIT DER RUSSISCHEN GE-
SICHERT, ERENSO EIN NEUER TRANSPORT SCHWE-
DISCHER TRUPPEN NACH POMMERN. L'HÖPITALS
KREDIT SINKT. — BRIEF AN BRÜHL VOM 19. MAL
DANZIG. SÄCHSISCHE KAVALLERIE. FÜRST WOL-
KONSKI KÜNFTIGER ARMEEINTENDANT. FRIE-
DENSAUSSICHTEN. WIEDERAUFNAHME DES VER-
FAHRENS GEGEN APRAXIN. AUFHEBUNG DES SE-
QUESTEBS VON DEN BESITZUNGEN DER VIER
PREUSSISCHEN MINISTER. — BBIEF AN BBÜHL
VOM 23. MAI. 16000 BUSSEN HABEN DIE WEICHSEL
PASSIEBT. ELISABETHS GEWISSENSBISSE WEGEN
BESTUSCHEW. ICH BEGLÜCKWÜNSCHE BRÜHL
ZUR KASSATION DER VERWALTUNG VON OSTROG.
— BBIEF AN BRÜHL VOM 3o. MAI. KORFF GOU-
VERNEUR VON KÖNIGSBEBG. WOLKONSKI ÜBER-
NIMMT EIN KOMMANDO BEI SMOLENSK. DER
TÜRKISCHE GESANDTE BESTEHT AUF SEINEB
WEIGERUNG. OLSUFJEW IM AUFSTEIGEN, ER
ARBEITET BEBEITS GEGEN WOBONZO W. — BRIEF
AN BBÜHL VOM 4. JUNI. DANZIG. MEINE BEMÜ-
HUNGEN BEI WORONZOW, UM DIE RUSSEN ZUM
VORRUCKEN ZU VERANLASSEN. SEINE VERSPRE-
CHUNGEN. ZWEITE UNTERREDUNG ELISABETHS
MIT DER GROSSFÜRSTIN.
Brief an den Grafen Brühl vom 14. Mai 1768.
Der hier weilende türkische Gesandte hat seinen
Geiz so weit getrieben, dass er für all seine Die-
ner täglich nur einen Hammel geben wollte; sie re-
voltierten und wollten ihn töten und hätten es be-
stimmt getan, wäre nicht die russische Garde ihm zu
Hilfe geeilt; sie hat auch die anderen Leute seines
Gefolges gebindert, sich den zuerst Revoltierenden
anzuschliessen. Abgesehen von seinem Geiz, der die-
sem Türken beinahe so teuer zu stehen gekommen
wäre, macht er seit seiner Ankunft hier am Orte un-
ausgesetzt die furchtbarsten Schwierigkeiten und
Umstände. Gegenwärtig besteht er darauf, sein Be-
glaubigungsschreiben nur in die Hände der Kaiserin
selbst zu übergeben, bei seiner Audienz, indessen
man von ihm verlangt, er solle eine schriftliche Ver-
sicherung abgeben, er werde sie dem Vizekanzler
als erstem Minister übergeben, denn in Konstanti-
nopel nimmt weder der Sultan noch der Gross-
wesir, sondern ein anderer Mann die Beglaubigungs-
schreiben der russischen Minister in Empfang, um
sie dann dem Wesir zu übergeben; keiner seiner
Vorgänger hat jemals wegen dieses Punktes Schwie-
rigkeiten gemacht. Der Herr Vizekanzler hat mir ge-
sagt, dass, solange er diese von ihm verlangte Ver-
374
Sicherung nicht abgibt, ihm keine Audienz gewährt
wird, und sollte er ein halbes Jahr darauf warten
müssen. Ich habe gefragt, ob man einen Kurier in
dieser Angelegenheit nach Konstantinopel geschickt
habe, er verneinte und scheint anzunehmen, dass die-
ser Streit keine Folgen nach sich ziehen wird.
„Vor einigen Tagen ging der Kammerherr Schu-
walow angeblich den Baron Wolff besuchen, bei dem
Mister Keith logiert; er ist mit letzterem über eine
Stunde zusammen gewesen. Aus diesem Besuch kön-
nen zwar in Wirklichkeit keine Folgerungen gezogen
werden, es handelt sich aber gewiss um Staatsaffäi^en,
und zum mindesten wird daraus das Handelstraktat
resultieren, — wenn nicht mehr. Vor drei oder vier
Wochen hat Keith mir einige Komplimente gemacht
und damals auch bemerkt, es sei recht ärgerlich, dass
er nicht mit mir zusammenkommen könne; ich er-
widerte, mich kränke das gleichermassen, da ich doch
die Ehre gehabt hätte, ihn in Wien kennen zu ler-
nen, jedoch die Umstände erlaubten es nicht; hier-
auf wiederholte er zweimal: „das wird schon noch
kommen". Ich habe es Ew. Exzellenz damals nicht
geschrieben, weil ich dachte, diese Worte würden
keine Konsequenzen haben; jedoch dieser Besuch
Schuwalows bringt sie mir wieder in Erinnerung
und ich glaube, Sie darüber informieren zu müssen.
„Es ist noch in keiner Sache irgend eine Entschei-
dung gefallen; jedoch geniesst der frühere Kanzler
seit einigen Tagen etwas mehr Freiheit; die Wachen,
die in seinem Zimmer waren, sind entfernt worden.
Brockdorfs Beunruhigungen dauern an. Wenn ich es
wagen darf, den Bemerkungen, die ich in meiner
letzten Depesche geäussert habe, noch einige hinzu-
3^5
zufügen, so könnte unser Prinz hier bei Gelegenheit
des blauen Bandes, das man für Brockdorf verlangt,
noch sagen, dass es von Wichtigkeit wäre, Dänemark
auf unsere Seite zu bekommen, und dies könnte nie
geschehen, solange der Austausch von Holstein nicht
durchgeführt wäre; Brockdorf sei derjenige, der sich
seit jeher diesem Austausch am meisten entgegenge-
setzt habe; sollte er ihn durchsetzen, so würde er der
ganzen Allianz einen bedeutenden Dienst leisten,
man mache daher seine künftige Dekoration von die-
ser Bedingung abhängig wie auch davon, dass seine
Gesinnung jetzt genau so gut sächsisch werde, wie
sie bisher preussisch war.
„Allem Anschein nach wird man unseren Prinzen
frühestens im Monat Juni abreisen lassen. Der Vize-
kanzler anerkennt alle wichtigen Gründe, die S. K.
Hoheit zur Armee drängen, aber I. K. Majestät wird
sicherlich nicht ihre Zustimmung zu einer so baldi-
gen Abreise geben wollen, vor allem auch deshalb,
weil sie infolge ihrer Unpässlichkeit ihn nicht so oft
sehen und sich mit ihm unterhalten konnte, wie sie
es gewünscht hätte.
„Der Woivvode von Lublin1) will übermorgen ab-
reisen, nachdem er sehr viel herumgeschwatzt hat,
jedoch, wie der Herr Vizekanzler mir versicherte,
wenigstens ihm gegenüber ohne jeden Effekt. So-
wohl er wie auch der Woiwode von Smoleiisk 2) ha-
ben sehr oft mit dem französischen Gesandten kon-
feriert, diesem hat sein letzter Kurier ein grosses
Paket chiffrierter Briefe vom Kronfeldhetman über-
bracht. "
*) Anton Lubomirski.
2) Peter Sapieha.
376
Michael Larionowitsch Graf Woronzow, Grosskanzler
des russischen Reiches
Brief an denselben vom 16. Mai 1758.
„Da ich die Ehre hatte, Ew. Exzellenz vorgestern
durch den Kurier des französischen Gesandten zu
schreiben, so weiss ich mit heutiger Post nichts In-
teressantes zu berichten. Ew. Exzellenz werden von
Stockholm direkt Informationen zugehen, dass die
Verhandlungen betreffs Vereinigung der schwedi-
schen Eskader mit der russischen Flotte, gemäss dem
von diesem Hofe geäusserten Vorschlag, dort zu einem
glücklichen Ende geführt wurden, um einen Vor-
stoss Englands von der See aus, zur Begünstigung
des Königs von Preussen, hintanzuhalten; und trotz-
dem Gerüchte besagten, eine englische Eskader
wäre nach der Ostsee beordert worden, hat es doch
nicht den Anschein, dass das britische Ministerium
ernsthaft daran denkt; immerhin ist es eine gute
Vorbeugungsmassnahme und ein Beweis völliger
Einigkeit der Verbündeten. Diese Nachricht sowie
der Eifer, mit dem man in Schweden den neuen
Truppentransport nach Pommern zu beschleunigen
trachtet, erfreuen hier ganz besonders.
„Es scheint, dass Monsieur de THöpitals Kredit an
diesem Hofe im Begriff ist zu sinken; die Kaiserin
selbst hat in einer privaten Äusserung zu verstehen
gegeben, dass die französische Angewohnheit, sich in
alles hineinzumischen, ihr nicht gefalle, und zwar
geschah dies bei Gelegenheit einiger Insinuationen,
die er während seiner letzten Audienz an unrechter
Stelle anzubringen versuchte. Auch Graf Esterhazys
Zutrauen zu ihm ist im Schwinden begriffen. Jedoch
flehe ich Ew. Exzellenz an, diese Anekdoten nicht
weiterzugeben."
377
Brief an denselben vom 19. Mai 1768.
„Der Brief, mit dem Ew. Exzellenz mich am 8.
d. M. beehrten, wurde mir erst mit gestriger Post
zugestellt; vorerst habe ich Veranlassung genommen,
dem Herrn Vizekanzler mitzuteilen, was mir darin
über die Danziger Affäre gesagt wird; er hat mir ge-
antwortet, ich solle mich völlig beruhigen, er hoffe,
dies werde ein gutes Ende nehmen, und er versicherte
unter den heftigsten Beteuerungen, man werde kei-
nesfalls gewaltsam vorgehen und werde die Wirkung
der Briefe abwarten, die kürzlich an den Magistrat
geschrieben wurden. Ich liess nicht locker und stellte
ihm vor, dass doch der Resident Frankreichs1) und
Baron Hall'-) von der Unmöglichkeit eines Erfolges
in dieser Sache überzeugt seien; er antwortete, all
dies sei ihm bekannt, jedoch habe man die Sache
fälsch angepackt, und er wiederholte die positivsten
Versicherungen möglichster Rücksichtnahme bei die-
sen Verhandlungen.
„Hierauf habe ich mit dem Kammerherrn Schu-
walow gesprochen, um ihn über die Vorgänge zu un-
terrichten und seine Ansicht darüber zu vernehmen.
Ich habe auch nicht verfehlt, die beiden Gesandten
von allem zu unterrichten. Graf Esterhazy schiebt
die Schuld auf den russischen Residenten Puschkin,
der die Sache schlecht angefangen hat, im übrigen
sagt er, dass man ihnen zu viel Ehre erweise, wenn
man befürchte, sie würden Danzig belagern. Marquis
de FHöpital hingegen sagte nach einigen ausweichen-
x) Dumont, französischer Resident in Danzig.
2) General Rall, der österreichische Kommissar in Danzig.
Anm. d. Herausg.
378
den Redensarten : „ Ah ! wenn es der Republik mög-
lich wäre, drei- bis viertausend Mann hineinzulegen!"
Woraus ich schloss, dass, falls nur die Danziger sich
weiter so entschlossen zeigen, sie allem Anschein nach
bald von ihren Sorgen befreit sein werden und man
schliesslich, wenn man hier die unüberwindlichen
Hindernisse sieht, gezwungen sein wird, das ganze
Projekt aufzugeben ; man wird unter allerlei Vor-
wänden sich aus dieser Sache ehrenvoll herauszu-
ziehen suchen, in der man bereits zu weit gegangen
ist; man wird sagen, es geschähe nur aus Rücksicht
auf die Stadt, angesichts der Drohungen des Königs
vonPreussen, deren Verwirklichung befürchtet werde,
und aus Freundschaft für die Republik, — deshalb
wolle die Kaiserin in ihrem Edelmut und ihrer See-
lengrösse davon abstehen . . .
„Was die Notwendigkeit betrifft, der Armee eine
Verstärkung an regulärer Kavallerie zukommen zu
lassen, so hat der Herr Vizekanzler eingestanden,
dass es ihnen absolut unmöglich ist, denn es ist hier
nur das Garderegiment und ein Kürassierregiment
vorhanden ; er war aber sehr betroffen, als ich ihm
sagte, mit welcher Langsamkeit der Pferdeankauf in
Preussen vonstatten geht und dass man keine Dis-
positionen trifft, um Vorräte an Heu und Hafer an-
zulegen, — sei es aus Geldmangel oder aus irgend
welchen anderen Gründen, — und er versicherte,
es sei hierüber bereits Refehl gegeben worden und
man habe alles nötige Geld geschickt. Da er mich
nach unserer sächsischen Kavallerie befragte, stellte
ich ihm vor, dass die weite Entfernung ihre Ankunft
verzögern müsse und dass es noch ganz ungewiss sei,
ob sie nicht durch den Einfall des Königs von Preus-
379
sen in Mähren überhaupt daran gehindert werden
würde, denn ich wollte ihm die Notwendigkeit zu
verstehen geben, mit aller Anstrengung an der In-
standsetzung ihrer Kavallerie für den Feldzug zu ar-
beiten. Graf Esterhazy war der Meinung, man hätte
sich wohl entschliessen können, das Kürassierregi-
ment hinzuschicken, welches von allen am besten
ausgerüstet sei; offenbar habe Peter Schuwalow sich
aus Eitelkeit dem widersetzt, weil er eine Kürassier-
garde um sich haben wolle; Esterhazy hat des ferne-
ren bemerkt, da zu befürchten sei, sie würden uns
hier Vorwürfe wegen der Verzögerung unserer Ka-
vallerie machen, um unter diesem Vorwand ihre
eigene Langsamkeit zu entschuldigen, so solle man
alles Erdenkliche veranlassen, um ihr Vorrücken zu
beschleunigen.
„Fürst Wolkonski, der Gouverneur von Königs-
berg, ist hier eingetroffen, woraufhin sich das Gerücht
verbreitet hat, man habe ihn kommen lassen, damit
er Rechenschaft über seine Verwaltung ablege, und
er sei sogar verhaftet worden, aber dies hat sich nicht
bewahrheitet; er soll sogar bald nach Preussen zu-
rückkehren, um die Charge eines Generalintendanten
der Armee zu übernehmen.
„Der dänische Gesandte hat dem Vizekanzler eine
Nachricht gemeldet, die er von seinem Hofe erhalten
hatte: Graf Podewils1) soll an den König von Preus-
sen geschrieben haben, um von ihm die Erlaubnis
zum Aufsuchen eines Bades zu erwirken, worauf ihm
*) Heinrich Graf von Podewils, preussischer Minister (i6g5
bis 1760), begleitete Friedrich II. in den ersten und zweiten
schlesischen Krieg und schloss 1742 den Breslauer, 1745 den
Dresdener Frieden ab. Anm. d. Herausg.
38o
die Antwort zuteil wurde: ,Mein lieber Podewils,
sorgen Sie ordentlich für Ihre Gesundheit, damit Sie
bald imstande sind, ein drittes Friedenstraktat zu
unterzeichnen, denn es beginnt sich zu klären.'
„Indem der Vizekanzler ihm für diese Mitteilung
dankte, fügte er — seinem Vertrauen mit gleichem
Vertrauen begegnend — hinzu, er wisse, dass die
Friedensangebote ihm nicht durch seineu Hof, son-
dern durch England zukommen würden. Wenn man
diese Antwort mit dem Besuche des Kammerherrn
Schuwalow bei Keith, von dem ich Ew. Exzellenz
bereits Mitteilung gemacht habe, zusammenstellt, so
gibt dies Stoff zum Nachdenken. Übrigens rief der-
selbe Schuwalow bei meiner gestrigen Unterredung
mit ihm aus: , Frieden! Frieden!' Worauf ich erwi-
derte: , Gewiss, er ist zu wünschen, es muss aber ein
guter Frieden sein, und er kann nur durch Siege er-
rungen werden, die den Feind zwingen, den Alliier-
ten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und alle Un-
bill, die er angerichtet hat, wieder gut zu machen.'
„Vor drei Tagen hat die Kaiserin mit Bezug auf
den früheren Kanzler geäussert: ,Ein grosser Brand
ist entstanden, ich weiss nicht, wie ihn löschen.'
Fürst Trubetzkoi war vorgestern bei Apraxin, der
sich noch immer in jenem Landhaus befindet; es
scheint, dass man diese Sache wieder aufnimmt, denn
auch Weymarns1) Papiere werden jetzt untersucht.
Das beunruhigt — so behauptet man — Apraxin,
den die Sorge um seine schwerkranke Tochter und
seinen Schwiegersohn sowieso schon niederdrückt.
x) Iwan Iwanowitsch Wevmarn (1722 — 1792), lange Zeit
russischer Emissär in Polen, später russischer Gesandter am
polnischen Hof. Anra. d. Herausg.
38i
„Ich habe erfahren (jedoch nicht vom Vizekanzler),
dass man sich endlich entschlossen hat, das Sequester
von den Besitzungen der vier geflohenen preussischen
Minister aufzuheben, da man nach reiflicher Über-
legung erkannt hat, welch geringen Vorteil man aus
dieser Sequestrierung ziehen und welchen Schaden
sie den treuen Dienern des Königs, unseres Herren,
in Sachsen zufügen könnte."
Brief an denselben vom 23. Mai 1768.
„Es verlautet, dass die 16 000 Mann der Armee
General Fermors, die als erste vorrücken sollen, die
Weichsel bereits überschritten haben; sie sollen vom
Generalleutnant Rezanow befehligt werden und ge-
gen Stolp marschieren, um zu versuchen, sich dieses
Ortes zu bemächtigen und die Preussen zu vertreiben,
sollten sie den Versuch machen, sich zu widersetzen;
man will dies aber noch geheim halten. Seit drei Wo-
chen hört man nichts vom Observationskorps, jedoch
aus den letzten Briefen des Generalleutnants Tscher-
nischew zu schliessen, glaubt der Vizekanzler, dass
diese Truppen in kürzester Frist in ]Nowy Dvvör an-
kommen müssen, wo General Browne sie bereits er-
warten soll.
„Die Kaiserin hat mit Bezug auf den früheren
Kanzler geäussert: ,Nie wieder wird man mich in
einer Angelegenheit von solcher Wichtigkeit zu einem
so übereilten Schritte bewegen'; dies scheint der Be-
weggrund zu sein, dass die Entscheidung in allen An-
gelegenheiten noch hinausgeschoben wird und immer
noch die gleiche Un gewissheit herrscht.
„Was mich persönlich anlangt, so hatte ich nur
382
den Dienst des Königs im Auge, als ich mich ent-
schloss, erst gegen Ende des Monats Juli von der mir
durch Se. Majestät gnädigst gewährten Erlaubnis Ge-
brauch zu machen, mich zu den Landtagswahlen
nach Polen zu begeben. Inzwischen kann ich Ew.
Exzellenz versichern, dass ich weder mit dem Vize-
kanzler noch mit dem Kammerherrn Schuwalow
schlecht stehe, wie Sie vielleicht aus einigen mit Ab-
sicht so gehaltenen Berichten schliessen mussten. Nur
in der Person des Marquis de l'Höpital bleibt noch
einige Animosität gegen mich bestehen, deren Fol-
gen Ew. Exzellenz zu befürchten scheinen, jedoch ist
sie nicht mehr so zu fürchten, seit dieser Ambassa-
deur hier am Hofe bedeutend an Ansehen verliert,
worüber Ew. Exzellenz gewiss von so vielen Seiten
bereits informiert sind, dass ich von einem Bericht
absehe, da doch alles, was ich sagen würde, allzu
parteiisch erscheinen könnte.
„P. S. Ich habe Ew\ Exzellenz zu danken, dass Sie
so freundlich waren, mir im Postskriptum Ihrer letz-
ten Depesche zu berichten, welche Gnade der König,
als wirklicher Vater seiner Untertanen, ganz Polen
erwiesen hat, indem er die Verwaltung von Ostrog
kassierte. Alle Herzen, die ihr Vaterland und die
Freiheit lieben, werden sich für diese Wohltat Sr.
Majestät mit neuer, ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit zu-
wenden. Ew. Exzellenz beglückwünsche ich hierzu
im besonderen, da Sie doch ausserordentlich viel da-
zu beigetragen haben. Seit langem habe ich Ew. Ex-
zellenz die Ehre und die reellen Vorteile gewünscht,
die für Sie daraus resultieren werden."
383
Brief an denselben vom 3o. Mai iy58.
„Zwei neue Generalmajore sind zur Armee ge-
schickt worden, die Herren Grvgoriew und Mordwi-
now, die sich gestern von der Kaiserin verabschiedet
haben, wie auch Fürst von Holstein-Beck, dem Seine
Majestät die Verwaltung von Reval übertragen hat,
Baron Korff, der zum Gouverneur von Königsberg er-
nannt worden ist, und Fürst Wolkonski, sein Vor-
gänger in diesem Amte, der sich in die Gegend von
Smoleiisk begibt, wo er ein Grenzkommando erhalten
soll. Ich war nicht genau informiert, als ich in mei-
nem Briefe vom 19. d. M. berichtete, er würde nach
Preussen zurückkehren, um dort das Amt eines Ge-
neralintendanten der Armee zu übernehmen.
„Graf Esterhazy hatte bei dieser Assemblee Gelegen-
heit, mit der Kaiserin zu sprechen; er hat aus ihrem
Munde erneut die Versicherung ihrer besten Absich-
ten für die gemeinsame Sache erhalten; auch be-
merkte die Kaiserin, es wären freilich in den Dis-
positionen und Massnahmen zwecks energischer
Durchführung des Krieges manche Nachlässigkeiten
unterlaufen und ihre Befehle nicht mit der erforder-
lichen Promptheit und Genauigkeit ausgeführt wor-
den. Da sie — wie sie vor jenem Gesandten zuge-
geben hat — über die Fehler unterrichtet ist, wo-
durch die Operationen dieses durch die Besetzung
Brandenburgisch-Preussens so glücklich begonnenen
Feldzugs verzögert wurden, ist zu erhoffen, dass sie
nunmehr geruhen wird, wirksame Gegenmassregeln
zu ergreifen.
„Der türkische Gesandte besteht auf seiner hart-
384
nackigen Weigerung und hat gesagt, er werde sein
Beglaubigungsschreiben nur den Händen der Kaise-
rin übergeben, und sollte er vom Sultan selbst andere
Weisung erhalten. Übrigens haben sich zwanzig sei-
ner Dienstleute unter russischen Schutz begeben, um
nach Konstantinopel zurückzukehren; sie sagen, der
Gesandte werde seinen Kopf nicht heimbringen. Ich
habe aus unverdächtiger Quelle erfahren, dass zwei
seiner Leute gar oft den Gesandten Frankreichs
heimlich besuchen und dass Abbe Muratowicz ihnen
als Dolmetsch dient. Im übrigen hat man gemäss
Nachrichten aus Konstantinopel, die das Ministerium
vor einigen Tagen durch einen Kurier erhalten hat,
allen Grund, mit dem friedlichen System der Pforte
unter dieser Regierung, genau so wie unter den vor-
herigen, durchaus zufrieden zu sein.
„P. S. Monsieur Olsufjew1) ist im Aufstieg begrif-
fen; er steht in Gunst und man behauptet, dass er
bereits den Vizekanzler angreift.
„Alle Bemühungen des Woiwoden von Smolensk
und sogar seine intimen Beziehungen zum französi-
schen Ambassadeur werden, so glaube ich, nur dazu
führen, dass er einiges Geld erhält, worauf ihm an-
geblich alte Ansprüche zustehen."
Brief an denselben vom 4- Juni 1758.
„Es ist mir endlich gelungen, den Herrn Vizekanz-
ler zu sehen, der noch immer unwohl ist und mich
im Schlafrock und Nachtmütze empfing. Zuerst
sprach ich mit ihm über Danzig und betonte das Ar-
gument, dass das Vorgehen des preussischen Königs
*) Adam Wasiliewitsch Olsufjew ( 1 72 1 — 1784), Staatssekre-
tär. Anm. d. Herausg.
2 5 Poniatowski 385
in Sachsen gerechtfertigt war, wenn eine Kriegsrai-
son genügt, um eine Armee zu ermächtigen, eine
neutrale Stadt zu belagern oder gar zu bombardie-
ren, damit sie gezwungen wird, ihre Pforten zu öff-
nen, ohne dass ein Traktat sie hierzu verpflichtete.
Hierauf wiederholte er mir alle früheren Versiche-
rungen, ich könnte doch mit aller Bestimmtheit auf
sie rechnen und es würde weder zu einer Belagerung
noch zu einem Bombardement kommen. Woraufhin
ich sagte, besser wäre es, diese Sache möglichst rasch
zu beendigen, als sie ohne Aussicht auf Erfolg endlos
hinzuziehen. Er widersprach mir nicht, bemerkte je-
doch, es wäre notwendig, die Antwort der Danziger
abzuwarten, die er morgen zu erhalten hoffte. Soweit
ich mehr nach der Art, wie er sprach, als nach sei-
nen Worten selbst urteilen kann, bin ich überzeugt,
dass diese Sache wie von uns erhofft ein gutes Ende
nehmen und die Stadt von einer Besetzung durch
russische Truppen verschont bleiben wird.
„Hierauf las ich ihm den Absatz der Depesche vor,
worin mir anbefohlen wird, die im allgemeinen In-
teresse liegende Notwendigkeit einer raschen Diver-
sion seitens dieses Hofes darzulegen und dass es
augenblicklich der günstigste Moment ist, ohne
grosses Wagnis ruhmreichen Erfolg zu erlangen,
da der König von Preussen seine Hauptkräfte gegen
die Österreicher führt und genötigt ist, ein ziemlich
ansehnliches Korps gegen die Schweden aufzustellen,
um sie in Schach zu halten, so dass er im gegenwär-
tigen Zeitpunkt den Russen nur wenig Truppen ent-
gegenstellen kann (laut ziemlich sicheren Mitteilun-
gen sind es nicht mehr als io — 12000 Mann). Er
erwiderte, es sei nicht die Zahl der Feinde, die Ge-
386
neral Fermor aufhalte, sondern der befürchtete
Mangel an Subsistenzmitteln in Pommern. Ich erwi-
derte, man dürfte diese Ausflüchte nicht gelten las-
sen, es wäre nicht schwer alles bereitzustellen, man
könnte alles Erforderliche aus Polen und aus Preus-
sen herbeischaffen, da man vor allem die Weichsel
hätte und übrigens die Lebensmittel dem Heere auch
nachgefahren werden könnten, so wie die andern es
machten. Er sagte, dies wolle man ja auch machen
und die entsprechenden Befehle seien bereits erteilt
worden.
„Die zweite Unterredung der Kaiserin mit der
Grossfürstin hat endlich stattgefunden und zwar in
äusserst zufriedenstellender Weise. Man hat sich bei-
derseits mit grösstem Vertrauen und ganz offenherzig
ausgesprochen; man hat sich gegenseitig gerührt;
I. Majestät hat I. K. Hoheit so offensichtliche Be-
weise ihres Wohlwollens gegeben, dass man sich
hiervon den besten Einfluss auf die innere Stimmung
und Verfassung dieses Hofes und infolgedessen auch
auf das Glück dieses Reiches versprechen kann. Die
Kaiserin hat sich über diese Unterredung bereits in
einer Weise geäussert, die ihre völlige Befriedigung
offenbart. Im übrigen kann ich Ew. Exzellenz ver-
sichern, dass Herr Brockdorf hierbei nichts gewon-
nen hat."
38>
NEUNTES KAPITEL
BRIEF AN DEN GRAFEN RRÜHL VOM i3. JUNI. DAS
UNTERNEHMEN GEGEN DANZIG WIRD FALLEN
GELASSEN. DER KÖNIG VON DÄNEMARK WIDER-
SETZT SICH DER AUFSTELLUNG DER VEREINIG-
TEN RUSSISCHEN UND SCHWEDISCHEN FLOTTEN
AUF DER REEDE VON KOPENHAGEN. DAS MO-
TIV DES SONDERBAREN VERHALTENS DES TÜR-
KISCHEN GESANDTEN. ABREISE DES JUNGEN HO-
FES NACH ORANIENBAUM. — BRIEF AN BRÜHL
VOM 16. JUNI. DER VORSCHLAG DES DÄNISCHEN
KÖNIGS, DIE FLOTTEN BEI FALSTERBO-RIFF ZU
STATIONIEREN, WIRD ANGENOMMEN. DIE PFOR-
TE ERTEILT IHREM GESANDTEN DEN REFEHL,
SICH IN SEINEM VERHALTEN GANZ NACH SEI-
NEM VORGÄNGER ZU RICHTEN. — BRIEF AN
BRÜHL VOM 20. JUNI. BEGINN DER BELAGERUNG
VON OLMÜTZ. AUFHEBUNG DER SEQUESTRATION
VON DEN BESITZUNGEN DER VIER PREUSSISCHEN
MINISTER. ALEXEJ RAZÜMOWSKI GIBT EINEN
BALL FÜR DEN PRINZEN KARL. — BRIEF AN
BRÜHL VOM 23. JUNI. 24000 DÄNEN WERDEN
NACH HOLSTEIN GESCHICKT, UM ES VOR EINER
INVASION ZU SCHÜTZEN. PETER SCHDWALOW
GIRT EINEN BALL ZU EHREN DES PRINZEN KARL.
STAPELLAUF EINES SCHIFFES VON 100 KANO-
NEN. — BRIEF AN RRÜHL VOM 27. JUNI. DER
TÜRKISCHE GESANDTE WIRD VON DER PFORTE
ZURECHTGEWIESEN. MEIN STREIT MIT L'HÖPI-
TAL WEGEN DANZIG.
lllllMlIlllllltlllllllllllllllllMIIIIIIMIlIHlllllllllllI
iirmiriifiltr:
Brief an den Grafen Brühl vom i3. Juni 1758.
In Beantwortung der Briefe Ew. Exzellenz vom 3 1 .
v. M. und 1. d. M., die der Kurier Consoli und die
Post vom Sonntag mir überbracht haben, gereicht es
mir zu besonderer Befriedigung Ihnen mitteilen zu
können, dass man soeben an General Fermordie aus-
drücklichsten Befehle expediert hat, sofort und ohne
längeres Zögern in Feindesland einzubrechen und so-
gar ohne auf das neue Korps zu warten. Somit wird
natürlich das Unternehmen gegen Danzig fallen ge-
lassen und unsere heissesten Wünsche werden in Er-
füllung gehen.
„Die Höfe von Russland und Schweden haben dem
Hof von Dänemark die zwischen ihnen abgeschlossene
Konvention zwecks Vereinigung ihrer Flotten beim
Sund mitgeteilt, um ihn zu sondieren, ob er sich ihr
anschliessen würde; es wurde ihnen eine zwar in all-
gemeinen Phrasen gehaltene, jedoch sehr freund-
schaftliche Antwort zuteil, hingegen ist Baron von
Osten beauftragt worden, hier mündlich darzulegen,
dass die von den beiden Höfen ihren Flotten ange-
wiesene Station — nämlich der Kanal zwischen der
Insel Seeland und der Insel Saltholm — gerade die
Reede von Kopenhagen bildet und der König von
Dänemark unmöglich seine Zustimmung geben kann,
390
dass sie sich an einem Orte aufhalten, wo sie ihm in
seinem eigenen Machtbereich Gesetze vorschreiben
könnten; jedoch ist der König von Dänemark offen-
bar fest entschlossen, die Immunität der Ostsee gegen
jede fremde Macht zu verteidigen, und so schlägt er
den beiden Kronen vor, ihre Flotten an der Skani-
schen Küste zu stationieren, an jenein berühmten
Orte namens Falsterbo-Riff, ohne sich jedoch zu ir-
gend einem offensiven oder seiner bisher befolgten
Neutralität widersprechenden Vorgehen zu ver-
pflichten.
„Der wunderliche türkische Gesandte hat von
dem Offizier, der für seinen Unterhalt sorgt, er-
fahren, dass ein Kurier nach Konstantinopel ge-
sandt worden ist, um ihn wegen der Zurückhaltung
seines Beglaubigungsschreibens zurechtweisen zu
lassen; er wollte die Richtigkeit dieser Mitteilung
feststellen und hat sich deshalb vor einigen Tagen
zum Herrn Vizekanzler begeben, um die Bestätigung
aus dessen eigenem Munde zu hören. Da der Minister
es ihm bestätigt hat, kann er jetzt die Folgen seiner
Weigerung voraussehen.
„Seine Hoheit der Grossfürst und Ihre Hoheit die
Grossfürstin sind vergangenen Sonnabend nach Ora-
nienbaum abgereist. Die Kaiserin wird sich vielleicht
gegen Ende dieser oder zu Beginn der nächsten Woche
nach Peterhof begeben. Im Gefolge I. Majestät wird
sich auch S. Hoheit Prinz Karl befinden, der nunmehr
den Termin seiner Abreise heranrücken sieht."
Brief an denselben vom 16. Juni 1768.
„Der Brief Ew. Exzellenz mit Datum vom 5. Juni
d. M., den ich mit letzter Post erhalten habe, erfor-
391
dert keine Antwort, so beehre ich mich nur mitzutei-
len, dass der Herr Vizekanzler die Vorstellungen des
dänischen Gesandten wegen Stationierung der russi-
schen und schwedischen Flotten im Kanal zwischen
der Insel Seeland und der Insel Saltholm, welche die
Reede von Kopenhagen bilden, gerechtfertigt gefunden
und den Vorschlag angenommen hat, die Flotten an
der Skanischen Küste zu stationieren, bei Falsterbo-
Riff; man wird daher die gemeinsamen Abmachun-
gen der beiden Höfe dahin abändern und letzteren
Ort zu diesem Zwecke bestimmen. Es ist anzunehmen,
dass der Hof von Stockholm mit gleicher Leichtig-
keit darauf eingehen wird.
„Die neue Deklaration über den Handel mit den
Staaten des Königs von Preussen wurde soeben ver-
öffentlicht, wie Ew. Exzellenz es in der beigefügten
Gazette dieser Stadt lesen können.
„Ich werde morgen mit dem Herrn Vizekanzler
wieder über die seit langem versprochene Aufhebung
des Sequesters in Preussen sprechen.
„Beim türkischen Gesandten ist ein Kurier aus Kon-
stantinopel angekommen, durch den man ihm seine
Ungeschicklichkeiten und seine Schikanen vorwirft,
die schon auf dem Wege hierher begonnen hatten; im
übrigen wird ihm ausdrücklich anbefohlen, sich in
allem nach dem Verhalten seines Vorgängers zu rich-
ten, nur auf solche Weise könne er die Billigung des
grossmächtigen Sultans erlangen; nun wird er sich
also genötigt sehen, sein Beglaubigungsschreiben, wie
verlangt, dem Herrn Vizekanzler auszuhändigen.
„In diesem Augenblick erhalte ich durch einen
französischen Kurier den Brief, mit dem Ew. Exzel-
lenz mich am io. dieses Monats beehrten, und mit
392
Grossfürstin Katharina
(von Anna Rosina Liscewska um 1747)
(Original im Herzogl. Anhalt. Schlosse Zerbst)
wahrer Freude nehme ich Kenntnis von dem Eintref-
fen eines Teils der russischen Truppen des Korps der
3oooo Mann in Xowv Dwör.
„Was die wiederholte Bemerkung Ew. Exzellenz
bezüglich meiner Abreise betrifft, so flehe ich Sie an,
direkt an den Herrn Vizekanzler zu schreiben, um
von ihm selbst zu erfahren, ob meine Anwesenheit
hier am Orte in der kurzen Zeitspanne, die mir noch
bis Ende Juli verbleibt, dem Dienst des Königs von
Nutzen sein kann oder schaden könnte und wie dieser
Minister über mich denkt; ich nehme mir die Frei-
heit, Ew. Exzellenz diesen Vorschlag zu machen, da-
mit Sie feststellen können, dass ich in meinen frü-
heren Berichten hierüber gewiss nicht zu viel gesagt
habe."
Brief an denselben vom 20. Juni iy58.
„Die vorgestrige Post hat mir den Brief Ew. Exzel-
lenz vom 7. und den Auszug eines Briefes aus Wien
überbracht, über den Marsch der Reichstruppen zwecks
Vereinigung mit dem Korps des Generals Serbelloni
und mit der Fortsetzung des Journals des mährischen
Feldzugs bis zum 2. d. M., worin der Beginn der Ka-
nonade von Olmütz durch die Preussen verzeichnet ist.
„Wenn mau all diese Neuigkeiten zusammen kom-
biniert, so lässt sich erkennen, dass der Feind gegen-
wärtig seine Operationen nicht mit solcher Leichtig-
keit ausführen kann, wie zu Beginn der vorjährigen
Kampagne, dass aber, um ihn noch mehr zu beun-
ruhigen und um den Österreichern Luft zu schaffen,
eine rasche Diversion der Alliierten vonnöten ist. Wir
haben keinen Anlass zu zweifeln, dass sie seitens der
russischen Armeen bald effektuiert wird.
393
„Vergangenen Sonnabendhabeich auch endlich eine
Note erhalten, worin gesagt wird, dass die Kaiserin
mit Rücksicht auf das Ersuchen des Königs, unseres
Herren, General Fermor den Befehl erteilt habe, nicht
allein das Sequester aufzuheben, mit dem die Güter
der preussischen Minister, die sich aus Königsberg zu-
rückgezogen hatten, belegt waren, — obgleich sie
durch ihr Verhalten die Konfiskation verdient hatten,
— sondern ihnen auch die Einkünfte wieder zu erstat-
ten, die in die Kasse I. K. Majestät geflossen waren.
„Vorgestern, Sonntag, hat Feldmarschall Graf Ra-
zumowski für S. Hoheit den Prinzen Karl einen Ball
gegeben, auf dem I. K. Majestät erschienen ist. Die
ausländischen Minister sind nicht eingeladen worden,
aus Kompetenzgründen, denen man aus Rücksicht
auf die beiden Gesandten bei dieser Gelegenheit aus
dem Wege gehen wollte. Ich als Pole hatte die Ehre,
dem Ball ä la suite S. K. Hoheit beizuwohnen. Mor-
gen findet bei Hofe eine Maskerade statt. Der Tag der
Abreise I. K. Majestät nach Peterhof steht noch nicht
fest. "
Brief an den Grafen Brühl vom a3. Juni 1708.
„Ich füge eine Kopie der dem dänischen Gesandten
zuteil gewordenen Antwort bei, betreffs der mit Schwe-
den abgemachten Massnahmen zwecks Sperrung des
Zugangs zur Ostsee für eine englische Eskader, worin
gemäss dem Vorschlag S. Majestät des Königs von Dä-
nemark der zur Stationierung der vereinigten Flotten
beider Kronen festgesetzte Ort abgeändert wird. Die-
ser Minister hat übrigens den Auftrag erhalten, hier
zu erklären, dass, obwohl der König, sein Herr, auf
394
seinem unabänderlichen Entschlüsse besteht, in diesem
Kriege die exakteste Neutralität zu bewahren und in
keiner Weise daran teilzunehmen, er sich dennoch
nicht enthalten konnte, 24 000 Mann seiner Truppen
nach Holstein zu entsenden, doch sei dies nur eine
Vorsichtsmassnahme zur Sicherung der Grenzen sei-
ner in Deutschland gelegenen Staaten, in Anbetracht
der kritischen Umstände, worin sie sich befänden,
nämlich in Nähe der Operationen der sich bekriegen-
den Mächte. Vielleicht hat das Beispiel Mecklenburgs,
das die Preussen ohne Grund besetzt haben, den Kö-
nig von Dänemark zu dieser Massnahme zwecks Si-
cherung seiner Staaten bestimmt, sollte es den König
von Preussen gelüsten, dort etwas zu unternehmen.
„Als ich den Herrn Vizekanzler bat, mir über Dan-
zig zu berichten, und ihm sagte, die Entfernung der
Armee des Generals Fermor aus Preussen werde zwei-
fellos die Einwohner dieser Stadt beruhigen und dies
sei in der Tat eine gute Gelegenheit, ehrenvoll und
mit Anstand aus dieser Sache herauszukommen, da
erwiderte er mir: man wolle sie noch in Ungewissheit
lassen, ohne ihnen während einiger Zeit Antwort zu
geben, um sie — so lautete der von ihm gebrauchte
Ausdruck — zwischen Hammer und Amboss zu hal-
ten; dies werde jedoch den Weitermarsch der Armee
nicht aufhalten, deren Avantgarde, nach den letzten
Berichten, nur noch drei Meilen von der Netze ent-
fernt sei. Es scheint, dass man es sich auf diese Weise
vorbehalten will, gegebenen Falles dieses Projekt, für
das man bisher so viele fruchtlose Bemühungen auf-
gewendet hat, weiter zu verfolgen, aber man muss
hoffen, dass diese Vorsichtsmassnahme nicht mehr
nötig sein wird.
395
„Die Neuigkeiten, die in dem mir gestern zuge-
kommenen Briefe Ew. Exzellenz vom 12. enthalten
sind und die sich nicht nur auf den Marsch dieser
Truppen beschränken, sondern besagen, dass sogar
das Korps General Browne ohne Rast seinen Weg
fortsetzt, lassen uns nicht mehr daran zweifeln,
dass unser Wunsch einer raschen Diversion in Erfül-
lung gehen wird, die für die gemeinsame Sache von
grösstem Nutzen sein muss in einem Augenblick, wo
der König von Preussen sich in Mähren festgelegt
hat und seine eigenen Staaten gegen eine so ansehn-
liche Armee nur schwach verteidigen kann.
„S. Hoheit Prinz Karl nahm gestern am Ball und
Souper beim Grafen Peter Schuwalow teil. Die vor-
gestrige Maskerade bei Hofe war prachtvoll. Heute
wird S. K. Hoheit dem Stapellauf eines Schiffes bei-
wohnen, das mit hundert Kanonen ausgerüstet wer-
den soll und erst kürzlich auf der hiesigen Werft
fertiggestellt wurde.
„Die Kaiserin soll dieser Tage nach Peterhof auf-
brechen."
Brief an denselben vom 27. Juni 1758.
„Der Herr Vizekanzler hat mir eine Kopie gezeigt,
die man sich von dem Brief zu verschaffen gewusst
hat, den der türkische Gesandte neulich vom Gross-
vesir erhalten hat. Er ist nicht im Stil der Orienta-
len geschrieben, man könnte fast sagen, ein Europäer
habe ihn diktiert. Der Premierminister macht ihm erst
Vorwürfe, dass er sich unterwegs so ungebührlich be-
tragen, belehrt ihn dann, wie er sich künftighin ver-
halten solle, um dem Wunsche des allgewaltigen Sul-
tans zu genügen, der die Freundschaft und das gute
396
Einverständnis mit Russland zu erhalten bestrebt sei,
wie er auf solche Weise vor den Augen seines Mei-
sters Beifall und Gnade finden werde, und macht
ihn darauf aufmerksam, dass gegenteilige Schritte ihm
seinen gerechtfertigten Unwillen zuziehen würden.
Es scheint nun, dass er von seinem Verlangen ablas-
sen wird, sein Beglaubigungsschreiben während der
Audienz in die Hände der Kaiserin selbst zu über-
geben, er macht nur noch einige minder wichtige
Schwierigkeiten, wie zum Beispiel dass man ihn nur
an einer Hand halten darf, wenn er den Audienzsaal
betritt.
„Man glaubt, dass seine Chikanen einem Plan ent-
springen, den er sich zu seinem eigenen Vorteil er-
dacht hatte. Seinerzeit hat er in der Eigenschaft eines
Kiaja den Gesandten begleitet, der nach dem letzten
Friedensschluss mit der Türkei hierher kam. Die Kai-
serin Anna war nicht mehr am Leben, die Regent-
schaft der Prinzessin von Braunschweig war noch
nicht stabil, man wollte die Pforte in jeder Weise
schonen, und sobald jener Gesandte irgendwelche
Prätentionen erhob oder Schwierigkeiten machte,
gab man ihm Geld, um ihn zu beschwichtigen. Der
jetzige Gesandte hatte sich wohl vorgenommen, den
Spuren jenes Ministers zu folgen, entweder weil er
sich Geld verschaffen wollte oder um sich der Pforte
verdienstlich zu machen, indem er noch höhere An-
forderungen stellte als seine Vorgänger. Man hat ihm
aber deutlich zu verstehen gegeben, dass die Dinge
im gegenwärtigen Augenblick ganz anders liegen,
dass der Thron der Kaiserin durchaus fest steht und
nichts Ähnliches wie damals zu befürchten ist, dass
er infolgedessen sich nicht einbilden solle, er werde
397
durch seine Opposition etwas erpressen oder auf sol-
che Weise zu Geld kommen.
„P. S. Ich muss Ew. Exzellenz Rechenschaft able-
gen über einen kleinen Zwischenfall, der sich heute
beim französischen Ambassadeur ereignet hat, als wir
im Gefolge S. Hoheit des Prinzen Karl uns zum Di-
ner dorthin begeben hatten. Graf Esterhazy, bei dem
gestern ein Kurier angekommen war, begab sich in
das Schlafzimmer des französischen Gesandten, um
S. K. Hoheit den Inhalt seiner Depesche bekannt zu
geben. Der französische Ambassadeur und der schwe-
dische Gesandte folgten ihm; ich sah, dass man auch
Baron de Wittin ghoff herbeirief, einen Chevalier der
französischen Gesandtschaft. Ich folgte ihm dicht auf
den Fersen und Herr Marquis de lHöpital musste
mich sicherlich gesehen haben, denn ich stand ihm
gegenüber, face ä face, dennoch stiess er die Türe zu,
als wollte er das Zimmer vor mir verschliessen. Ich
fragte den Ambassadeur, ob die Türe sich vor mir
schliessen sollte? Er sagte in einer gewissen Verle-
genheit: ,nein, im Gegenteil.1 So trat ich denn ein.
Graf Esterhazy begann das am Tage vorher erhal-
tene Reskript vorzulesen, dessen erste Paragraphen
sich auf die Danziger Affäre bezogen, und es war dar-
in unter anderem gesagt, man wünsche sie ohne Ge-
waltmassregeln beendet zu sehen. Bei dieser Stelle
sagte Graf Esterhazy, zu mir gewandt: ,Ich habe Ih-
nen von allem Anfang an gesagt, es würde so kommen.1
Ich erwiderte: ,Sie allein haben mich damals in dieser
Hinsicht beruhigt.''
„Daraufhin bemerkte Marquis de lHöpital, auch
er habe stets dasselbe gesagt. Ich fühlte, dass er mit
mir anbinden wollte, und ich versuchte, einen Streit
398
zu vermeiden (denn ich wäre genötigt gewesen, im
Falle einer Diskussion ihm nachzuweisen, dass er mir
erst viel später als Graf Esterhazy Hoffnungen ge-
macht hatte und anfänglich das Ganze als Bagatelle
behandelt hatte, genau so wie in der Elbinger Sache).
Also wie gesagt, um einen Streit zu vermeiden, gab
ich mir den Anschein , als wäre ich völlig in das Anhö-
ren der Lektüre dieses Schriftstücks vertieft, doch
Monsieur de FHöpital erhob die Stimme und sagte:
„, Monsieur le comte Poniatowski, ich spreche zu
Ihnen.'
„Ich antwortete, mich leicht verneigend:
„,Ieh habe die Ehre, Sie zu hören.'
„Er wiederholte noch lebhafter:
„,Aber ich sage doch, dass ich Ihnen hier, in diesem
selben Zimmer gesagt habe, Russland werde niemals
Gewaltmassregeln ergreifen.'
„Und ich antwortete:
„, Ja wohl, aber anfänglich haben Sie mir in dieser
Sache nicht den erbetenen Beistand geleistet.'
„Jetzt vergass er sich so weit, zu sagen :
„,Das ist nicht wahr!'
„Da ergriff ich seine Hand und sagte im selben
Tonfall:
„,Man spricht nicht so zu mir!'
„Er wurde ruhiger und sagte in nicht mehr so lau-
tem Ton:
„,Aber ich behaupte ja bloss, dass ich gesagt habe,
Russland werde nicht zu Gewaltmassnahmen schrei-
ten.'
„Da diese peinliche Szene lange genug gedauert
hatte und ich es nicht zu Schlimmerem kommen
lassen wollte, sagte ich : ,Das ist wahr,'1 — und schwieg,
399
um in Rübe und kaltblütig nachdenken zu können,
dann wollte ich sehen, was zu machen war. Graf
Esterhazy setzte die Lektüre fort: an Neuigkeiten er-
fuhren wir bloss, dass das Lager, welches man für
alle Fälle bei Wien versammelt hatte, als der König
von Preussen bis nach Deschna vorgestossen war, jetzt
aufgelöst wird; die 10 000 Mann sächsischen Fuss-
volks ziehen gegenwärtig weiter und die 3ooo Tos-
kaner und andere kroatische Truppen sind nach
Mähren aufgebrochen, da, allem Anschein nach, der
König von Preussen bald gezwungen sein wird, aus
freien Stücken sich aus der misslichen Lage zu lösen,
in die er geraten ist. Das Schriftstück schloss mit ei-
ner äusserst dringenden Anspornung der Russen.
„Während der Lektüre war der Herr Vizekanzler
herbeigekommen, kurz nach meinem Rencontre mit
dem französischen Ambassadeur; sobald die Lektüre
beendigt war, ging er hinaus, und in diesem Augen-
blick wandte sich Monsieur de lHöpital mit äusserst
höflicher Miene zu mir und sagte:
„, Monsieur, es schickt sich nicht für uns, mitein-
ander Streit zu haben oder gar scharfe Worte zu
wechseln, und schon gar nicht in Gegenwart S. Ho-
heit des Prinzen, und es tut mir sehr leid, dass dies
vorgefallen ist.' Worauf ich entgegnete:
„,lch weiss nicht, was ich Ihnen antworten soll, es
sei denn, dass die Schuld nicht auf meiner Seite liegt."
„Hieraufsagte er noch höflicher und milder:
„,Nun, wenn die Schuld an mir lag, so schmerzt es
mich um so mehr, hauptsächlich deshalb, weil ich
durchaus und in allem als Ihr Freund und Diener
handeln will.'
„Er nahm mich bei der Hand und machte mir noch
4oo
einige Komplimente, sich weiter entschuldigend; ich
berichte jedoch nur die Ausdrücke, deren ich mich
ganz deutlich entsinne und die ich wirklich als Ent-
schuldigung gelten lassen konnte, worauf ich ihm
denn auch erwiderte: ,/Vwn, so lassen wir es gut seini;
und da er wiederholte: ,als Freund und Diener1, so
fügte ich hinzu : ,In diesem Falle habe ich Ihnen sogar
zu danken.1 Hiermit endete diese Szene, ohne dass einer
der Anwesenden sich eingemengt hatte, und wir alle
verliessen das Zimmer.
„Da wir beide in amtlicher Eigenschaft hier sind,
Monsieur de THopital sogar das Amt des französi-
schen Ambassadeurs bekleidet und es gerade um
eine so heikle Sache wie Danzig ging, so habe ich
geglaubt, jeden weiteren Skandal vermeiden zu müs-
sen, und habe mich mit der Art, wie dieser Handel
beendet wurde, zufrieden gegeben."
26 Poniatowski
4oi
ZEHNTES KAPITEL
BRIEF AN DEN GRAFEN BRÜHL VOM 4. JULI. ICH
VERLANGE EINEN PASS FÜR MEIN SILBER. ER-
STER ZUSAMMENSTOSS DER PREUSSEN MIT DEN
RUSSEN FERMORS. RATIFIKATION DER FLOT-
TENKONVENTION VON ELISABETH UNTERZEICH-
NET. PRINZ KARL REI DER RUSSISCHEN FLOTTE
IN KRONSTADT. — BRIEF AN DEN GRAFEN RRÜHL
VOM 1 1 . JULI. ERNEUERUNG DES TRAKTATS MIT
SCHWEDEN. WEIGEBUNG, DIE RÜCKSTÄNDIGEN
GELDER ZU ZAHLEN. BESTUSCHEW ERHÄLT
i5oo RUBEL UND 5 RUBEL TÄGLICH. — RRIEF
AN BRÜHL VOM 1 4. JULI. AUFHEBUNG DER BE-
LAGERUNG VON OLMÜTZ. DIE SCHLACHT BEI
KREFELD. AUSFAHRT DER RUSSISCHEN FLOTTE.
AUDIENZ DES TÜRKISCHEN GESANDTEN. ARBEISE
DES PRINZEN KARL. — BRIEF AN BRÜHL VOM
18. JULI. IWAN SCHUWALOW WILL NICHT
VIZEKANZLER WERDEN. RZEWUSKI UND ICH
GEHEN NOCH EINMAL NACH PETERHOF. — BRIEF
AN BRÜHL VOM 25. JULI. NÄHERES ÜRER DIE
AUFHEBUNG DER BELAGERUNG VON OLMÜTZ.
SCHWEDISCHE REKRUTEN WERDEN VON DEN
PREUSSEN IN EINER DANZIGEB VORSTADT
AUFGEHOBEN. — BRIEF AN RRÜHL VOM 28.
JULI. GENERAL REZANOW IST AN DER AUF-
HEBUNG DIESER SCHWEDISCHEN REKRUTEN
SCHULD. FERMORS LANGSAMKEIT. RROCKDORFS
UND NARISCHKINS KREDIT IM SINKEN. — BRIEF
AN BRÜHL VOM 4. AUGUST. L'HÖPITAL GIBT
BBOCKDOBF DEN RAT, SICH ZU ENTFERNEN.
IIHlmilMIIIIIIIIIIM HIHIHI
Brief an den Grafen Brühl vom 4- Juli 1758.
Mit vorgestriger Post habe ich den Brief Ew.
Exzellenz vom 21. d. M., Nr. 46, erhalten.
„Was mir darin bezüglich meiner bevorstehenden
Abreise aufgetragen wird, habe ich bereits ausge-
führt, indem ich dem Herrn Vizekanzler schon vor
drei Wochen meine Abreise mitgeteilt habe ; ich habe
sogar die ersten Reisevorbereitungen bereits getrof-
fen und den erforderlichen Pass verlangt, um mein
Silber ausführen zu können.
„Gestern kam hier die Kunde von einem Zusam-
menstoss zwischen einem Detachement der Armee
des Generals Fermor und einem Teil der Preussen,
zum Nachteil der letzteren, die 28 Mann verloren,
ausserdem hat man ungefähr 3o Gefangene gemacht,
darunter einen Kornett, der Rest wurde zersprengt
und die Verfolgung bis gegen Stettin aufgenommen.
„Die Kaiserin hat die Ratifikation der Konven-
tion mit Schweden bezüglich Vereinigung der Flot-
ten beider Kronen unterzeichnet, gleichzeitig auch
die Vollmacht des Herrn Vizekanzlers für die Er-
neuerung des Traktats zwischen diesem Hofe und
Stockholm, das im Jahre 174^ abgeschlossen wurde
und jetzt abgelaufen ist. Auf die Anfrage des
schwedischen Gesandten wegen eines Ankaufs von
4o4
4 ooo Lasten Getreide in Livland für Schweden wurde
ihm jedoch eine ablehnende Antwort zuteil, weil die
Russen es selber brauchten. Man wird aber hierbei
nicht mit aller Strenge verfahren und unter der
Hand die Ausfuhr einer gewissen Menge zum Profit
einiger Privatleute begünstigen.
„S. K. Hoheit Prinz Karl hat sich gestern mit sei-
nem ganzen Gefolge auf einer Yacht der Kaiserin
nach Kronstadt begeben; bei ihrer Annäherung an
die dort vor Anker liegende Flotte hat die Yacht elf
Salutschüsse abgegeben, worauf das Admiralschiff
mit neun Salutschüssen erwiderte. Admiral Miszu-
kow empfing S. K. Hoheit mit allen Ehren auf sei-
nem Flaggschiff, das den Namen St. Nikolaus führt
und mit 84 Kanonen armiert ist. Die Matrosen ma-
növrierten und die ganze Flotte entfaltete die Segel.
Wir dinierten dort an einer Tafel von 3o Gedecken.
Unter Kanonendonner trank man auf das Wohl
I. K. Majestät, S. K. Hoheit des Prinzen, des Admirals
und der ganzen Admiralschaft, auf den Erfolg der
Flotte und den der Kampagne S. K. Hoheit des Prin-
zen mit den kaiserlich russischen Armeen. Nach dem
Diner begab sich S. K. Hoheit mit seiner ganzen
Suite auf Schaluppen nach dem Hafen, um ihn sowie
den berühmten Kanal zur Ausbesserung der Schiffe
zu besichtigen, einem Werk der alten Römer würdig.
1 2 Linienschiffe und eine Fregatte liegen auf der
Reede, fast alle bereit in See zu stechen, und im Ha-
fen werden noch einige equipiert. Hiervon abgesehen,
ist Vizeadmiral Polanskij in Reval gleichfalls be-
reit, mit einer Eskader auszufahren, so dass die ganze
Seemacht einige zwanzig Segel beträgt. Es wird ver-
sichert, dass sie bald in See stechen soll.
4o5
„Monsieur le baron Lefort, von I. K. Majestät Gna-
den zum Oberzeremonienmeister ernannt, hat sein
Amt vorgestern angetreten, den Titel führt Graf
Santy indes noch weiter."
Brief an denselben vom 11. Juli 1758.
„Das im Jahre 174^ für 12 Jahre abgeschlossene
Traktat der Defensiv-Allianz und des Handels mit
Schweden ist erneuert und von den Ministern bei-
der Höfe hiei unterzeichnet worden; es soll durch-
weg dem ersten gleichlauten, die Ratifikationen sol-
len in Stockholm ausgewechselt werden. Auf Schwe-
dens Aufforderung an Russland, das Geld zu zahlen,
das es noch zu fordern hat, wurden jedoch nur die
ungeheuren Ausgaben dieses Krieges als Entschuldi-
gung vorgebracht und die Zahlung nach Friedens-
schluss versprochen.
„Vor einigen Wochen, als es der Kaiserin zu Ohren
kam, dass es dem früheren Kanzler an Geld zur Be-
streitung seines Haushaltes fehle, liess sie ihm tau-
send Rubel übergeben und befahl sie zu benachrich-
tigen, sobald das Geld ausgegeben sein würde. I. K.
Majestät hat ihm soeben wieder i5oo Rubel auszah-
len lassen und ihm ausserdem fünf Rubel pro Tag
angewiesen, zum täglichen Unterhalt. Im übrigen
schwebt sein Los sowie das Los aller zur selben Zeit
arretierten Personen immer noch in derselben Unge-
wissheit, abgesehen davon, dass die Aktiva und Pas-
siva des Juweliers Bernardi liquidiert werden."
Brief an denselben vom 14. Juli 1768.
„Die Aufhebung der Belagerung von Olmütz, der
4o6
die Niederlage eines ansehnlichen preussischen Korps
vorangegangen ist, das einen Konvoi für das bei die-
ser Stadt aufgeschlagene Lager eskortierte, ist von so
grosser Bedeutung, dass man hiervon die segensreich-
sten Folgen für die gerechte Sache erhoffen darf. Es
bereitet mir eine persönliche Genugtuung, dass ge-
rade mein Bruder1) beauftragt wurde, diese erfreu-
liche Nachricht dem König, unserem allergnädigsten
Herren, zu überbringen. Was die Schlacht zwischen
den Franzosen und den Hannoveranern betrifft, so
sind hier noch keine anderen Details bekannt, als sie
die Berliner Gazette bringt, jedoch um sie richtig
zu beurteilen muss man den Bericht der anderen
Parteien abwarten und ob in der Folge Graf de Cler-
mont noch in der Lage sein wird, den erlittenen Ver-
lust wettzumachen oder zum mindesten die weite-
ren Fortschritte des Feindes zu verhindern.
„Die russische Flotte, die wir in Kronstadt gese-
hen haben, ist nicht mehr dort; sie ist gestern früh
unter Segel gegangen, bei günstigstem Winde und
herrlichstem Wetter.
„In meinem letzten Briefe habe ich vergessen, die
Audienz des türkischen Gesandten zu erwähnen, die
vergangenen Sonntag in Peterhof stattgefunden hat,
als er endlich von seinen lächerlichen Forderungen
Abstand nahm und sich dem Brauch unterordnete,
gemäss der strikten Ordre, die er diesetwegen von
Konstantinopel erhalten hat. Mit seinem jetzigen Be-
nehmen ist man ziemlich zufrieden; morgen wird
man ihn in die italienische Oper führen, und es wird
nur an ihm liegen, alle Annehmlichkeiten zu genies-
*) Andreas Poniatowski. Anm. d. Herausg.
4o7
sen, die man ihm zeit seines ferneren Aufenthaltes
hier zu gewähren geneigt ist.
„S. Hoheit Prinz Karl reist heute ab, mit dem
Sankt-Andreas-Orden beschenkt und von I. K. Ma-
jestät mit Wohltaten überschüttet. Da er selbst dem
König über alles Rechenschaft ablegen wird, was
man für ihn und die königliche Familie getan hat,
so dispensiere ich mich von dieser Wiederholung. Es
steht fest, dass ihm jede erdenkliche Auszeichnung
zuteil wurde; doch hinterlässt auch er in allen Her-
zen Trauer über seine Abreise.
„Ich habe zugleich mit S. K. Hoheit Urlaub ge-
nommen und rechne damit, in drei Wochen abreisen
zu können. Während der kurzen Zeit, die mein Auf-
enthalt hier noch währen wird, werde ich mich auch
ferner bemühen, dem Könige mit all meinem Eifer
und aller Sorgfalt zu dienen in jeder Sache, wo es
noch vonnöten sein wird, denn seine allerhöchste
Anerkennung zu verdienen wird stets mein grösstes
Glück sein."
Brief an denselben vom 18. Juli 1758.
„Da hier das Gerücht verlautete, das Amt des
Grosskanzlers werde alsbald dem Grafen Woronzow
verliehen und Kammerherr Schuwalow an seiner
Statt zum Vizekanzler ernannt werden, so habe ich
letzteren um Aufklärung gebeten; er gab mir zur
Antwort, dies sei durchaus nicht sein Wunsch, er
habe ohnedies genug Sorgen und wolle sich nicht
noch in neue Verlegenheiten stürzen. Vielleicht wäre
es gut, wenn er diesen Posten annähme, denn dann
würde man mit ihm als Minister verhandeln, wäh-
4o8
HA TL I IH K I! Hl-
rend er sich gegenwärtig zwar in alles einmengt,
wenn man jedoch mit ihm über eine Sache sprechen
will stets behauptet, ihm sei hierüber nichts bekannt
und er könne sich auf nichts einlassen. Andererseits
käme man wieder in die gleiche Verlegenheit wie zu
Zeiten des Grosskanzlers Bestuscbew, weil der Mini-
ster zweiten Ranges der erste im Ansehen wäre aber
noch viel mehr Einfiuss hätte, als Graf Woronzow
ihn damals besass, woraus notwendigerweise gegen-
seitige Eifersucht entspringen müsste.
„Da die Kaiserin wissen liess, die Kavaliere der
Suite S. K. Hoheit des Prinzen Karl, die sich noch
hier befänden, könnten, obgleich sie sich bereits be-
urlaubt haben, vorgestern, Sonntag, zum Empfang
nach Peterhof kommen, so hat sich der Feldsekretär
Rzewuski, der erst morgen abreist, hinbegeben; der
Herr Starost von Warschau blieb weg, weil er sonst
nicht hätte gestern abreisen können, wie es gesche-
hen ist. Ich bin hingegangen, weil es mir ganz be-
sonders nahegelegt wurde, und wahrscheinlich werde
ich genötigt sein, jedesmal, so oft Cour stattfindet,
hinzugehen, bis zu meiner Abreise, — spätestens in
drei Wochen. I. K. Majestät hat sich jedoch nicht in
der Öffentlichkeit gezeigt, da sie einen leichten
Rheumatismus im Arm verspürt, die Folge einer Er-
kältung durch Zugwind."
Brief an den Grafen Brühl vom 20. Juli 1758.
„Die Depesche Ew. Exzellenz vom 12. d. M., die
mich mit den Folgen der Aufhebung der Belagerung
von Olmütz bekannt macht, ist um so interessanter,
als es den Anschein hat, dass der König von Preus-
sen sogar noch auf seinem Rückzug ein Unternehmen
4o9
gegen Böhmen plant; vielleicht aher beabsichtigt er
nur, über Leutomischel nach der Grafschaft Glatz
zurückzukehren; wie auch sein Plan sein mag, es ist
zu hoffen, dass die Dispositionen des Marschalls Daun
ihm bei der Ausführung seines Planes grosse Schwie-
rigkeiten bereiten werden.
„Nach den letzten Nachrichten, die das Ministerium
von der Armee General Fermor erhielt, war das
Hauptquartier in Meseritz, und wenn ich dies mit den
uns von Ew. Exzellenz zugekommenen Informationen
zusammenstelle, so muss ich annehmen, dass die Ar-
mee sich gegenwärtig bereits in Schlesien befindet.
„Der Herr Vizekanzler hat mir mitgeteilt, dass
eine Abteilung preussischer Husaren, von dem verklei-
deten preussischen Residenten angeführt, 43 schwe-
dische Rekruten in einer Vorstadt Danzigs überrascht
und aufgehoben hat und dass der Resident hernach
sich in der Stadt rühmte, diesen Coup trotz der Nähe
der russischen Armee ausgeführt zu haben ; der Herr
Vizekanzler gab mir zu verstehen, dass wenn die
Danziger seitens der Preussen solche Unbill dulde-
ten, man eines schönen Tages auf gleichem Wege
die Preussen aus ihrer Stadt herausholen würde. Ich
glaube also, man muss den Danzigern befehlen, sie
sollen unverzüglich beim König von Preussen hef-
tigste Klage erheben wegen dieser durch seine Hu-
saren begangenen Gebietsverletzung und gleichzeitig
in aller Öffentlichkeit Schritte unternehmen, um den
Russen und den übrigen Verbündeten bekannt zu
geben, dass sie sich beschwert haben und dass sie
mit dem oben erwähnten Attentat durchaus nicht
einverstanden sind, sondern sich im Gegenteil da-
durch aufs äusserste verletzt fühlen."
4 10
Brief an denselben vom 28. Juli 1708.
„Ich danke Ew. Exzellenz für die mir im Brief
vom 27. d. M. freundlichst übermittelten Nachrich-
ten über die Operationen des Marschalls Daun, die
den Zweck haben, den König von Preussen auf sei-
nem Rückzug aus Mähren möglichst zu belästigen.
Den 16000 Mann, die er nach Oberschlesien deta-
chiert hat, wird gewiss irgend ein Unternehmen ge-
lingen, indes die grosse Armee den Feind beobachtet.
„Ich habe Ew. Exzellenz in meinem letzten Briefe
mitgeteilt, was der Herr Vizekanzler bezüglich der
Aufhebung schwedischer Rekruten in Danzig gesagt
hat, wovon Sie Erwähnung machen; ich werde ihm
morgen sagen, dass Sie mir geschrieben haben um
mich aufzuklären, dass es General Rezanows Schuld
ist, wenn preussische Husaren so weit vordringen
konnten, da man ihn doch ausdrücklich zur Deckung
des Landes dort gelassen hat. Die Berichte, die hier
angeblich von General Fermor einlaufen, decken sich
nicht mit jenen, die ich von Ew. Exzellenz erhalte.
Jene lassen die Truppen rascher marschieren, als es
in Wirklichkeit der Fall ist. Vor acht Tagen wurde
gesagt, die Vereinigung mit dem Korps General
Brownes sei bereits vollzogen, und hernach, das
Hauptquartier befinde sich bereits in Meseritz, aber
die Depesche Ew. Exzellenz belehrt mich, dass Fer-
mor, der am 1 1 . das Lager bei Posen aufgehoben
hat, nur eine halbe Meile vorgerückt ist und dass
man nicht genau unterrichtet ist, wo Browne sich
eigentlich befindet. Wie dem auch sei, sie müssen
doch endlich vorrücken und können nicht ewig in
Polen stecken bleiben.
„Ich glaube Ew. Exzellenz einen interessanten
4n
Umstand berichten zu müssen. Brockdorfs Ansehen,
das bei der Kaiserin schon völlig zerstört war, als
sie von seinem Charakter und seinen Handlungen
Kenntnis erhielt, ist jetzt auch beim Grossfürsten
stark im Sinken begriffen und seine Reden machen
keinen Eindruck mehr. Eines Tages hat er sich
herausgenommen, an der Tafel S. Kaiserlichen Ho-
heit ganz öffentlich zu sagen, Prinz Karl sei her-
gekommen, um Kurland zu erhalten, er werde es je-
doch nicht bekommen; dass er wiederkommen wolle,
man würde aber Mittel finden, ihn daran zu hin-
dern; und er fügte hinzu, obzwar er den polnischen
Orden durch den Prinzen nicht erhalten habe, würde
er ihn dennoch bekommen, denn der Gesandte
Frankreichs habe es ihm versprochen. Kammerherr
Lew Alexandro witsch Narischkin, ein anderer Günst-
ling des Grossfürsten, sieht das Vertrauen, das S. K.
Hoheit ihm entgegenbrachte, gleichfalls schwinden.
Die Dinge haben sich am jungen Hofe in gar man-
cher Hinsicht verändert und werden sich allem An-
schein nach noch mehr ändern."
Brief an denselben vom 4- August 1 758.
„Ich habe gestern die beiden Briefe erhalten, mit
denen Ew. Exzellenz mich am 24. und 27. v. M. be-
ehrten, obgleich Sie im Zweifel waren, ob die Briefe
mich noch hier antreffen würden. Es werden wohl
auch die letzten sein, obgleich ich erst in acht Tagen
abreisen kann, diesmal aber unwiderruflich; ich habe
meine Dienerschaft und Equipage bereits heute ab-
geschickt.
„Die Nachrichten, die Ew. Exzellenz mir über die
weiteren Operationen der österreichischen Armee in
4i 2
Böhmen mitzuteilen belieben, sind ziemlich günstig
und versprechen für den weiteren Verlauf der Kam-
pagne der gemeinsamen Sache den besten Erfolg.
„Es kommen hier ziemlich oft Kuriere von der
Armee General Fermors an, so erst vor einigen Tagen,
und man sagt, sie rücke vor; Ew. Exzellenz sind in
der Lage, raschere und exaktere Berichte zu erhalten.
„Ich danke Ew. Exzellenz für die Übermittlung
der Nachricht, dass S. Hoheit Prinz Karl in bester
Gesundheit in Warschau angelangt ist; er muss die-
sen weiten Weg mit grösster Beschleunigung zurück-
gelegt haben.
„Gestern war in Peterhof nichts los; es verlautet,
dass vielleicht übermorgen, Sonntag, die russische
Oper spielen soll, doch für gewöhnlich erfährt man
solche Dinge hier mit Bestimmtheit erst kurz vor der
Aufführung.
„Ich habe nicht zu viel gesagt, als ich Ew. Exzel-
lenz berichtete, dass Brockdorfs Kredit bei der Kaise-
rin zerstört und beim Grossfürsten im Sinken begrif-
fen ist; es ist jetzt schon so weit gekommen, dass der
französische Ambassadeur, sein Protektor, ihm sogar
den Rat gegeben hat, sich so rasch als möglich zu ent-
fernen. "
I o
ELFTES KAPITEL
ANEKDOTEN ÜBER BERNARDI ÜNDBESTUSCHEW.
— HOCHZEIT EINES HOFFRÄÜLEINS. — MEINE
KRANKHEIT. BOERHAVE. — PRINZ KARL VON
SACHSEN. — DER CHEVALIER D'EON. — EINSIE-
DEL. — DIE GERECHTIGKEIT, DIE ER MIR TROTZ
PRASSE WIDERFAHREN LIESS. DAS ABENTEUER
DES VIZESPIONS. — RZEWUSKI. ZWISCHENFALL
BEIM GESELLSCHAFTSSPIEL „SEKRETÄR". BRA-
NICKI. MEIN MISSGESCHICR VOM 6. JULI. —
MEINE RÜCKKEHR NACH POLEN.
I r"'" "■■■miiiiniiiriniiiiiiiiiimiiiiiiiimmiim lliinnmniiiiiiiimniiiiHnniiiiiiiiiiiiniiiuim,,,,,,,,,,,,,!
Ich habe die obigen Schriftstücke zusammengestellt,
um ein Bild meiner Tätigkeit als Minister zu ge-
ben. Nun fahre ich im Bericht der Anekdoten fort,
die mich persönlich näher betrafen.
Am 25. Februar 1708, bei meiner Rückkehr aus
dem Theater um 10 Uhr abends fand ich Bernardi
bei mir vor; er war ein venezianischer Juwelier, der
oftmals die Briefe des Kanzlers und die meinigen der
Grossfürstin übermittelt und uns ihre Antworten
überbracht hatte. Dieser Mann sagte mir: „alles ist
verloren ; der Kanzler Bestuschew ist verhaftet worden ;
mein Haus wird bereits bewacht; ich war bei Dalo-
glio, als es mir hinterbracht wurde. Ich flehe Sie an,
haben Sie Mitleid mit mir, lassen Sie mich in den
Brunnen Ihres Hauses werfen, damit mir wenigstens
die Folter erspart bleibt, die hierbei Staatsverbrechern
angewandt wird."
Ich überlegte einen Augenblick, dann fragte ich
ihn: „Befindet sich in Ihrem Hause irgend ein Schrift-
stück von der Hand des Kanzlers oder der Gross-
fürstin?"
„Nein, kein einziges," erwiderte er.
„Nun, so ist es am besten, Sie gehen jetzt sogleich
nach Hause, ohne Furcht oder Besorgnis zu zeigen.
Die Milde der gegenwärtigen Regierung und alles,
was ich von dem Verhalten des Grosskanzlers und
4i6
der Grossfürstin weiss, lässt mich voraussehen, dass
nach dem ersten Sturm alles bedeutend weniger tra-
gisch verlaufen wird, als Sie jetzt glauben; sollten Sie
aber versuchen sich zu verstecken (was übrigens nach
einer Stunde schon zwecklos wäre), so würde gerade
dieser Umstand Ihr Los verschlimmern, wenn man
Sie finden und vorführen würde."
Lange beratschlagte ich mit Bernardi und sprach
ihm Mut zu, und schliesslich gelang es mir auch ihn
zu bestimmen, dass er meinem Rat folgte. Zeit meines
Lebens hat mich keine andere Szene so sehr ergriffen;
abgesehen davon, dass Bernardi mir manchen Dienst
erwiesen hatte, war er ein ehrlicher und liebenswür-
diger Mensch. Seine Gefangenschaft war leicht; be-
reits nach einigen Wochen war es beinahe entschie-
den, dass er freigelassen werden sollte, da beeinflusste
der Zwischenfall, derBestuschews Los verschlimmerte,
auch sein Schicksal, so dass er mit einer Rente von
einigen hundert Rubeln nach Kasan verbannt wurde,
wo er starb; seine Frau und seine Kinder erhielten in
Venedig von mir eine Rente.
Nach manchen vorbereitenden Insinuationen, die
Bestuschews Feindevon allen Seiten heranholten, um
ihn bei Elisabeth anzuschwärzen, übernahm es der
französische Ambassadeur Marquis de l'Hopital, der
Kaiserin an einem Hoftag zu sagen (indem er sich ihr
näherte, als wollte er ihr Gewand bewundern): „Ma-
dame, ein Mann ist an Ihrem Hofe, der Ihnen sehr
gefährlich werden kann." Er sprach diese Worte mit
bedeutungsvoller Miene. Elisabeth fragte erschrocken,
wer es denn sei? L'Hopital nannte Bestuschew und
entfernte sich.
Bestuschew, der vor dem im Anzug befindlichen
27 Poniatowski 4'7
Gewitter gewarnt wurde, sah alle seine Papiere durch
und verbrannte alles, was zu vernichten ihm richtig
schien; nun war er der Meinung, er hätte für seine Si-
cherheit durchaus genügend gesorgt, so dass er, als
man ihn im Vorzimmer der Kaiserin verhaftete, ganz
ruhig und beinahe heiter schien und seinen Feinden
sogar mit seiner künftigen Rache drohte.
Als die Kaiserin sah, dass nichts gefunden wurde,
woraus man Bestuschew ein Staatsverbrechen nach-
weisen konnte, tat es ihr leid, dass sie ihn hatte ver-
haften lassen; schon zitterten seine Feinde, da Hess
Elisabeth ihn fragen, ob er vom Grafen Brühl das
blaue Band des Polnischen Ordens für Baron Stambke
— den Minister des Grossfürsten für Holstein — er-
beten hatte? Stambke war eine Kreatur Bestuschews
und der Grossfürstin sehr ergeben. Es ist mir nicht
bekannt, warum Bestuschew obige Tatsache leugnen
wollte; aber er leugnete sie. Elisabeth liess ihn wie-
derholt darnach fragen und Bestuschew verneinte im-
mer hartnäckiger; er ging so weit zu sagen, er sei be-
reit, die Wahrheit seiner Aussage auf seinen Eid zu
nehmen und zur Bekräftigung noch das Allerheiligste
zu empfangen. Jetzt wurde ihm ein mit Bleistift ge-
schriebenes Billett vorgelegt, das er selbst an seinen
Sekretär Kanzler geschrieben hatte und worin er ihm
anbefahl, ja nicht zu vergessen, was er ihm in dieser
Hinsicht aufgetragen. Offenbar war dieser Papierfetzen
Bestuschew bei Durchsicht seiner Papiere entgangen
und er glaubte, alles verbrannt zu haben. Jedoch die-
ser Meineid, zu dem er sich wegen einer solchen Ge-
ringfügigkeit angeboten, vernichtete sein Ansehen in
Elisabeths Augen völlig; ihm selbst sank der Mut
und er änderte seinen Ton, als er sich überführt sah.
4i8
Da man ihm jedoch nichts anderes nachweisen
konnte, begnügte sich Elisabeth damit, ihn nach einer
seiner Besitzungen in der Nähe von Moskau zu ver-
bannen, von wo ihn erst Katharina II. zurückberief.
Am Tage nach der Verhaftung des Kanzlers musste
ich mich zu Hofe begeben, da ein Hoffräulein der
Kaiserin verheiratet wurde; dies war ein Hoffest, dem
beizuwohnen die Etikette alle ausländischen Minister
verpflichtete. Ich hörte dort einen Höfling, den Gra-
fen I. C, damit prahlen, dass er dem armen Bernardi
den Brillantenstern nicht bezahlen werde, den er
kürzlich von ihm erhalten hätte.
Dem Leser wird es nicht unwillkommen sein, die
Beschreibung der Hochzeitsgebräuche an diesem Hofe
bei Vermählung eines Hoffräuleins zu lesen, so wie
sie damals üblich waren.
Sobald die Bewerbung des Freiers von den Eltern
und der Kaiserin genehmigt war, verbrachte er täg-
lich einige Stunden mit seiner Braut in solcher In-
timität, dass es erstaunlich war, wenn dabei keine
Unzuträglichkeiten vorfielen, um so mehr, als für
gewöhnlich eine beträchtliche Zeitspanne, manchmal
über ein Jahr, zwischen der Verlobung und dem
Hochzeitstag verstrich.
Am Abend vor dem Vorabend der Hochzeit wurde
die Ausstattung des Fräuleins in feierlichem Aufzug
nach dem Hause des Bräutigams verbracht und dort
aufgestellt, und die ganze Stadt kam sich diese
Ausstattung ansehen wie in einem Kaufladen.
Während der kirchlichen Trauungszeremonie hiel-
ten zwei assistierende Verwandte über den Köpfen
des Brautpaares vergoldete Kronen aus Holz. Nach
der Trauung führten die Hofmarschälle mit ihren
27* . 4i9
silberverzierten Stäben, auf deren Spitze Adler thron-
ten, einige zeremonielle Tänze an, gefolgt von den
Neu vermählten .
Ein kleiner Baldachin, der über der Mitte der
Abendtafel aufgehängt war, bezeichnete den Platz
der jungen Frau; der junge Ehemann musste über
den Tisch steigen, um den Platz neben ihr einzu-
nehmen, und unterwegs musste er einen Blumen-
kranz erhaschen, der über der jungen Frau aufge-
hängt war. Bei der Hochzeit, von der ich hier be-
richte, wurde dieser Teil der Zeremonie vergessen,
und im Publikum verlautete, genau so sei es auch
mit dem anderen Kränzchen gegangen, dessen Raub
das Hemd der Neuvermählten beweisen sollte, wel-
ches der Etikette gemäss am darauffolgenden Mor-
gen in einer silbernen Schachtel der Kaiserin ad hoc
überbracht wurde.
Man bat mir gesagt, diese Sitte sei durch Peter den
Grossen eingeführt worden, in Anlehnung an Ge-
bräuche, die zu seiner Zeit in der Schweiz gepflogen
wurden.
Heute sollen alle diese Zeremonien abgeschafft und
geändert sein.
Bestuschews Ungnade ging mir sowohl wegen der
Dankbarkeit, die ich ihm schuldete, als auch wegen
des Rückschlags auf die Grossfürstin so nahe, dass
ich einige Wochen hindurch ernstlich krank war;
damals befielen mich zum ersten Mal diese heftigen
Kopfschmerzen, die mich seither so oft quälten und
noch jetzt, wo ich dies schreibe, oft heimsuchen.
Mein damaliger Arzt war Boerhave, ein Neffe jenes
Arztes, den Holland und unser Jahrhundert den mo-
dernen Hippokrates genannt haben. Der Petersbur-
420
ger Boerhave war taub; um sich mit seinen Kran-
ken verständigen zu können, hatte er sich einen
Dolmetscher angeschafft, dessen Worte er an einem
Alphabet ablas, das durch seine fünf Finger und ver-
schiedene Stellungen derselben gebildet wurde. Er
verstand rasch und antwortete mündlich, äusserst
geistreich und präzise, so dass seine Konversation wirk-
lich angenehm war. Eines Tages fand er auf meinem
Tische Racines Tragödien, er wollte sie mir wegneh-
men, indem er sagte: „Sie sind schon genugSchwarz-
seher und Sie brauchen eine lustigere Lektüre."
Obgleich Lew Alexandrowitsch Narischkin der
Grossfürstin seit einiger Zeit Anlass zum Misstrauen
gegeben hatte, musste sie sich nach der Verhaftung
Bernardis wieder an ihn wenden, um die Verbindung
mit mir von neuem aufzunehmen; bald war es wie-
der ganz wie früher. Übrigens fand auch eine An-
näherung zwischen der Kaiserin Elisabeth und der
Grossfürstin statt, die so weit ging, dass wir beinahe
hofften, sie begünstige unsere Liaison. Diese Hoff-
nung trug noch mehr zu meiner Wiederherstel-
lung bei als die Medizinen Boerhaves. Als ich jedoch
dem Prinzen Karl von Sachsen, der damals nach Pe-
tersburg kam, einige Werst entgegenreiste, war ich
noch Rekonvaleszent und mein Freund Rzewuski er-
kannte mich kaum. Der Frühling und die Bewegung
brachten mich aber bald wieder auf die Beine.
Dieser Prinz Karl, der Lieblingssohn Augusts III.,
war gekommen, weil er von Elisabeth die Einwilli-
gung zu erlangen hoffte, an Stelle Birons Herzog von
Kurland werden zu dürfen, sollte dieser nicht mehr
aus dem Exil zurückberufen werden. Meine Familie
und ich selbst sahen zwar dieses Projekt als ungesetz-
421
lieh an, da es in der Öffentlichkeit jedoch nicht be-
kannt war und das einzige eingestandene Ziel der
Reise des Prinzen der Wunsch war, sich der Kaiserin
vorzustellen, ehe er die Kampagne in ihrer Armee
mitmachte, so glaubte ich dem Sohne meines Herr-
schers mit grösster Ehrfurcht begegnen zu müssen.
Prinz Karl war von eleganter Gestalt, äusserst ge-
wandt in allen körperlichen Übungen, und obgleich
er im übrigen eine recht schlechte Erziehung genos-
sen hatte, erschien er an der Seite des Grossfürsten
wie ein Phönix; der Grossfürst fühlte gar bald, wie
nachteilig ein Vergleich mit dem Prinzen für ihn aus-
fiel, ausserdem sah er in dem Prinzen mit Unwillen
einen Sachsen, einen Feind des Königs von Preussen.
Während der drei Monate, die der Prinz in Peters-
burg zubrachte, teilte er seine Zeit in die Stunden
der Cour bei der Kaiserin und die Stunden seiner
häuslichen Vergnügungen. Hauptsächlich übte er sich
im Fechten; bei diesen Übungen kam er im Florett-
fechten auch öfters mit der berühmten „Chevaliere"
dEon1) zusammen, die damals als Attache der Gesandt-
schaft des Marquis de THöpital sich in Petersburg
aufhielt und Dragoneruniform trug. Ich selbst habe
auch mit ihr — oder ihm — gefochten, ohne jemals
J) Charles Genevieve Eon de Beaumont, bekannt unter dem
Namen Chevalier d'Eon, eine mysteriöse Persönlichkeit, de-
ren Geschlecht unbestimmt war. Als Knabe erzogen, wurde
er vom Prinzen Conti Ludwig XV. zu diplomatischer Ver-
wendung empfohlen, der ihn 1755 in geheimer Sendung
nach Petersburg schickte, wo er schon wiederholt in weib-
licher Kleidung auftrat. Unter Ludwigs XVI. Regierung musste
er in Frankreich auf ausdrücklichen Befehl weibliche Kleider
tragen. Anm. d. Herausg.
422
einen Verdacht wegen ihres Geschlechts zu hegen,
das jedoch, wie verlautete, Elisabeth bekannt war.
Unter den Kavalieren des prinzlichen Gefolges be-
fand sich auch der junge Graf Einsiedel 1), ein Sachse,
in dem die Anmut der Gestalt sich mit dem lie-
benswürdigsten und prächtigsten Charakter paar-
ten. Der sächsische Resident in Petersburg, Prasse,
ein dünkelhafter Geck, der glaubte, auf mich eifer-
süchtig sein zu müssen, hatte Einsiedel anfänglich
gegen mich eingenommen, weil angeblich meine
Anglomanie mich von meinen Pflichten hatte ab-
weichen lassen; bald jedoch wurde Einsiedel aufge-
klärt, liess mir Gerechtigkeit widerfahren, berichtete
Günstiges über mich an seinen Hof und wurde mein
Freund. Ich kann nur mit aufrichtigstem Bedauern
daran denken, dass ein solcher Untertan durch den
Fanatismus dieses Zweiges der Herrnhuter, die „die
Stillen im Lande" genannt wurden und denen er
blindlings folgte, seinem Lande und der Welt ver-
loren ging; vielleicht geschah es infolge einer ererb-
ten Geistesstörung, der auch seine Mutter unterlag.
Auf einer kleinen Reise, die wir in Begleitung des
Prinzen Karl nach Schlüsselburg unternahmen, um
den dortigen Kanal zu sehen, logierte ich mit ihm.
Wir bemerkten, dass einer der Hoflakaien, die man
zum Dienste des Prinzen bestimmt hatte, unabläss-
lich hin und her ging, so dass wir ihn endlich nach
dem Grund fragten, nachdem wir ihm erst ein Ge-
schenk übergeben; er sagte uns ganz naiv: „ich bin
sehr beschäftigt, denn ich bin für diese Reise zum
a) Graf Johann Georg Friedrich Einsiedel (i73o — i 8 i i),
Kammerherr, später Gesandter in England und zuletzt Kabi-
nettsminister des Königreichs Sachsen. Anm. d. Herausg.
423
Vizespion ernannt, da der Konfiseur, das Oberhaupt
der Spione, erkrankt ist."
Diese kleine Anekdote scheint mir für den Geist
und die Gewohnheiten dieses Hofes zu jener Zeit
charakteristisch.
Sicherlich konnten weder der Prinz noch einer von
uns der Grund irgend einer politischen Beunruhigung
sein, vor allem an diesem Orte und auf dieser Reise,
bei der übrigens Graf Iwan Tschernischew präsidierte
und bei der zweimal soviel Russen jeden Ranges an-
wesend waren als Ausländer. Aber Peter I. hatte ge-
sagt, es muss spioniert werden, also wurde spioniert,
im grossen wie im kleinen.
Der schönste Mann des prinzlichen Gefolges war
zweifellos Graf Franz Rzewuski, damals Kronsekretär.
Elisabeth schien seinen Reizen gegenüber nicht un-
empfindlich zu sein, jedoch setzte die eifersüchtige
Aufmerksamkeit Iwan Schuwalows dieser keimenden
Neigung Hindernisse in den Weg. Ein peinlicher
Vorfall hätte es beinahe zu einem unangenehmen
Eklat zwischen ihnen gebracht.
Eines Nachmittags waren wir, einige Polen und
Russen, bei Iwan Schuwalow, wo es unglücklicher-
weise gerade mir einfiel, ein Gesellschaftsspiel vorzu-
schlagen, das „Sekretär" genannt wird.
Jeder bekam ein Blatt Papier, worauf der Name
irgend eines der Mitspielenden geschrieben stand,
und durfte über den Träger dieses Namens mit ver-
stellter Handschrift auf das Blatt niederschreiben,
was ihm beliebte; nach der ersten Verteilung wurde
als erste Karte jene verlesen, die den Namen Iwan
Schuwalow trug, und da stand geschrieben: „iver
ihn von Grund auf kennt, wird zugeben, dass er der
424
-C
X.
Freundschaft eines anständigen Menschen nicht wür-
dig ist.'1
Schuwalow war wütend und erging sich in den
schrecklichsten Drohungen gegen den Urheber die-
ser Beleidigung; ich sah es seinen Blicken an, dass
er Rzewuski verdächtigte. Da sagte ich zu ihm: „Ich
werde Ihnen den Namen jenes Mannes, der diese Worte
geschrieben hat, nicht nennen, obgleich ich es gesehen
habe; ich will ?nich darauf beschränken Ihnen zu ver-
sichern, dass es kein Pole war."
Nach einigen Minuten des Schweigens sah ich,
dass Schuwalow und Iwan Tschernischew in Streit
gerieten, und wir erfuhren später, dass Tschernischew
sich als der Autor dieser Worte bekannt hatte. Schu-
walow hatte ihm nicht nach Wunsch gedient, als er
bei der Kaiserin um eine Gnade nachsuchte, obgleich
Schuwalow ihm zu Dank verpflichtet war, weil er
ihm bei einer Intrige mit einer Frau beigestanden
hatte, auf die die Kaiserin stets sehr eifersüchtig ge-
wesen war. Tchernischew hielt Schuwalow du ich
dieses Geheimnis in Schach, und so geschah es, dass
Schuwalow mit allen Mitteln dieses Rencontre zu
verheimlichen suchte, das Tschernischew absichtlich
heraufbeschworen hatte.
Im Gefolge des Prinzen Karl befand sich auch
Branicki, der heutige Grosshetman. Damals noch sehr
jung, hatte er sich doch bereits in zwei Kampagnen
ausgezeichnet, die er als Freiwilliger in der öster-
reichischen Armee mitgemacht hatte, im Gefolge des
Prinzen Karl. Gleich nach der Ankunft in Petersburg
bezeugte er mir ein so grosses und ritterliches Ver-
langen, meine Freundschaft zu gewinnen, dass ich
ihn bei einem sonderbaren Abenteuer auf die
425
Probe zu stellen gedachte, worüber ich hier berich-
ten will.
Da die Wendung, die die Angelegenheit des Kanz-
lers genommen hatte, und alle anderen Umstände
am Petersburger und am Warschauer Hofe für mich
immer misslicher wurden, hielt ich es für richtig,
mich auf einige Zeit aus Russland beurlauben zu
lassen, unbeschadet meiner späteren Rückkehr.
Dies veranlasste mich, meine nächtlichen Resuche
nach Oranienbaum, wo der junge Hof damals resi-
dierte, noch häufiger zu unternehmen, vor allem als
mein Aufenthalt in Peterhof ä la suite des Prin-
zen Karl mich dem Ziel meiner Ausflüge um zwei
Drittel des Weges näher brachte.
Da bisher alles immer gut abgelaufen war und ich
mich an die Verkleidung und an alle Einzelheiten,
die diese Ausflüge ermöglichten, schon völlig ge-
wöhnt hatte, schien mir jede Gefahr entschwunden,
und so wagte ich am 6. Juli einen Ausflug, ohne
mich vorher mit der Grossfürstin verständigt zu ha-
ben, wie ich es bisher immer getan. Ich mietete, wie
gewöhnlich, einen kleinen verdeckten Wagen, den
ein russischer Iswoschtschik fuhr, ohne mich zu ken-
nen; auf dem Rücksitz des Wagens sass derselbe ver-
kleidete Läufer, der mich bisher stets begleitet hatte.
In dieser Nacht (in Russland war es keine Nacht)
begegneten wir unglücklicherweise im Walde von
Oranienbaum dem Grossfürsten mit seinem ganzen
Gefolge, alle halb betrunken. Man fragt den Iswosch-
tschik, wen er da fahre? Er antwortet, er wisse es
nicht. Mein Läufer erwidert, ich sei ein Schneider.
Man lässt uns vorbei, aber Elisabeth Woronzow, ein
Hoffräulein der Grossfürstin und die Maitresse des
426
Grossfürsten, spricht über diesen angeblichen Schnei-
der Vermutungen aus, die den Grossfürsten in die
schlechteste Laune versetzen.
x\h ich einige Stunden bei der Grossfürstin ver-
bracht hatte und den abseits gelegenen Pavillon ver-
liess, den sie damals unter dem Vorvvand der Bäder
bewohnte, wurde ich nach einigen Schritten von drei
berittenen Männern mit gezückten Säbeln angefallen,
die mich am Kragen packten und dem Grossfürsten
vorführten; als er mich erkannte, gab er meinen Be-
gleitern bloss den Befehl, ihm zu folgen. Wir gingen
einen Weg, der zum Meer führte. Ich dachte mein
Ende gekommen; am Ufer jedoch wendeten wir nach
rechts und gingen nach einem anderen Pavillon, wo
der Grossfürst mich mit unzweideutigen Worten
fragte, ob ich Beziehungen zu seiner Frau hätte.
Ich verneinte.
Er: „Sagen Sie die Wahrheit, denn wenn Sie die
Wahrheit sagen, so kann man noch alles arrangieren,
wenn Sie leugnen, so wird es Ihnen übel ergehen."
Ich: „Ich kann doch nicht gestehen, dass ich etwas
getan habe, was ich nicht getan habe."
Jetzt ging er in das angrenzende Zimmer, wo er
sich mit den Leuten seines Gefolges zu besprechen
schien; kurz darauf trat er wieder ein und sagte:
Er: „Nun, da Sie nicht reden wollen, so werden
Sie bis auf weiteres hier bleiben." Und er verliess
mich. An der Tür stand ein Posten, mit mir im Zim-
mer blieb nur General Brockdorf zurück.
Wir verharrten im tiefsten Schweigen während
zwei Stunden, nach deren Ablauf Graf Alexander
Schuwalow eintrat, der Vetter des Günstlings. Es
war der Grossinquisitor, der Chef jener fürchterlichen
427
Staatseinrichtung, die man in Russland „die Geheim-
kanzlei" nannte. Als wollte die Natur das Entsetzen,
das schon allein die Nennung seines Amtes erweckte,
noch vergrössern, hatte sie ihn mit nervösen Zuckun-
gen behaftet, die sein schon sowieso hässliches Ge-
sicht in der fürchterlichsten Weise verzerrten, sobald
er sich mit irgend etwas ernsthaft beschäftigte.
Sein Erscheinen brachte mir die Gewissheit, dass die
Kaiserin von allem wusste. Er stammelte mit verlege-
ner Miene einige Worte, aus denen ich erriet, dass er
von mir Aufklärung über das Vorgefallene verlangte.
Anstatt ihm Einzelheiten zu berichten, sagte ich :
„Ich glaube, Sie werden verstehen, dass die Ehre
Ihres Hofes verlangt, dies hier mit dem geringsten
Aufsehen zu beenden, und dass Sie mich möglichst
rasch aus dieser Situation befreien."
Er (immer noch stammelnd, da er noch zum Über-
fluss ein Stotterer war): „Sie haben Recht, ich werde
mich damit befassen."
Er entfernte sich und kehrte nach weniger als ei-
ner Stunde wieder um mir zu sagen, mein Wagen
sei bereit und ich könne nach Peterhof zurückkehren.
Es war eine elende Karosse, ganz aus Glas, viel-
mehr rund herum aus Scheiben, wie eine Laterne.
In diesem angeblichen Inkognito musste ich, um
sechs Uhr morgens, am hellichten Tage, mit den
beiden Rossen langsam durch den tiefen Sand dahin-
ziehen, und diese Reise schien mir eine Ewigkeit zu
dauern.
In einiger Entfernung von Peterhof liess ich hal-
ten: ich schickte den Wagen zurück und legte den
Rest des Weges zu Fuss zurück, in meinem grossen
Kragen und meiner grauen Mütze, die ich mir tief
428
über die Ohren herabzog. Man hätte mich für einen
Räuber halten können, aber immerhin lenkte ich die
Aufmerksamkeit der Neugierigen jetzt weniger auf
mich, als in jenem Wagen.
An dem hölzernen Gebäude angelangt, wo ich mit
mehreren Kavalieren der Suite des Prinzen Karl in
den niederen Zimmern des Erdgeschosses logierte,
dessen Fenster alle offen standen, wollte ich nicht
durch die Türe eintreten, um niemandem zu begeg-
nen; ich dachte weiss Gott wie klug zu handeln, in-
dem ich mein Zimmer durchs Fenster betrat; aber ich
irrte mich im Fenster und sprang mit einem Satz in
das Zimmer meines ISachbars, des Generals Roniker,
der sich gerade rasieren Hess. Er glaubte ein Phantom
vor sich zu sehen: einige Augenblicke standen wir
einander stumm gegenüber, dann brachen wir in
Gelächter aus. Ich sagte:
„Fragen Sie nicht, woher ich komme, auch nicht,
weshalb ich durch das Fenster gesprungen bin, aber
als treuer Landsmann müssen Sie mir Ihr Ehrenwort
geben, dass Sie nichts hiervon erwähnen werden."
Er gab mir sein Wort, und ich legte mich nieder,
aber ich konnte nicht einschlafen.
Zwei Tage verbrachte ich in der schrecklichsten
Ungewissheit. Ich sah es allen Mienen ao, dass mein
Abenteuer bekannt war, aber kein Mensch sprach mit
mir darüber. Schliesslich fand die Grossfürstin Mittel
und Wege, mir ein Billett zukommen zu lassen, aus
dem ich ersah, dass sie Schritte unternommen hatte,
um die Maitresse des Grossfürsten zu gewinnen. Am
übernächsten Tage kam der Grossfürst mit seiner
Frau und seinem ganzen Hofe nach Peterhof, um
den St. Peterstag (den 29. Juni a. St., II. Juli n. St.)
429
dort zu verbringen, einen Hoffesttag zu Ehren des
Begründers dieses Ortes.
Am gleichen Abend war Hofball; ich tanzte mit
Elisabeth Woronzow Menuett und sagte ihr bei die-
ser Gelegenheit : „Sie könnten einige Menschen glück-
lich machen." Sie antwortete: „Es ist so gut wie ge-
schehen, kommen Sie eine Stunde nach Mitternacht
mit Lew Alexandro witsch zum Pavillon Monplaisir,
wo I. K. Hoheiten logieren, in den unteren Garten."
Ich drücke ihr die Hand; ich bespreche mich mit
Lew Alexandrowitsch Narischkin. Er sagt: „Kommen
Sie, Sie werden den Grossfürsten dort treffen."
Ich überlegte einen Augenblick, dann sagte ich zu
Branicki: „Willst du es riskieren, heute Nacht mit
mir im unteren Garten zu promenieren? Gott weiss,
wohin diese Promenade uns führen wird, voraussicht-
lich aber wird sie ein gutes Ende nehmen." Er willigt
ein ohne zu zögern und wir begeben uns zu besagter
Stunde nach dem besagten Orte. Einige zwanzig
Schritte vor dem Salon begegne ich Elisabeth Wo-
ronzow, die zu mir sagt: „Sie müssen etwas warten,
denn einige Leute rauchen noch ihre Pfeifen mit dem
Grossfürsten und er will sie erst los sein, ehe er Sie
sehen will." Sie entfernt sich mehrmals, um den
richtigen Moment zu erspähen. Schliesslich sagt sie:
„Treten Sie ein!" Und der Grossfürst kommt mit hei-
terer Miene auf mich zu und sagt:
„Du bist ein grosser Narr, dass du dich mir nicht
rechtzeitig anvertraut hast. Hättest du es getan, so
wäre dieser Eklat nicht passiert!"
Ich ging auf alles ein (wie man wohl glauben wird)
und begann mich sofort über die tiefe Weisheit der
militärischen Anordnungen S. K. Hoheit auszulassen,
43o
denen ich unmöglich hatte entrinnen können. Das
schmeichelte ihm ausserordentlich und versetzte ihn
in die beste Laune, so dass er nach einer Viertelstunde
sagte:
„Da wir nun also gute Freunde sind, so fehlt uns
hier noch jemand."
Daraufhin geht er in das Zimmer seiner Frau,
zieht sie aus dem Bette, lässt ihr nur so viel Zeit,
Strümpfe anzuziehen und einen Schlafrock überzu-
werfen (nicht einmal Schuhe noch einen Unterrock
darf sie anlegen), führt sie in diesem Aufzug herein
und sagt zu ihr, auf mich weisend :
„Nun also, hier ist sie. Ich hoffe, man wird mit mir
zufrieden sein."
Sie benützt die Gelegenheit und sagt schlagfertig:
„Es bedarf nur noch einiger Zeilen von Ihnen an den
Vizekanzler Woronzow, um ihn zu bitten, er solle in
Warschau die schleunigste Rückkehr Ihres Freundes
an unseren Hof erwirken."
Der Grossfürst verlangt einen Tisch zum Schreiben.
Man findet nur ein Brett, das man ihm über die
Kniee legt; und er schreibt mit Bleistift ein dringli-
ches Billett an Woronzow in dieser Sache; mir
übergibt er einen gleichfalls mit Bleistift geschriebe-
nen Zettel, von seiner Maitresse mit unterzeichnet,
den ich noch im Original besitze:
„Sie können versichert sein, dass ich alles unter-
nehmen werde, damit Sie hierher zurückkehren kön-
nen. Ich werde mit jedermann darüber sprechen und
werde Ihnen beweisen, dass ich Sie nicht vergesse.
„Ich bitte Sie, mich nicht zu vergessen und zu
glauben, dass ich stets Ihre Freundin bleiben und
dass ich mein möglichstes tun werde, um Ihnen
43i
zu dienen. Ich verbleibe Ihre Ihnen sehr gewogene
Dienerin Elisabeth de Woronzow."
Hierauf plauderten wir alle sechs miteinander,
machten allerhand Scherze mit einer kleinen Fon-
täne, die sich im Salon befand, als hätten wir nicht
die geringsten Sorgen gehabt, und trennten uns erst
gegen vier Uhr morgens.
So verrückt dies wohl erscheinen mag, — ich ver-
sichere, dass es die reine Wahrheit ist; hier begann
meine Intimität mit Branicki.
Am nächsten Tage machten mir alle wieder freund-
liche Mienen. Der Grossfürst veranlasste mich noch
viermal, meine Ausflüge nach Oranienbaum zu wie-
derholen. Ich kam des Abends an; ich begab mich
auf einer heimlichen Treppe nach dem Appartement
der Grossfürstin; dort traf ich den Grossfürsten mit
seiner Maitresse. Wir soupierten gemeinsam, dann
entführte er seine Maitresse, indem er zu uns sagte:
,fNun, meine Kinder, ich glaube, ihr braucht mich
nicht mehr" ; und ich blieb, solange ich wollte.
Iwan Iwanowitsch sagte mir nur Angenehmes,
ebenso Woronzow. Ich hatte jedoch Gelegenheit zu
bemerken, dass dies alles nicht ganz aufrichtig war
und dass ich abreisen musste. Die Bewilligung hatte
ich bereits ; endlich verliess ich Petersburg am
Auf meiner Reise wurde ich vom Unglück ver-
folgt; alle Unfälle, die einem Reisenden begegnen
können, hielten mich auf. Erst nach drei Wochen
langte ich in Siedice an, wohin mein Vater und meine
Mutter sich nach dem Tode meiner am 20. Februar
dieses Jahres verstorbenen Grossmutter Czartoryska
zurückgezogen hatten.
Schluss des ersten Bandes.
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bei Mänicke und Jahn in Rudolstadt, nach Entwür-
fen von Paul Renner gebunden von Hübel & Denck
in Leipzig. Zweihundertfünfzig Exemplare wurden
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werden für die Gründer des Unternehmens reserviert.
Stanislaw II August
Die Memoiren
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